Pandemie Olympische Spiele mitten in der Corona-Welle? 10.000 japanische Freiwillige sagen ihren Einsatz ab

Ein Paar betrachtet die Olympischen Ringe, die das Wasser vor dem Odaiba Marine Park beleuchten.
Tokio Yuka Miyamoto ist ausgestiegen. Seit ihrem 13. Lebensjahr hatte sich die Japanerin darauf gefreut, bei den Olympischen Spielen als freiwillige Helferin dabei zu sein. Seitdem sich Tokio 2013 um die Austragung des Sportevents beworben hat, bereitete sich Miyamoto darauf vor, 2020 dabei zu sein. Doch dann kam die Covid-Pandemie und ihre Träume zerplatzten.
Die Studentin hat ihre Bewerbung bei den Spielen inzwischen zurückgezogen, auch wenn die Spiele mit einem Jahr Verspätung am 23. Juli nun doch starten sollen. „Ich denke, dass die olympischen Spiele nicht stattfinden sollten“, meint Miyamoto, die ihren wirklichen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. Und sie ist mit ihren Bedenken längst nicht mehr alleine: Wie der japanische Fernsehsender NHK am Mittwoch erfuhr, haben rund 10.000 der 80.000 für die Wettkampfstätten vorgesehenen Freiwilligen inzwischen abgesagt. Als Gründe vermute das Organisationskomitee die Sorgen vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus.
Zwar beeilten sich die Veranstalter sofort, festzustellen: Olympia sei durch den Helfer-Boykott nicht beeinträchtig. Doch mit jedem Tag wird klarer: So wie die Helfer denkt die Mehrheit der Japaner. Die Begeisterung der Japaner für die olympische Idee hat sich längst in offenen Widerstand gegen die Spiele verwandelt.
Je nach Umfrage glauben mittlerweile 60 bis 83 Prozent der Japaner, dass das Sportfest wegen der Pandemie abgesagt oder verschoben werden sollte. Es wäre die größte internationale Veranstaltung seit Beginn der Covid-19-Pandemie mit mehr als 80.000 Athleten und Begleitern aus aller Welt. Und es geht um Milliardeneinnahmen.
Der Chef des Amazon-Rivalen Rakuten, Hiroshi Mikitani, bezeichnete diese gar als „Selbstmordmission“ und betonte: „Es ist noch nicht an der Zeit, zu feiern.“
Japan steckt mitten in der vierten Covid-Welle
Denn Japan steckt mitten in seiner vierten Covid-Welle. Im Sieben-Tage-Schnitt kamen zuletzt 3500 Fälle täglich hinzu. Geimpft sind erst fünf Prozent der Bevölkerung. In Tokio herrscht Corona-Notstand.
Sorgen bereitet in Japan vor allem, dass Virusmutationen mittlerweile für 90 Prozent der Ansteckungen verantwortlich sind. Am stärksten hat sich die britische Variante verbreitet, die infektiöser ist und bei Jüngeren für mehr schwere Krankheitsverläufe sorgt. Im größten Virenherd, der Millionenmetropole Osaka, gingen den Ärzten schon die Betten für Covid-19-Patienten aus.

