Pandemie 40.000 Neuinfektionen täglich: New York versinkt im Omikron-Chaos

In den Vierteln Manhattans spielen sich apokalyptische Szenarien ab.
New York Erschöpft und müde wirken die New Yorker, die in der U-Bahn dicht an dicht gedrängt sitzen, weil viele Züge schon lange nicht mehr im gewohnten Takt verkehren. Bei täglich bis zu 40.000 Neuinfektionen mit der Omikron-Variante des Coronavirus allein in der Acht-Millionen-Metropole ist diese erzwungene Nähe ein Handicap.
Der Krankenstand ist hoch bei den U-Bahn-Beschäftigten der staatlichen MTA, wie bei der Feuerwehr und der Polizei. Omikron hat, so heißt es, mittlerweile jeden vierten New Yorker erwischt.
Die langen Schlangen an den kostenlosen Teststationen sprechen eine ganz eigene Sprache. Vier Stunden Wartezeit auf einen Schnelltest, dessen Ergebnis dann erst drei Tage später eintrifft, sind die Regel.
Der Broadway ist nach euphorischem Neustart im September zu über 50 Prozent dicht. Große Shows wie „Hamilton“ müssen ausfallen, weil der halbe Cast erkrankt ist. Kleinere Shows haben gleich alle weiteren Aufführungen abgesagt, darunter die gefeierte afroamerikanische Produktion „Thoughts of a Colored Man“ – die erste Broadway-Show, bei der sowohl der Autor, der Regisseur als auch der Hauptdarsteller Schwarze waren.
Auch Off-Broadway-Produktionen wie die Long-Runner „Little Shop of Horrors“ und „Stomp“ sind betroffen. Millionenverluste häufen sich bei nur zaghaften städtischen und staatlichen Finanzspritzen.
Der kleine Jazzclub „55“ im West Village harrt aus. Beim Einlass wird der Impfnachweis kontrolliert, viele behalten auch am Tresen und an den Tischen ihre Masken auf, obwohl das nicht Pflicht ist.
Aber die Deutsch-Amerikanerin Leni Stern, kürzlich zu einer der „Zehn besten Gitarristinnen der Welt“ gekürt, spielt vor nur drei, vier unbeirrbaren Gästen aus asiatischen Ländern. Die begrüßt sie umso herzlicher und macht mit ihren senegalesischen Percussion-Begleitern aus dem geplanten großen Konzert eine Jamsession.
Aus der Not eine Tugend machen, das scheint die Durchhalte-Parole zu sein. Die Kinos bieten unbeirrt Programm wie Spielbergs Auffrischung der „West Side Story“ oder die nostalgische, stark beworbene Highschool-Komödie „Licorice Pizza“, die Uneingeweihte angesichts der U-Bahn-Plakate für Pizza-Reklame halten könnten.
Schlangen bilden sich nicht vor den Lichtspielhäusern. Große Museen wie das Metropolitan Museum of Arts und das Guggenheim schleusen weiterhin täglich Tausende mit Impfnachweis durch ihre Hallen.
Die Besucher kommen sich mitunter schon sehr nahe bei der Vertiefung in ein Rembrandt-Gemälde bei den prominent gehängten „Dutch Masterpieces“ oder beim Rundgang durch den skurrilen „Afro-Futurist-Period-Room“. Seine Familiennachmittage und andere Veranstaltungen hat auch das Metropolitan Museum gecancelt.

