Pandemie Kampf gegen die zweite Welle: Spanien und Frankreich verzichten auf erneuten Lockdown

Am Freitag meldete Frankreich einen Rekordwert bei den Corona-Neuinfektionen.
Paris, Madrid In diesen Tagen gibt es in Europa wieder mehr Neuinfizierte mit dem Coronavirus als in den USA. Besonders betroffen sind Spanien und Frankreich. Der französische Premier Jean Castex forderte seine Mitbürger am Freitagnachmittag nach einer langen Diskussion der Regierung zu besonderer Vorsicht auf: „Das Virus zirkuliert immer schneller, wir sind beunruhigt, weil wie im Frühjahr ältere Menschen besonders betroffen sind und die Zahl der Krankenhausaufenthalte zunimmt.“
In den vergangenen 24 Stunden gab es mit mehr 10.500 bestätigten neuen Fällen einen neuen Höchstwert seit Ausbruch der Pandemie. Die zweite Welle der Epidemie ist im Gange. Doch sie verläuft bislang ganz anders als die erste: Es gibt weniger ernsthaft Erkrankte, und die Zahl der Todesfälle – 19 am 11. September – bleibt sehr niedrig.
Die Regierung in Paris sah daher davon ab, neue einschneidende Maßnahmen zu verhängen. Wie erwartet gab sie bekannt, dass 2000 zusätzliche Angestellte sich um die Nachverfolgung Infizierter und ihrer Kontaktpersonen kümmern sollen, um die Infektionsketten zu durchbrechen. Außerdem wird die Quarantäne für positiv Getestete und Menschen, die mit ihnen in Berührung waren, von 14 Tagen auf sieben Tage verkürzt.
Nur in diesem Zeitraum bestehe eine echte Ansteckungsgefahr. Anders als bislang soll die Einhaltung der Quarantäne aber künftig kontrolliert werden, sagte der Premier.
„Wir lassen uns nicht in einen allgemeinen Lockdown hineinziehen“
Denen, die neue Ausgangsbeschränkungen forderten, erteilte Castex eine Absage: „Wir lassen uns nicht erneut in eine Logik des allgemeinen Lockdowns hineinziehen.“ Das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben solle aufrechterhalten bleiben.
Indirekt stellt Castex sich mit seiner behutsamen Reaktion gegen den Wissenschaftlichen Rat für Corona, der sich für strengere Auflagen einsetzt. Seit Tagen macht der Wissenschaftliche Rat Stimmung mit Hinweis auf die hohe Zahl von Neuinfektionen. Darauf müsse die Regierung reagieren mit einer Verschärfung der Schutzmaßnahmen bis hin zu einem möglichen teilweisen Lockdown, der nicht ausgeschlossen werden dürfe.
Eine Gruppe von Ärzten wirft den Beratern der Regierung vor, leichtfertig eine hysterische Stimmung zu schüren und die Bevölkerung zu beunruhigen. „Wir wollen nicht mehr von der Angst regiert werden“, schreiben 35 Mediziner und Wissenschaftler in einer Stellungnahme, die Freitag in der Tageszeitung „Le Parisien“ veröffentlicht wurde.
„Wir stehen nicht im Krieg, sondern in einer Epidemie, die am 9. September 30 Tote gefordert hat, gegenüber 1438 am 14. April, die Lage ist also überhaupt vergleichbar mit der, die vor fünf Monaten bestanden hat“, argumentieren die Kritiker.
Jean-François Toussaint, einer der Unterzeichner des Appels der 35, sagte am Freitag, dass es unter den positiv Getesteten viele falsche Positiv-Getestete gebe und die Mehrzahl der verbleibenden Fälle asymptomatisch sei. Sie trügen nur eine geringe Viruslast und seien deshalb auch eine viel geringere Gefahr für weitere Ansteckungen als jemand, der im Frühjahr positiv getestet wurde. Die Differenz zur Entwicklung während der ersten Welle erklärt er auch mit der Wirkung der getroffenen Schutzmaßnahmen wie dem Tragen von Masken.
Sturm auf die Testlabore
Castex machte klar, dass die Regierung die Schutzmaßnahmen nicht verschärfen will. Er ermahnte die Franzosen aber, die geltenden Abstandsregeln und Vorschriften für das Tragen von Masken strikt einzuhalten. 42 Départements seien jetzt als „rot“ eingestuft, was keine automatischen Folgen habe, die Präfekten aber ermächtige, vor Ort zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen.
Die Kritiker des Wissenschaftlichen Rats weisen darauf hin, dass extreme Maßnahmen nur in extremen Situationen wie einem Krieg erlaubt seien, Frankreich mit Blick auf Covid-19 heute weit davon entfernt sei und eine überzogen lautstarke Warn-Rhetorik die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft wie der Politik beeinträchtige und die Menschen den Verschwörungstheoretikern in die Arme treibe.
Die öffentliche Erregung über die zweite Welle hat in Paris, das als rote Zone gilt, zu einem Sturm auf die Labors geführt, die PCR-Tests durchführen. Die Folge sind lange Wartezeiten bis zu einer Woche, bevor die Ergebnisse übermittelt werden.
Damit taugen sie nicht mehr bei Reisen ins Ausland: Die Bundesrepublik beispielsweise verlangt bei der Einreise am Flughafen aus einer roten Zone einen PCR-Test, der maximal 48 Stunden alt ist.