Die Mehrheit der japanischen Bevölkerung und der japanischen Unternehmen möchte, dass die Spiele verschoben oder ganz abgesagt werden.
Die Virusmutationen sorgen auch in anderen asiatischen Staaten wie Taiwan oder Vietnam, die lange vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen sind, für neue Ausbrüche. Inzwischen wurde auch die ansteckendere indische Variante in Tokio entdeckt. Es sei sehr wahrscheinlich, dass sie die britische ersetze, sagte Takaji Wakita, der das Nationale Institut für Infektionskrankheiten leitet.
Vorige Woche forderte daher als erstes großes Presseorgan Japans die Tageszeitung „Asahi“, einer der lokalen Olympia-Sponsoren, die Spiele zum Schutz von Menschenleben abzusagen.
Der eigentliche Sinn der Spiele sei mit dem Ausschluss ausländischer Touristen ohnehin verloren gegangen, sagt Miyamoto, die sich von der Anhängerin zur Widerständlerin gewandelt hat. Mit dem globalen Publikum zu interagieren sei ihr Hauptziel gewesen.
Die Olympia-Frage ist eine Entscheidung über Milliarden
Bei der Entscheidung geht es um Milliarden an Einnahmen für das Internationale Olympische Komitee (IOK) und für Japan selbst – und auch um mögliche Regresszahlungen. Der Juni ist entscheidend. Bis zum Ende des Monats können die Spiele theoretisch noch abgesagt werden.
Das IOK aber hofft weiter, dass die Tokioter Spiele zum globalen Triumpf über das Virus werden. „Abgesehen von einem Armageddon, das wir nicht sehen oder vorhersehen können, steht die Ampel auf Grün“, tat IOK-Mitglied Dick Pound vorige Woche in einem Zeitungsinterview kund.
Auch mit den Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Japans Hauptstadt könnten die Spiele durchgeführt werden, heißt es aus Genf. Die Athleten könnten sich impfen lassen und in Japan in einer Art olympischer Blase von der allgemeinen Bevölkerung getrennt werden.
Zwischen diesen Fronten stehen Japans Regierungschef Yoshihide Suga und Tokios Bürgermeisterin Yuriko Koike vor einer schwierigen Entscheidung – und das kurz vor Wahlen zum Tokioter Stadtparlament im Juli und zum japanischen Unterhaus bis Oktober.
Anders als bei der Verschiebung der Olympischen Spiele im vergangenen Jahr ist der Einsatz für alle Beteiligten höher. 2020 lavierten das IOK und Japans Regierung nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie einige Wochen herum und einigten sich schließlich, das Sportfest auf 2021 zu vertagen. Es handelte sich nur um eine Verschiebung des Zahltags für das IOK und Japans Selbstvermarktung als Hightech-Land, die der damalige Ministerpräsident Shinzo Abe geplant hatte. So das Kalkül damals.
Japan oder das IOK: Wer absagt, trägt den größeren Schaden
Nun steht eher eine Absage zur Debatte. Denn eine Sommerolympiade 2022 würde mit der Fußballweltmeisterschaft und den Winterspielen kollidieren. Eine Absage aber wäre teurer: Bei der vorigen Olympiade nahm das IOK 5,7 Milliarden Euro ein, die zu 73 Prozent aus Übertragungsrechten stammten. Japan wiederum könnte in dem Fall ein Schaden von etwa zehn Milliarden Dollar entstehen, schätzen Ökonomen von Goldman Sachs. Nun rächt sich, dass IOK-Chef Thomas Bach und Regierungschef Abe die Spiele nur um ein Jahr verschoben haben und nicht um zwei.
Das IOK argumentiert über zwei Schienen: Die Kontrollen gegen Infektionen seien umfassend. Und die Entscheidungshoheit über die Austragung der Spiele liege nun einmal beim IOK und sonst nirgends. Rechtlich ist das IOK in der Tat in der stärkeren Position. Der Host-City-Vertrag mit den lokalen Veranstaltern regelt, dass nur das IOK über eine Absage der Spiele entscheiden kann.

Während in einigen Regionen der Ausnahmezustand verlängert wurde, werden in Tokio weiter die Olympischen Spiele geplant.
Sagt das IOK ab, entgehen dem Komitee Milliarden an Einnahmen. Wie viel Versicherungen davon tragen ist, ist unklar. Bislang haben weder die großen nationalen Sportverbände noch die Käufer der Senderechte wie der US-Fernsehsender NBC einen Rückzieher gemacht. Die Großsponsoren halten sich öffentlich ebenfalls zurück.
Blockiert Japans Regierung die Spiele in letzter Minute, müssten wohl die Japaner den offenen Schaden decken. Die Schätzungen belaufen sich auf umgerechnet mehrere Hundert Millionen Euro, die sich noch auf Japans bisherige Investitionen aufaddieren würden, die auf weit über zehn Milliarden Euro geschätzt werden. Wer zuerst zuckt, verliert finanziell also mehr.
Die Japan AG wendet sich gegen die Spiele – Ärzte warnen vor neuen Mutationen
Zwei der führenden Unternehmer des Landes wählen dennoch scharfe Töne gegen die Veranstaltung. Neben Rakuten-Chef Mikitani, der der Pandemiebekämpfung der Regierung mit zwei von zehn Punkten ein desaströses Zeugnis ausstellt, ist dies Softbank-Gründer Masayoshi Son, Chef des derzeit drittprofitabelsten Unternehmens der Welt.
Son stellt die Bedeutung der Vertragsstrafen bei Absage der Spiele infrage: „Es gibt Gerede über eine riesige Strafe“, schreibt er. Wenn 100.000 Menschen aus 200 Ländern nach Japan kämen und sich mutierte Varianten ausbreiteten, könne das Land aber viel mehr verlieren: Menschenleben, die Belastung durch neue Hilfsprogramme bei neuen Notständen, einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts und „die Geduld der Öffentlichkeit“.
Und fast schon polemisch stellt der Unternehmer angesichts der klaren Meinungsumfragen gegen die Spiele deren Legitimation infrage: „Wer setzt das mit welcher Autorität durch?“, twitterte er.

