Report aus Istanbul „Diese Sekte muss besiegt werden“

Millionen Türken feiern den Sieg über die Putschisten, Kritiker fürchten neue Repressalien.
Istanbul Stimmung wie auf einem Volksfest. Ein älterer Mann pustet am Mittwochabend auf dem Istanbuler Taksimplatz Luft durch eine Trillerpfeife, als würde er ein EM-Spiel abpfeifen. Tausende scheinen es ihm gleichzutun, ein ohrenbetäubender Lärm. Frauen binden ihren Kindern rot glänzende Stirnbänder um, auf vielen davon steht einfach nur „Recep Tayyip Erdogan“. Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter; einer beginnt zu weinen, als er von einer geschwenkten Flagge getroffen wird. Ein Junge ist auf das Freiheitsdenkmal, das auf dem Platz steht, geklettert und reißt eine Türkeiflagge von links nach rechts. Junge liegen sich mit Alten in den Armen. Immer wieder ertönen Sprechchöre: „Allahu akbar!“ – Gott ist groß.
Alle beginnen gleichsam zu jubeln, als eine kleine Gruppe junger Männer eine an einem Stock befestigte Puppe auf den Taksimplatz trägt. Die Figur ist an einem langen Holzstab befestigt und besteht vor allem aus einem langen Daunenkissen. Ein blaues Hemd scheint hastig um den mittleren Teil geknöpft. Unten hängt ein Stück Stoff, das wohl eine Hose darstellen soll. Und oben hat jemand eine DIN-A4-Klarsichthülle um das Kissen gebunden. In der Hülle steckt ein schlecht gedrucktes Foto, das alle paar Sekunden von der Leuchtkerze eines Demonstranten in hellrotes Licht getaucht wird.

Recep Tayyip Erdogan geht knallhart gegen seine Gegner vor.
Das Gesicht auf dem Foto gehört Fethullah Gülen. Dem türkischen Prediger, der jahrelang in einer Art Koalition mit Erdogans AKP das Land umbaute und Millionen Türken begeisterte; dem Massenverführer, der aber auch ein Heer von Getreuen im Staatsapparat installierte, um seine eigene Macht auszubauen; dem vor Jahren ins Exil geflohenen Geistlichen, der hinter dem Putschversuch vom vergangenen Freitag stecken soll.
+++ 15. Juli 2016, 23:20 Uhr Ortszeit: Panzer belagern am späten Abend in Istanbul die südliche Bosporus-Brücke auf der Straßenseite in Richtung Europa. Aus Ankara erscheinen Meldungen über tieffliegende Kampfjets. Später meldet die Nachrichtenagentur Anadolu, Teile des Militärs hätten einen Putsch begonnen. „Dieser Putsch wird nicht erlaubt werden“, gibt Ministerpräsident Binali Yildirim anschließend bekannt und fügt hinzu: „Die Hintermänner werden den höchsten Preis bezahlen.“ Später meldet sich Staatschef Erdogan zu Wort – per Skype. Der private Nachrichtensender CNN Türk strahlt ein Videotelefonat mit dem Präsidenten aus. Erdogan ruft darin das Volk auf, gegen den Putsch zu demonstrieren. Millionen Türken gehen darauf im ganzen Land auf die Straße und stellen sich vor die Panzer. Militärhubschrauber eröffnen in Ankara das Feuer; erst auf das Parlamentsgebäude, später auf die Demonstranten.
Fast 260 Menschen starben in jener Nacht, Tausende wurden verletzt, und ein ganzes Land wurde paralysiert. Wirklich das ganze Land? Nicht wirklich. Ein großer Teil der Bevölkerung feiert frenetisch, der andere Teil wirkt resigniert.
Erdem Aksu gehört hierbei zu einer Minderheit, die irgendwo dazwischen liegt. Der großgewachsene hagere Mann zählt sich wahrlich nicht zu den Erdogan-Befürwortern. Aksu, der eigentlich anders heißt, arbeitet in der Führungsriege eines großen türkischen Konzerns. Politische Konflikte sind Gift fürs Geschäft, das weiß er wie jeder andere. Und Konflikte gab es genug. Die Streitigkeiten mit Russland und Israel; der wiederaufgeflammte Konflikt mit den kurdischen Extremisten von der PKK; die Flüchtlingskrise, eine Neuwahl und nicht zuletzt brutale und brutal regelmäßige Anschläge im eigenen Land. Aksu glaubt allerdings, die Lage könnte sich schon bald tatsächlich wieder beruhigen – weil nach und nach alle Gegner Erdogans ausgeschaltet seien.
„Die Opposition ist keine Gefahr mehr, seit Erdogan wieder eine komfortable Mehrheit hat, das Militär ist neutralisiert, und die kurdischen Extremisten von der PKK lässt er bekämpfen“, listet der Mittvierziger auf. Er glaubt, dass sich die Situation schon bald entspannen könnte – weil die Gülenisten nun „endlich ausgeschaltet werden“. Aksu sagt: „Ich habe meine Probleme mit der AKP. Aber es ist vollkommen richtig, dass diese Sekte besiegt wird.“
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