Pandemie Zögerlich, ziellos, zerstritten – Wie Österreichs Regierung dem Land den vierten Lockdown einbrockte

Alle Maßnahmen, mit denen sich Österreichs Regierung seit Anfang November beinahe verzweifelt gegen einen neuerlichen Lockdown gestemmt hatte, haben kurzfristig nicht viel gebracht.
Wien Tag eins des landesweiten Lockdowns in Österreich: Es ist ruhig, aber nicht menschenleer. Wien wirkt nicht so ausgestorben wie beim ersten Lockdown im März 2020. Damals war Covid-19 eine weitgehend unbekannte Krankheit. Die Leute blieben aus Angst vor einer Ansteckung zu Hause. Heute wirkt Wien etwa so belebt wie an einem verschlafenen Sonntag ohne Touristen.
Österreich steht wieder da, wo man sich genau vor einem Jahr befand. Es ist bereits der vierte Lockdown, und er dauert voraussichtlich bis zum 13. Dezember.
Auch die Läden haben sich mit den neuen Umständen arrangiert. „Unser Onlineshop macht keine Pause“, steht im Schaufenster einer großen Buchhandlung. „Click und Collect“ ist derzeit notgedrungen die Strategie des Einzelhandels. Sorgen machen sich allerdings kleine Läden, die entweder keinen Onlinevertrieb haben oder sich auf diesem Kanal nur schwer Aufmerksamkeit verschaffen können.
Noch glauben Einzelhändler und Tourismus-Unternehmen, dass sich das Weihnachtsgeschäft und die Wintersaison teilweise retten lassen. „Ich hoffe, dass zumindest ein Teil der Wintersaison stattfinden wird“, sagte Finanzminister Gernot Blümel von der konservativen Regierungspartei ÖVP am vergangenen Freitag.
Der Wintertourismus befindet sich in einer heiklen Lage. Er hat in Österreich ein Gewicht wie in keinem anderen Land der nördlichen Halbkugel. In der letzten Wintersaison vor der Pandemie hatte das Land immerhin 75 Millionen Logiernächte verzeichnet.

Die Touristen fehlen weitgehend.
Im vergangenen Winter fiel die Zahl der Übernachtungen auf 5,6 Millionen. Nur noch Kurgäste und Geschäftsreisende durften in den Hotels einchecken, nicht aber Wintersportler. Die Regierung wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich dieses Szenario in diesem Winter wiederholt.
Neue Regeln konnten Dynamik der vierten Welle nicht bremsen
Aber alle Maßnahmen, mit denen sich Österreichs Regierung seit Anfang November beinahe verzweifelt gegen einen neuerlichen Lockdown gestemmt hatte, haben kurzfristig nicht viel gebracht: Weder die 3G-Regel am Arbeitsplatz noch der Ausschluss der Ungeimpften durch die 2G-Bestimmungen vom öffentlichen Leben vermochten die Dynamik der vierten Welle zu bremsen.
Die Maßnahmen kamen zu spät, und so verbreitete sich das Coronavirus rasend schnell, besonders auch in den Schulen. Sie sind zu Corona-Hotspots geworden. Vor vier Wochen hatte die Sieben-Tage-Inzidenz im Land noch bei 281 gelegen; am Sonntag erreichte sie den Wert von 1100. In Europa sind diesen Herbst bisher nur die Slowakei und Slowenien ähnlich hart von der vierten Corona-Welle getroffen worden wie Österreich.
Der Wiener Simulationsforscher Nikolaus Popper sieht drei Gründe dafür: die niedrige Impfquote, zu wenige Kontrollen der getroffenen Maßnahmen und die lückenhafte Testinfrastruktur. „Wir hätten vieles konsequenter umsetzen müssen“, meint er.

Die Regierung nimmt mit der angekündigten Impfpflicht in Kauf, dass sich gewisse Impfgegner weiter radikalisieren.
Wenigstens gelang es der Regierung, mit 2G und 3G einen Teil der Impfzauderer dazu zu bewegen, sich ein Vakzin verabreichen zu lassen. Junge Österreicher sagten in den Tagen vor dem Lockdown beispielsweise, sie hätten sich nun für den Stich entschieden, um mit Freunden weiterhin essen gehen zu können.
Anfangs Oktober hatten sich im Sieben-Tage-Schnitt bloß noch rund 5000 Personen gegen Covid-19 impfen lassen (Erstimpfung); dieser Wert stieg nach Ankündigung der Regeln 2G und 3G Mitte November auf 19.000. Trotzdem sind erst 66 Prozent der Einwohner geimpft, womit das Land im westeuropäischen Vergleich abfällt.
Regierung nimmt Radikalisierung der Impfgegner in Kauf
Laut Ansicht der meisten Virologen reicht diese Impfquote angesichts der aggressiven Delta-Variante nicht, um die Pandemie in Schach zu halten. Österreich ergriff vergangene Woche deshalb eine Maßnahme, zu der sich bisher in Europa bloß der Vatikan durchgerungen hatte: Ab dem 1. Februar wird im Land eine allgemeine Impfpflicht herrschen. Für Ungeimpfte bleibt es aber schon vorher ungemütlich. Nach dem Lockdown wird wieder die 2G-Regel gelten. Auch dies soll zu einer höheren Impfquote führen.
Die Regierung nimmt damit in Kauf, dass sich gewisse Impfgegner weiter radikalisieren. Davor warnte Innenminister Karl Nehammer am Wochenende erneut. Am Samstag hatte in Wien eine Demonstration von Impfgegnern und Coronaskeptikern mit rund 40.000 Teilnehmern stattgefunden. Nehammer sprach von teilweise „aufgeheizter und aggressiver Stimmung“, die geherrscht habe. Auch Rechtsextreme und Holocaustleugner hatten sich unter die Demonstranten gemischt. Gewaltexzesse wie in Rotterdam gab es in Wien allerdings nicht.
Österreichs Regierung ist selbstredend der Meinung, dass die Impfpflicht mit der Verfassung des Landes vereinbar sei. Die Verfassungsministerin Karoline Edtstadler sagte am Wochenende, dass sie einen solchen Schritt bis vor Kurzem noch ausgeschlossen habe. „Aber die niedrige Impfquote und die hohen Infektionszahlen haben mich eines Besseren belehrt.“
Zudem hält sie die Impfpflicht für einen geringeren Eingriff in die Rechte der Bürger als den Lockdown, der das gesellschaftliche Leben lahmlegt. „Das ist ein Abwägen der Verhältnismäßigkeit“, sagte die Ministerin. Gleichzeitig übte sich Edtstadler in Demut. Die Regierung habe in den vergangenen Wochen ein Bild abgegeben, das nicht gut sei, meinte sie.

