Pandemie Russland entgleitet die Kontrolle in der Coronakrise

Mit neuen Corona-Höchstständen in Russland hat in der Hauptstadt Moskau ein Teil-Lockdown zur Eindämmung der Pandemie begonnen.
Moskau Das Coronavirus breitet sich weiterhin ungehindert in Russland aus. Am Freitag meldete der Operationsstab für Coronabekämpfung 1163 Tote innerhalb von 24 Stunden – der höchste Wert seit Beginn der Pandemie. Die Ansteckungszahlen sind ebenfalls seit Wochen auf Rekordniveau, am Donnerstag lagen sie bei über 40.000, der Freitagswert liegt nur minimal darunter.
Dabei geben die operativ gemeldeten Zahlen wohl nur die Hälfte der tatsächlichen Katastrophe wieder. Die Statistikbehörde Rosstat, deren Zahlen immer mit etwa zwei Monaten Verzögerung kommen, meldete in den letzten Monaten teilweise doppelt so hohe Opferzahlen wie der Covid-Operationsstab.
Laut dem Demografen Alexej Rakscha lag der natürliche Bevölkerungsrückgang (ohne Zuwanderung) im letzten Jahr (von Oktober 2020 bis September 2021) bei einer Million Menschen. Angesichts der zuletzt drastisch gestiegenen Ansteckungsraten droht die Zahl bis Jahresende über einer Million zu liegen.
Angesichts der Entwicklung veranlasst der Kreml einen einwöchigen Lockdown. Russlandweit soll zwischen dem 30. Oktober und dem 7. November in allen Betrieben und Behörden, die nicht systemrelevant sind, die Arbeit ruhen. In vielen Regionen sind die Einschränkungen teilweise schon vorher in Kraft getreten, in Moskau seit Donnerstag.
Viele Geschäftsleute sorgen sich um ihre Läden – darunter auch der Moskauer Cafébesitzer Pawel. Seit der Eröffnung im vergangenen Herbst blieb der große Umsatz aus. Gerade ist er aus den roten Zahlen heraus. Nun muss er wieder für eine Woche schließen – mindestens.
Russland drückte sich lang vor Lockdown
Das Problem: Mehr als eine Million Rubel, rund 12.000 Euro, hat er in das Café investiert. Es sollte die Grundlage seines Lebensunterhalts darstellen, eine neue Wohnung für die Familie finanzieren. Die Baufirma hat gerade die Schlüssel für die 80 Quadratmeter übergeben. Bezugsfertig sind die kahlen Wände aber nicht.
„Mindestens eine halbe Million Rubel (6000 Euro) muss ich noch für Renovierungskosten reinstecken“, rechnet Pawel vor. Der Neubau ist zudem mit einer Hypothek belastet. Ohne die Einnahmen aus dem Café wird es eng. Die derzeit von der Moskauer Stadtverwaltung verhängten zehn Tage kann er überstehen, aber das Risiko einer Verlängerung ist groß.
Der Kreml weiß um die sozialen Nöte. Im Frühjahr 2020, als Russland den ersten Lockdown verhängt hatte, brodelte es mächtig in der Bevölkerung. Denn staatliche Hilfen gab es damals kaum, um die finanziellen Einbußen abzufangen. Auch deswegen hat die russische Führung später stets darauf verzichtet, das öffentliche Leben allzu drastisch zu beschneiden.
Trotz des weltweit zuerst zugelassenen Impfstoffs gegen Covid-19 konnte das Land nicht aufatmen. Sputnik V sollte Heilmittel und Imagetreiber zugleich sein. Doch inzwischen steht der Kreml vor einem Scherbenhaufen. Die internationale Anerkennung des Vakzins ist kaum vorhanden – die EU beispielsweise hat den Impfstoff bis heute nicht registriert. Moskau sieht hier politische Motive.
Niedrige Impfbereitschaft: Bevölkerung misstraut Regierung
Doch auch die Impfkampagne im Land ist ein Fiasko: 49 Millionen Russen haben sich bislang impfen lassen. Das ist gerade einmal ein Drittel der Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Russen ist laut Umfragen immer noch gegen eine Impfung.
Nur mit beträchtlichem Druck gelang es dem Staat im Sommer, überhaupt signifikante Fortschritte bei der Impfung zu erreichen. Öffentlicher Dienst, Staatskonzerne, aber auch kleinere Betriebe im Service-Bereich mussten Quoten bei der Immunisierung erfüllen. Denn das Freiwilligkeitsprinzip hatte zuvor kaum funktioniert.
Grund dafür ist auch ein massives Misstrauen der Bevölkerung gegen die Politik insgesamt. Zudem hat der Kreml selbst mehrfach widersprüchliche Signale ausgesendet. So erklärte Wladimir Putin die Pandemie eigentlich schon im Sommer 2020, als er die Siegesparade und das Verfassungsreferendum für die Verlängerung seiner Amtszeit abhalten wollte, für besiegt.
Unter diesen Umständen verfängt die Aufklärungskampagne kaum. Im Gegenteil: In kaum einem anderen Land sind Verschwörungstheorien und Fatalismus so weit verbreitet wie in Russland.
Statt Zwangspause: Russen planen Urlaub
Trotz des massiven Ansteigens der Coronainfektions- und Todeszahlen hat der Kreml die Dringlichkeit des Lockdowns nicht verdeutlicht. Schon die Wortwahl Putins, der von „arbeitsfreien Tagen“ statt von „Lockdown“ spricht, trägt nicht zur Schärfung der Sinne bei.
Taxifahrer Semjon etwa will auch in den kommenden Tagen weiter arbeiten. „Es sterben ja auch Geimpfte“, sagt er. Die Regelungen gelten ohnehin nur für größere Betriebe, ist er überzeugt. Der 60-Jährige hat einst in der Industriemetropole Ischewsk in der Fabrik gearbeitet.
Seit drei Jahren fährt er in Moskau und lebt in einem billigen Hostel. Eine Woche zu Hause bleiben könne er sich nicht leisten, schließlich müsse er ja neben der Unterkunft auch noch die Raten für das Miettaxi bezahlen, sagt Semjon.
Auch diejenigen, die sich die Zwangspause finanziell leisten können, bleiben nicht zu Hause: Unmittelbar nach der Ankündigung Putins stiegen die Anfragen beim Ticket-Portal Aviasales deutlich an. Allein am ersten Tag suchten 53 Prozent mehr Russen nach Flugtickets. Besonders beliebt: Sotschi, Krasnodar und Simferopol im Süden Russlands.
Allein in Sotschi werden so in der kommenden Woche 120.000 Touristen erwartet. Der Ansturm dürfte dazu beitragen, die Verbreitung der Infektionen noch zu forcieren und die schwierige Lage in den Krankenhäusern der Region weiter zu verschärfen. Mit einem Abebben der Corona-Welle rechnet der Virologe Alexander Schestopalow erst ab Dezember.
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Niedrige Impfquote von 30% in Russland = 1100 Tote pro Tag! (und eine Gesamtübersterblichkeit von 1 mio Menschen!)
Glücklicherweise haben wir "nur" 10-20% Impfgegner, die nicht bereit sind mit einer Impfung die Gesellschaft zu schützen. Für mich unverständlich!