Rekord-Rezession Britische Wirtschaft schrumpft um 20 Prozent

Millionen Briten sind in Kurzarbeit.
London Boris Johnson verfügt über das große Talent, sich aus heiklen Lagen mit rhetorischen Kniffs zu befreien. Was die jüngsten Wirtschaftsdaten angeht, blieb der britische Premierminister allerdings zunächst stumm. Er zog es vor, seinem Finanzminister Rishi Sunak die Bühne zu überlassen.
„Ich habe vor einigen Monaten gesagt, dass harte Zeiten auf uns zukommen“, sagte Sunak dem Fernsehsender ITV. „Die heutigen Zahlen zeigen, dass die harten Zeiten da sind.“
Der Konjunktureinbruch, den Großbritannien in der Coronakrise erlitten hat, verdient das Attribut historisch. Im zweiten Quartal ist die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas um 20,4 Prozent geschrumpft – nach einem Minus von 2,2 Prozent im ersten Quartal. Das teilte die nationale Statistikbehörde am Mittwoch mit. Das Land steckt nun offiziell in der schwersten Rezession seit drei Jahrhunderten.
Zwar hat die Krise alle Industriestaaten schwer getroffen, aber Großbritannien übertrifft sie alle. Der Einbruch ist doppelt so hoch wie in Deutschland und den USA. Das Königreich ist Schlusslicht unter den EU-Partnern wie unter den G7-Staaten. Nur das Minus von 18,7 Prozent in Spanien reicht an britische Dimensionen heran.
Johnsons Timing führte zum Konjunktureinbruch
Die Gründe für den britischen Konjunktureinbruch sind vielfältig. Auf den ersten Blick erstaunt das Ausmaß, weil Johnson die Pandemie zu Beginn nicht ernst genommen hatte und im Unterschied zu seinen Kollegen in Italien und Spanien lange auf einen Lockdown verzichtet hatte.
Doch Ende März legte er den Schalter um und führte Ausgangsbeschränkungen ein, die das öffentliche Leben auf der Insel monatelang lahmlegten. Sein Timing führte dazu, dass sich der Corona-Effekt nun voll im zweiten Quartal niederschlägt.
Seine anfängliche Weigerung, Restriktionen durchzusetzen, hatte obendrein zur Folge, dass Großbritannien bald die Opferstatistik in Europa anführte. Bis heute sind mehr als 46.000 Tote zu beklagen. Dies wiederum führte dazu, dass Johnson zögerlicher als andere Regierungschefs die Regeln wieder lockerte.
„Eine Rolle hat gespielt, dass der Shutdown im Vereinigten Königreich später kam und entsprechend später wieder gelockert wurde“, sagte Ifo-Chef Clemens Fuest. „Außerdem dürfte die rapide Ausbreitung des Virus Konsumenten und Investoren stärker verunsichert haben als in anderen Ländern.“
Ein zweiter Grund für den Rekordeinbruch ist der große britische Dienstleistungssektor. Er macht 80 Prozent der Gesamtwirtschaft aus. Der Sektor sei vom Lockdown besonders hart getroffen worden, sagt Cathal Kennedy, Ökonom bei der Investmentbank RBC Capital Markets. Die Abstandsregeln haben einzelne Branchen wie Gastronomie, Kultur und Entertainment weitgehend stillgelegt.
Die sonst so konsumfreudigen Briten wurden ausgebremst. Der private Verbrauch fiel im zweiten Quartal um 23,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal. „Da die Bewegungsfreiheit der Menschen im zweiten Quartal eingeschränkt war, ist es nicht überraschend, dass Branchen wie Gastronomie, Kultur und Entertainment die volle Wirkung des Lockdowns gespürt haben“, sagte Alpesh Paleja, Ökonom beim Unternehmerverband CBI.
Auch die Investitionen sanken im zweiten Quartal um 25,5 Prozent. Dabei spielt neben dem Lockdown auch der Brexit eine Rolle. Da sich in den Freihandelsgesprächen mit der EU noch keine Einigung abzeichnet, bleibt die Unsicherheit über die künftige Handelsbeziehung zwischen den Partnern bestehen. Sollten die Gespräche scheitern, gelten ab Januar die Zölle und Regeln der Welthandelsorganisation, was britische Unternehmen zusätzlich belasten würde.