Österreich ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn in der Pandemiebekämpfung parteipolitisches Gezänk in einer Regierung die Oberhand gewinnt.
Mittlerweile spricht die Regierung aus ÖVP und Grünen aber wenigstens mit einer Stimme. Noch Anfang vergangener Woche hatte dagegen Kakofonie geherrscht. Einmal mehr machte die Regierung einen zerstrittenen Eindruck.
Der grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein, der eigentlich für die Maßnahmen gegen die Pandemie zuständig ist, wurde von ÖVP-Ministern wiederholt bloßgestellt. Immer wieder hatte er strenge Maßnahme angemahnt, etwa lokale Lockdowns oder nächtliche Ausgangssperren. Aber bei den Regierungskollegen hat er kein Gehör gefunden. Der Arzt, der erst seit April im Amt ist, war von den Ränkespielen in Österreichs Politik überfordert.
Auch Bundeskanzler Alexander Schallenberg hatte einem Lockdown für Geimpfte wiederholt eine Absage erteilt. „Ich sehe nicht ein, dass zwei Drittel ihrer Freiheit verlustig gehen, weil ein Drittel beim Impfen zaudert“, sagte er vor zehn Tagen.
Ex-Kanzler Kurz schwebt über der Regierung
Geradezu desavouiert wurde Mückstein von der Tourismus- und Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger. „Ich halte überhaupt nichts von den Wortmeldungen des Gesundheitsministers“, verkündete sie noch vor einer Woche in schneidendem Ton.
Gerade Köstinger gilt als sehr enge Vertraute von Sebastian Kurz, der im Oktober als Bundeskanzler zurückgetreten ist. Seither schwebt er wie ein Schatten über der Coronapolitik von Österreichs Regierung. Als Bundeskanzler hatte er wiederholt das Ende der Pandemie prognostiziert. Auch das hielt die ÖVP-Minister im November wohl davon ab, rascher strenge Maßnahmen gegen die Pandemie zu verfügen. Ein solcher Schritt hätte Kurz’ Pandemiestrategie als kurzsichtiges politisches Manöver entlarvt.
Damit ist Österreich ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn in der Pandemiebekämpfung parteipolitisches Gezänk in einer Regierung die Oberhand gewinnt. Das wirkte sich besonders auf das Bundesland Oberösterreich aus, das schwer von der vierten Pandemiewelle getroffen wurde.
Die Opposition wirft der ÖVP und Landeshauptmann Thomas Stelzer „bewusste Untätigkeit im Sommer“ vor. Hier schwingt der Vorwurf mit, ÖVP-Vertreter hätten die Infektionslage vor den Landtagswahlen im September schöngeredet. Dies mit dem Hintergedanken, der FPÖ, deren Mitglieder die Corona-Maßnahmen teilweise vehement ablehnen, keine Munition zu liefern.
Oberösterreich ist insofern speziell, als die Impfquote im Bundesland so niedrig ist wie nirgends sonst im Land. Die Schlusslichter bilden Regionen mit einem traditionell hohen Anteil an sehr rechten Wählern wie das Innviertel.
Wie gewichtig das kritische Lager ist, zeigte sich dann bei den Wahlen: Die impfskeptische Liste Menschen, Grundrechte, Freiheit (MFG) schaffte aus dem Stand den Einzug in den Landtag mit einem Stimmenanteil von 6,2 Prozent.
Seit Kurzem tritt Österreichs Regierungskoalition geeint gegen solche extremen Kräfte auf. Die dramatische Lage in den Spitälern zwang sie dazu.
Ungewiss ist allerdings, wie lange der Burgfriede halten wird. Manche Beobachter glauben, dass die Differenzen der beiden Regierungsparteien wieder offen zutage treten werden, sobald die vierte Pandemie-Welle abgeebbt ist. Konfliktpotenzial gibt es genug, etwa in Fragen der Migration und der Umweltpolitik.
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