Privatschulen als digitale Vorreiter Kraftwerk im Klassenraum

Mal eben in die Highlands von Schottland fliegen.
Neuss Zu acht stehen sie hoch oben in den schottischen Bergen. Der Himmel ist klar, einige Hügel sind schneebedeckt, direkt vor den Augen glänzt ein tiefblauer Bergsee. Kilian O’Brien, Lehrer für Naturwissenschaften an der International School on the Rhine (ISR) in Neuss, ist heute mit seiner 11. Klasse hierhergekommen, um den Schülern zu zeigen wie ein Wasserkraftwerk funktioniert. „Dreht euch doch bitte mal alle um und kommt ans Geländer“, sagt O’Brien. Die Schüler folgen. „Boah, ist das tief“, ruft einer. Vor ihnen senkt sich die Stauwand des Kraftwerks rund 100 Meter nach unten. O’Brien hat sein Ziel erreicht. „Ihr könnt eure Brillen wieder abnehmen“, sagt er.
O’Brien und seine Schüler sind nicht wirklich vor Ort in Schottland. Mal eben in die Highlands zu fliegen, um ein Wasserkraftwerk anzuschauen – das würde selbst bei einer Privatschule zu finanziellen Engpässen führen. Ist aber auch gar nicht nötig, Virtual Reality (VR) macht’s möglich. Die ISR erprobt seit rund einem Jahr Hightech-Brillen im Unterricht, die den Trägern eine virtuelle Realität vorgaukeln. Und nicht nur das: Auch E-Books und einen 3D-Drucker hat die Schule angeschafft.
Wie kann man Schüler auf das digitale Zeitalter vorbereiten? Über diese Frage diskutieren Bildungspolitiker derzeit heftig. Deutschlands Schüler sind im internationalen Vergleich nicht gerade die Streber, wenn es um moderne Technologien geht. Das hat unter anderem die weltweite Studie ICILS 2013 gezeigt, bei der die Medienkompetenz von Achtklässlern abgefragt wurde. Deutschland landete nur im Mittelfeld – unbefriedigend.
Doch gerade an Privatschulen, die weniger stark an staatliche Lehrpläne gebunden sind und oft mehr Geld zur Verfügung haben, hat sich seither viel getan. „Wir stellen fest, dass das Thema Digitalisierung an immer mehr Schulen zum Alltag gehört“, sagt Robert Renner vom Verband Deutscher Privatschulverbände. Allerdings sind die Unterschiede so groß wie zwischen einem Nokia 3210 und einem iPhone: Während einige Schulen forsch voranschreiten, nähern sich andere dem Thema mit Trippelschritten. Was ist noch digitale Kompetenz, was schon Reizüberflutung? Für viele Schulen ein schwieriger Lernprozess.
Wie skeptisch viele Lehrer der Digitalisierung gegenüberstehen, zeigt der „Monitor Digitale Bildung“ der Bertelsmann Stiftung. Demnach ist zwar die Mehrheit der Ansicht, dass der Einsatz digitaler Medien motivierend auf die Schüler wirkt. Aber nur fünf Prozent sind überzeugt, dass dadurch auch die Lernergebnisse besser werden. Weitere 18 Prozent können sich das immerhin vorstellen.
ISR-Geschäftsführer Emil Cete glaubt an die Vorzüge der neuen Technik – allerdings nicht ständig und in jeder Situation. „Digitale Medien im Unterricht einzusetzen ist für uns kein Selbstzweck“, sagt er. „Wir überlegen bei jeder Maßnahme ganz genau: Welchen Mehrwert hat das?“ Für die VR-Brillen habe er sich entschieden, um den Schülern abstrakte Zusammenhänge näherzubringen.
Nach dem Ausflug ins schottische Wasserkraftwerk geht der Unterricht bei Lehrer O’Brien wieder klassisch im Klassenraum weiter. Wie viel Wasser befindet sich im Bergsee? Wie viel Energie lässt sich damit erzeugen? Die Schüler tippen in ihre Taschenrechner. Die Brillen werden sie erst später wieder brauchen, um sich eine Turbine aus der Nähe anzusehen. „Das macht den Unterricht interessant und abwechslungsreich“, findet Schülerin Lena. Ihr Tischnachbar Johannes ergänzt: „Wir haben uns auch schon das Weltall und elektromagnetische Wellen angeschaut. Mithilfe der Brille sind solche abstrakten Dinge viel leichter zu verstehen.“
Andere Schulen experimentieren mit Tablets und E-Books, etwa die Freie Schule Anne-Sophie in Berlin. Hier nutzen die Schüler schon seit fünf Jahren Lern-Apps für die einzelnen Fächer, bestimmte Internetseiten wie etwa Facebook sind gesperrt. In den unteren Jahrgängen kommen die Tablets nur im Unterricht zum Einsatz, die älteren Schüler dürfen sie zudem mit nach Hause nehmen.