Der Tiefpunkt ist durchschritten
Die Anleger reagierten gelassen auf die Zahlen. Der britische FTSE-Aktienindex legte sogar leicht zu. Die meisten Marktteilnehmer hätten einen Einbruch um 20 Prozent seit einiger Zeit eingepreist, daher seien sie nicht überraschend, sagte Kennedy. Nichtsdestotrotz stelle dieser Einbruch alles in den Schatten, „was wir bisher erlebt haben“.
Für die Anleger zählt, dass der Tiefpunkt der Rezession bereits durchschritten ist. Im Mai wuchs die britische Wirtschaft um 2,4 Prozent, im Juni um unerwartet starke 8,7 Prozent im Vergleich zum Vormonat.
Die Bank of England rechnet mit einem deutlichen Aufschwung im dritten Quartal: Die Wirtschaft werde um 18 Prozent gegenüber dem Vorquartal wachsen, hatte die Notenbank vergangene Woche geschätzt. Danach werde sich die Erholung wieder verlangsamen. Für das Gesamtjahr erwartet die Notenbank ein Minus von 9,5 Prozent.
Andere Experten halten dies für zu optimistisch. Echtzeit-Indikatoren deuteten auf eine langsamere Erholung hin, sagt David Owen, Chefvolkswirt der Investmentbank Jefferies. Im Schnitt erwarten Ökonomen für das kommende Jahr ein Wachstum von sechs Prozent.
Die beiden größten Risiken in den kommenden Monaten seien der Brexit und ein überhastetes Ende der Kurzarbeit, sagte Sanjay Raja, Volkswirt bei der Deutschen Bank in London. Der eine Faktor könnte Investitionen von Unternehmen bremsen, der andere den privaten Konsum.
730.000 weniger Beschäftigte als im März
Auch die Bank of England fürchtet, dass eine zweite Pandemiewelle zu weiteren Ausgangsbeschränkungen führen und die Erholung bremsen könnte. Johnson hat in den vergangenen Wochen bereits lokale Lockdowns in Leicester und Manchester verhängt. Er ist inzwischen besonders vorsichtig, nachdem sein Krisenmanagement anfangs scharf kritisiert worden war.
Die Folgen der Rezession werden durch die Notprogramme der Regierung noch verdeckt. So liegt die Arbeitslosenquote weiterhin nur bei rund vier Prozent. Das liegt daran, dass Millionen Briten in Kurzarbeit sind.
Die Zahl der Beschäftigten lag im Juli jedoch bereits um 730.000 niedriger als vor dem Lockdown im März. Ökonomen erwarten einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit, wenn die Kurzarbeit Ende Oktober ausläuft. Seit Anfang August fährt die Regierung die Unterstützung schrittweise zurück.
Eine höhere Arbeitslosigkeit würde den Aufschwung bremsen. Einige Beobachter erwarten daher, dass Finanzminister Rishi Sunak die Kurzarbeit am Ende verlängern wird, um Massenentlassungen zu vermeiden. „Jeder Politiker hat eine Schmerzgrenze“, sagt Simon French, Chefvolkswirt beim Brokerhaus Panmure Gordon.
Mehr: Der Lockdown ist lange vorbei – Doch London kommt nicht in die Gänge.
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Dass die Briten so massiv in die Geldschöpfung durch die Notenbank eingestiegen sind ist schon erstaunlich. Bisher erschallte das Primat der ach so freien Märkte und deren unsichtbaren "wohltuenden" Händen. Was ist davon noch übrige, bei dieser enormen Geldschöpfung? Es war also vorher auch nur BlaBla, wie bei so vielen Hypothesen. Mittels Geldschöpfung stützen die Briten nun kräftig die Wirtschaft. Klüger wäre, das neue Geld in Investitions-Kanäle zu lenken, wovon Menschen Mehrwert bekommen, z.B. in modernen Geschoß-Wohnungsbau, wobei man die Nebenkosten (Heizung, Strom) mit modernster Haustechnik auf die Hälfte reduzieren könnte. Die Haustechnik kann in Britannien hergestellt werden - Wertschöpfung im Inland somit. Mal sehen, wie klug die Briten sein werden.