Vor den Teststationen bilden sich überall lange Schlangen.
Tuchfühlung, touch, gehört eigentlich zu New York City. Das soll auch unbedingt so bleiben, das haben der Anfang Januar vereidigte neue Bürgermeister Eric Adams und die aus Buffalo stammende Gouverneurin des Staates New York, Kathy Hochul, beide von der Demokratischen Partei, beschlossen.
Sie setzen in ihrem Business-as-Best-Konzept auf Öffnung. Adams will die Beschäftigten der großen Firmen trotz Omikron aus den Homeoffices zurück in die verwaisten Büros der Stadt holen, um die Ökonomie anzukurbeln.
Mit Gouverneurin Hochul, die vor einem halben Jahr auf den nach mehreren Vorwürfen sexueller Belästigung zurückgetretenen Andrew Cuomo folgte, will er in einer konzertierten Anstrengung die Obdachlosen von der Straße in gesicherte, psychologisch betreute Unterkünfte holen.
Das wird angesichts der stark steigenden Zahl der Obdachlosen und der Situation vor Ort einige Anstrengung erfordern. Subway-Stationen wie die East 2nd Street im East Village oder die West 4th Street im West Village im Herzen Manhattans zeigen die Probleme deutlich: Die meist schwarzen obdachlosen Männer zwischen 30 und 50 drängen sich vor den Eingängen, auf den Bahnsteigen.
Sie fahren auch in den warmen Zügen mit, gerade auf den langen Linien A oder C, die eine Stunde und länger brauchen, um die Stadt zu durchqueren. Viele entledigen sich bei laufendem Verkehr körperlicher Bedürfnisse. Die Passagiere schauen eingeübt weg.
Die Obdachlosigkeits-Krise mit mindestens 50.000 Alleingelassenen hat einen neuen traurigen Höhepunkt erreicht wie seit den 80er Jahren nicht mehr.
Obdachlosigkeit ist nur noch ein Randthema
Kunst und Kultur haben das Problem von Wohnungsnot und Obdachlosigkeit indes aus dem Fokus verloren. Gab es in den 80er und 90er Jahren noch zahlreiche Initiativen, die innerstädtische Obdachlosigkeit angingen, herrscht jetzt resignierter Stillstand.
Das Rock-Musical „Rent“ brachte Überlebenskünste der armen Lower East Side Boheme in den späten 90ern auf die große Broadway-Bühne und reüssierte auch international. Das Musical behandelte Wohnungsnot, Homosexualität und Aids, die damals bewegendsten Themen. Und heute?
Der Recycling-Künstler Rolando Politi, einer der letzten ursprünglichen Hausbesetzer aus den frühen 80er Jahren auf der Lower East Side, die sich lieber „Homesteader“ nannten, versteht auch nicht, warum die Luft raus ist. Noch vor einer Dekade habe es radikales gesellschaftliches und künstlerisches Engagement gegeben.
Hausbesitzer hätten damals ganze Häuserzeilen zerstört, um üppige Versicherungsprämien zu kassieren. Es formierte sich Widerstand, in den besetzten Häusern an der Lower East Side lebten viele vormals Obdachlose.
Vielleicht wurde zu viel Kraft verbraucht im mühseligen Überlebenskampf um elf von ehemals siebzig von multiethnischen Künstlerkollektiven besetzte Häuser auf der Lower East Side, die heute den ehemaligen Homesteaders als Wohngenossenschaft gehören.
Rolando Politi weiß auch nicht, warum sein Modell nicht mehr Schule gemacht hat. Die Mietpreise in Manhattan steigen trotz grassierendem Leerstand während der Hochzeit der Corona-Pandemie wieder deutlich, Einfamilienhäuser in der Stadt werden zu Preisen von mehreren Millionen Dollar verkauft. Bewohner, die sich die steigenden Mieten und Kaufpreise nicht mehr leistn können, landen auf der Straße und in Obdachlosenasylen.
Der schleichende Übergang vom Gerade-noch-Mithalten-Können in sauberer Kleidung mit Badelatschen im Handgepäck in den körperlichen und psychischen Verfall ist an vielen Orten sichtbar. Der große Aufschrei der Zivilgesellschaft bleibt aber aus.

Adams will die Beschäftigten aus den Homeoffices zurück in die verwaisten Büros der Stadt holen, um die Ökonomie anzukurbeln. Ein riskantes Manöver.
Schriftstellerinnen und Schriftsteller aller Generationen und Stilrichtungen, die in New York City leben, wie Siri Hustvedt, Nicole Krauss und Louis Begley, haben wenig beizutragen.
„Ein schlimmes Problem“, sagen sie zur Obdachlosenkrise. „Hoffentlich wird es bald behoben.“ Ein Problem, das kaum zu bemerken ist in gentrifizierten Vierteln wie Park Slope, Teilen von Brooklyn oder der immer schon reichen und sauberen Upper East Side von Manhattan, wo diese Autoren geschützte Räume bewohnen.
Aber alle hoffen auf eine starke Allianz zwischen dem neuen New Yorker Bürgermeister Eric Adams und der Gouverneurin Kathy Hochul, die erkannt haben, wie sehr die Obdachlosenmisere innerstädtisches Leben gefährdet, und das Problem jetzt in seltener Eintracht beheben wollen.
Eddie, der unermüdliche Einlass-Mann vom Jazzclub „55“ in der Christopher Street, wurde kürzlich einem aggressiven Obdachlosen angegriffen. „Einfach nur weil ich stand, wo ich stand“, erzählt er.
Von ähnlichen physischen Attacken berichten viele New Yorker, die für ihre Kultur auf die Straße gehen und mit obdachlosen Menschen kollidieren.
Als kürzlich ein Obdachloser an der Second Avenue Station vermeintlich unter den einfahrenden Zug des F-Trains geriet und mit halbstündiger Verspätung Feuerwehr, Polizei und Rettungssanitäter eintrafen, schauten andere Obdachlose vom Bahnsteig aus zu.
Eine der wenigen Frauen spuckte mit weit aufgerissenen, drogengeschwängerten Augen Kürbiskerne in die Gleise.
Dieser Text ist zuerst im Tagesspiegel erschienen
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