Auch die ISR Neuss hat kürzlich Tablets und E-Books im Unterricht eingeführt – vorerst aber nur in der 4. und 7. Klasse, um herauszufinden, ob sowohl ältere als auch jüngere Schüler mit den Geräten zurechtkommen. Die E-Books entsprechen im Prinzip normalen Schulbüchern, sind aber um bestimmte Funktionen erweitert, erklärt IT-Leiter Hayan Al Mamoun. Er greift nach einem Tablet und öffnet das E-Book „Beauty and the beast“. Ergänzend zum Text des Märchens können sich die Kinder kurze Videos anschauen oder den englischen Text vorlesen lassen, um ihre Aussprache zu überprüfen. Reguläre Schulbücher gibt es zusätzlich, aber die sind nur für das Lernen zu Hause.
Wolfgang Ludwig hat drei Kinder an der ISR, er findet die Neuerungen gut: „Nicht nur das Lernen, auch der Schulranzen wird leichter.“ Schließlich müssten die Kinder nicht mehr wegen einer Übungsaufgabe das komplette Buch mitschleppen. „Ein schöner Nebeneffekt, wenn die Kinder auch den Umgang mit den digitalen Medien lernen.“
Es gibt aber auch Eltern, die nicht so schnell überzeugt waren, berichtet Geschäftsführer Cete. Wie verhindert man, dass Schüler, wenn sie ein eigenes Tablet haben, noch mehr daddeln? Oder auf Youtube abhängen, statt Lektion 3 ihres Englischbuches durchzuarbeiten? „Das waren die größten Bedenken, die es vonseiten der Eltern gab.“
Um sie zu entkräften, entwickelte IT-Leiter Al Mamoun eine Lösung: Die Schüler müssen sich zu Beginn des Schuljahres für Kurse registrieren und bekommen Zugriff auf die dafür vorgesehenen digitalen Materialien. Das Internet auf dem Tablet ist gesperrt – sowohl in der Schule als auch zu Hause. „So können wir gut kontrollieren, welche Inhalte die Kinder zu sehen bekommen“, sagt Al Mamoun.
Es sei allerdings auch Aufgabe der Schule, darauf zu achten, dass Kinder digitale Inhalte nicht nur passiv konsumieren, sondern auch aktiv erstellen, bemerkt Rudolf Kammerl, Pädagogikprofessor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg: „Nur wenn wir Kreativität und kritische Reflexionsfähigkeit fördern, unterstützen wir die heranwachsende Generation darin, die Digitalisierung selbstbestimmt mitzugestalten.“
Aus der gleichen Überzeugung heraus hat ISR-Geschäftsführer Cete auch einen 3D-Drucker angeschafft. Am häufigsten nutzt ihn derzeit die Zwölftklässlerin Pia. Die junge Frau öffnet routiniert ein Zeichenprogramm an ihrem Laptop und gestaltet mit wenigen Mausklicks einen Einkaufswagenchip. Dann startet sie den Druck und beobachtet, wie die feine Nadel ihre Vorlage mit flüssigem Plastik in einen realen Gegenstand verwandelt. „Mich fasziniert das“, sagt die Schülerin, die nach dem Abi Mathematik studieren möchte. „Im Studium arbeitet man auch viel mit 3D-Druckmodellen und ich finde es toll, dass ich hier schon mal üben kann.“
50.000 Euro hat die ISR für die VR-Brillen und E-Books in die Hand genommen, eine Investition nicht nur in die Zukunft der Schüler. Für Privatschulen sind digitale Medien neben den pädagogischen Vorzügen auch ein Argument, um neue Schüler anzuwerben. Denn allein Anbieter, die attraktiv genug sind, können im Wettbewerb bestehen. Die ISR weiß das nur zu gut: Vor vier Jahren musste sie Insolvenz anmelden und wird seither als gemeinnützige GmbH mit Unterstützung eines Investors und einer Elterngewerkschaft geführt.
Die größte Schwierigkeit ist bis heute, geeignetes Lernmaterial für den digitalen Unterricht zu bekommen, insbesondere für die VR-Brillen. Da es von Schulbuchverlagen kaum Angebote gebe, verwendeten die Lehrer im Unterricht auch Materialien von Google, sagt Geschäftsführer Cete. „Ich wünschte, wir könnten mehr auf Angebote klassischer Verlage zurückgreifen.“ Doch die Auswahl ist dürftig. Manche Verlage wie Cornelsen experimentieren zwar mit VR-Anwendungen, bisher aber gibt es meist nur Prototypen, wenn überhaupt.
Noch ist die Digitalisierung an den Schulen ein großes Experiment für Lehrer und Schüler. Auch die ISR will zunächst ein Jahr testen, wie E-Books und VR-Brillen sich im Unterricht bewähren – und dann entscheiden, ob weitere Geräte angeschafft werden. „Auch für uns ist das ein ständiger Lernprozess mit vielen Ideen, die wir ausprobieren und notfalls auch wieder verwerfen“, sagt Cete. So gab es anfangs die Vorgabe, dass in jedem Wissenschaftsunterricht mindestens einmal pro Woche die VR-Brille zum Einsatz kommen muss. Inzwischen darf jeder Lehrer wieder selbst entscheiden, wann und wie oft die Nutzung sinnvoll ist.
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