Am 23. Juli sollen die um ein Jahr verschobenen Olympischen Sommerspiele in Japans Hauptstadt beginnen.
Andere Unternehmen äußern sich öffentlich vage, hegen allerdings ebenfalls Bedenken. In einer Meinungsumfrage der Nachrichtenagentur Reuters waren 37 Prozent der teilnehmenden Firmen für eine Absage der Spiele, 32 Prozent für eine Verschiebung. Ärzte aus Japan und der Welt untermauern die Skepsis.
Tokios Ärztevereinigung befürchtet zum einen, dass die Versorgung der Olympioniken mitsamt ihrer Entourage Japans Gesundheitssystem überlasten könnte. Zum anderen warnte Japans Ärztechef Naoto Ueyama, mit den Gästen würden Virenvarianten aus aller Welt importiert, die sich dann unter den Athleten zu neuen Mutationen vermischen und global reexportiert werden könnten. „Das wäre eine große Tragödie und wäre auch noch in 100 Jahren Ziel der Kritik.“
Vier amerikanische Experten griffen im renommierten „New England Journal of Medicine“ die Vorbereitungsmaßnahmen des IOK als ungenügend an: „Wir glauben, dass die Entscheidung des IOC, mit den Olympischen Spielen fortzufahren, nicht auf den besten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht.“ Die Absage der Spiele sei wohl die sicherste Option. Zumindest aber müsse dringend nachgesteuert werden, wenn man die Spiele erfolgreich umsetzen wolle.
Das politische Kalkül von Premier Suga entscheidet über das Schicksal der Spiele
Zur finanziellen und gesundheitlichen Abwägung kommt das politische Kalkül. Bürgermeisterin Koike und Regierungschef Suga wägen kurz vor den Wahlen ab, ob sie politisch mit oder ohne die Spiele besser fahren.

Für Tokios Bürgermeisterin Yuriko Koike steht einiges auf dem Spiel.
Für Japans Premier, der mit Zustimmungswerten für seine Regierung auf Rekordtief kämpft, geht es ums Ganze. Sein Generalsekretär hat sich schon vor Monaten für eine Absage der Spiele ausgesprochen. Ein Absage so kurz vor dem Termin wäre ein Schlag für den Regierungschef, der die Spiele bisher unterstützt hat. Gibt er jedoch sein Placet und die Veranstaltung entwickelt sich zur Virenschleuder, sinken seine Chancen, nach den Parlamentswahlen Regierungschef zu bleiben.
Tokios konservative Bürgermeisterin Koike steht bereits Anfang Juli vor den Wahlen des Stadtparlaments. Ihr ehemaliger Gegenkandidat und die linke Opposition werben für eine Absage der Spiele. Der Druck auf Koike wächst.
Doch Teil des Kalküls ist auch, dass die Begeisterung für sportliche Großereignisse zurückkehren könnte, wenn die Spiele erst einmal laufen. Die fehlenden Helfer aber machen dieses Szenario nun nicht wahrscheinlicher. Auch wenn die abtrünnige Studentin Miyamoto sagt: „Falls die Spiele durchgeführt werden, würde ich sie gerne sehen.“
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Es werden ja seit Monaten auch wieder weltweit Triathlonwettkämpfe mit mehr als 1000 Teilnehmern durchgeführt. Alles läuft mit durchdachten Test- und Hygienekonzepten ab. Warum sollte sowas nicht auch für Olympia möglich sein? Mehrfaches Testen bei Abreise aus dem Heimatland, bei Einreise nach Japan, bei Einzug ins olympische Dorf, bei Antritt zum Wettkampf etc. Eigentlich sollte das möglich sein.