Um der Wut der Pariser zu entgehen, praktizieren manche Labors überhaupt keine PCR-Tests mehr – was die Lage weiter verschärft. Castex räumte Schwierigkeiten ein. Deshalb sollten Menschen mit Symptomen sowie medizinisches Personal prioritär getestet werden. Für sie sollten auch provisorische Testzentren aufgebaut werden.
Österreich verschärft die Schutzmaßnahmen
Auch in Österreich sind die Neuinfektionen angestiegen auf zuletzt 869 neue Fälle am Tag. Die Regierung verschärfte am Freitag deshalb die Schutzmaßnahmen, nähert sie damit aber eher dem deutschen Niveau an. Von Montag an muss in allen Geschäften ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden. Veranstaltungen in Innenräumen ohne feste Plätze werden auf 50 Menschen begrenzt, mit festen Sitzplätzen auf 1.500 statt bisher 5.000. „Ich weiß, dass viele es noch nicht glauben, aber es wird wieder ernst“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz. „Wir haben in anderen Ländern erlebt, wie schnell es gehen kann.“
Eines dieser Länder ist Spanien. Dort hatte die Zahl der Infektionen im Juli wieder zu steigen begonnen. Die Regionen Aragón und Katalonien waren besonders betroffen. Auslöser waren unter anderem Erntehelfer, unter denen sich in einem Grenzgebiet beider Regionen das Virus verbreitet hatte. Beide Regionen brauchten Wochen, um den rasanten Anstieg zu stoppen, haben es aber letztlich ohne einen neuen Lockdown der gesamten Region geschafft.
Hotspot Madrid versucht, Ausgangssperren zu vermeiden
Die Region Madrid versucht derzeit, ohne jede Ausgangssperre auszukommen. Wie schon in der ersten Virus-Welle steht die spanische Hauptstadt auch jetzt wieder im Fokus der Pandemie. Über ein Drittel aller neuen Fälle pro Tag konzentrieren sich auf die Madrid.
Während landesweit in den vergangenen 14 Tagen 239 Fälle pro 100.000 Einwohner in Spanien gemessen wurden, sind es in einigen Vierteln im ärmeren Süden der Hauptstadt-Region mehr als 1000 neue Fälle, in der Region insgesamt liegt der Wert bei 550 Fällen.
In Madrid sind seit dem vergangenen Montag weitere Restriktionen in Kraft. So dürfen sich maximal zehn Personen treffen, bei Beerdigungen oder Hochzeiten dürfen statt der bislang geltenden 75 Prozent der Kapazitäten nur 60 Prozent gefüllt werden. Auf den Terrassen wird der Abstand von 1,50 Meter nicht mehr zwischen den Tischen, sondern zwischen den Personen gemessen.
Die bislang völlig unzureichende Zahl der Kontrolleure, die die Kontakte von Infizierten verfolgen, soll sich von 560 auf 1100 verdoppeln. Zudem sehen die neuen Maßnahmen vor, dass falls nötig wie in der ersten Welle Hotels genutzt werden, um Patienten mit leichten Symptomen dort zu behandeln oder Angehörige von Infizierten dort zu isolieren.

Die spanische Hauptstadt steht erneut im Fokus der Pandemie.
Der spanische Notfallkoordinator Fernando Simón erklärte am Donnerstag, die Steigerungsraten der neuen Fälle würden derzeit landesweit sinken. „Es sieht so aus, als würde in Spanien der Rhythmus der Ansteckungen nachlassen, obwohl es immer noch eine erhebliche Übertragung gibt“, sagte er. Gleich am Tag darauf, am vergangenen Freitag, stieg die Gesamtzahl der Infizierten aber um 12.183 Menschen an, ein neuer Rekord.
Auch in Spanien weisen die Behörden darauf hin, dass sich die zweite Welle in keiner Weise mit der ersten vergleichen lässt, als zeitweise pro Tag mehr als 800 Menschen in Spanien starben und die Gesundheitsversorgung kollabierte. Aktuell sind in Madrid 18 Prozent der Krankenhausbetten mit Covid-19-Patienten belegt, landesweit liegt der Wert bei sieben Prozent. Premier Pedro Sánchez hat einen landesweiten Lockdown ebenfalls ausgeschlossen.
Doch die Zahl der Toten steigt mit den zunehmenden Infektionen langsam an: In den vergangenen sieben Tagen sind in Spanien 241 Menschen an dem Virus gestorben. Im gleichen Zeitraum vor einem Monat waren es 64 und im Monat davor, also Anfang Juli, neun.
In den USA ist die Zahl der täglich neu Infizierten von mehr als 70.000 Menschen am Tag auf 27.000 gefallen. US-Präsident Donald Trump wagte deshalb in dieser Woche die erstaunliche Aussage, dass der Umgang in der Krise in den USA, wo sich insgesamt 6,4 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert haben, besser gelaufen sei als in Europa.
Spaniens Gesundheitsminister Salvador Illa schoss am Freitag zurück: „Niemand ist in einer Position, Lektionen zu erteilen, und bei allem Respekt gegenüber der amerikanischen Nation, am wenigsten ihr derzeitiger Präsident.“
Mehr: Krisenmanagement in Europa: Zweite Welle, alte Fehler.
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