Report Drogen und Gewalt – Frankreichs Problemviertel zeigen das Ausmaß misslungener Integration
Trappes Ein Stand reiht sich an den anderen in der großen Turnhalle, Menschen wedeln mit Flyern, werben für Sport, bieten Aktionsmöglichkeiten und Beratung an. Die Stadtverwaltung stellt ihre Theater-AG vor, ein Kulturzentrum seine Kurse für Schneidern, Tarot oder Linguistik. Verschleierte Muslima verfolgen gebannt eine weitgehend hellhäutige Gruppe, die amerikanischen Square Dance aufführt. Zwei Kinder aus dem Maghreb kreuzen die Klingen im professionellen Fechtanzug. Sieht so das Herz der Finsternis aus?
Im Schulzentrum der Gemeinde Trappes stellen etwa 50 Vereine und Initiativen ihre Arbeit vor. Trappes ist eine der vernachlässigten Vorstädte Frankreichs, in denen der gerade zurückgetretene Innenminister Gérard Collomb „nicht mehr das Recht der Republik, sondern das Gesetz des Stärkeren“ findet. Der Politiker, der sich anderthalb Jahre lang wenig um die Banlieue gekümmert hat, sieht sie zu einem guten Teil „beherrscht von Drogendealern und radikalen Islamisten“.
Jetzt trat Collomb zurück, ein enger Vertrauter von Präsident Emmanuel Macron. Am vergangenen Mittwoch übernahm Premierminister Edouard Philippe kommissarisch das Amt. Eine Krise im Élysée-Palast, die eine Frage aufwirft: Warum wirft Collomb hin? Wie schlimm steht es wirklich um die Migration in Frankreich?
Antworten auf die Fragen sind in Trappes zu finden. 30.000 Menschen aus 70 unterschiedlichen Herkunftsländern leben dort zusammen, ohne Spannungen – meistens. Aber die Gemeinde zählt wenige Kilometer südwestlich von Paris und in unmittelbarer Nachbarschaft des „französischen Silicon Valley“ von Saclay mit zu den schwierigsten Frankreichs.
66 Jugendliche sollen von hier aus nach Syrien aufgebrochen sein, um sich der Terrormiliz Islamischer Staat anzuschließen – so viele wie aus keinem anderen französischen Ort. Vor fünf Jahren kam es zu Schlägereien zwischen Muslimen und der Polizei, weil zwei Beamte eine Frau in der – verbotenen – Burka, dem Ganzkörperschleier, kontrollieren wollten. Im August erstach ein Muslim seine Mutter und eine seiner Schwestern.
Als Innenminister fuhr Collomb nach Trappes und suggerierte, hier habe wohl der radikale Islamismus zugeschlagen. Später kam heraus, dass es sich um einen psychisch Kranken handelte und die Familie alles andere als strenggläubig ist.

Architektonischer Versuch, aus Gettos ansehnliche Wohnviertel zu machen.
Guy Malandain ist deshalb nicht besonders gut auf Ex-Minister Collomb zu sprechen. Seit 2001 ist Malandain Bürgermeister der Kleinstadt. Früher gehörten beide der sozialistischen Fraktion in der Nationalversammlung an. „Warum redest du so etwas?“, habe er den Minister gefragt. „Sag doch lieber, dass hier ein Mann mit schwersten psychischen Problemen vom Staat nicht richtig versorgt wurde!“
Aus dem Fenster seines Büros blickt er auf die vierspurige Nationalstraße, die wie eine Rollbahn die Stadt durchschneidet. Malandain hat die Nase voll davon, dass seine Stadt als „Trappistan“ oder auch „Molenbeek-en-Yvelines“ bezeichnet wird – in Anlehnung an den Brüsseler Stadtteil, der als Hochburg der Salafisten in Europa gilt. „Das mit dem Klima des Schreckens ist absurd. Und ob wirklich 66 junge Männer nach Syrien gegangen sind, weiß niemand“, protestiert Malandain.
Worunter die Stadt vor allem leidet, ist eine Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 40 Prozent, wie sie die meisten der gut 1500 benachteiligten Viertel in Frankreich aufweisen. An ihnen zeigt sich, was das Land in den vergangenen Jahrzehnten an Migrationsarbeit versäumt hat – ein abschreckendes Beispiel für Deutschland in der Integrationspolitik.
Die Golfplätze sind in Sichtweite
Die Franzosen warben in den Sechzigerjahren Arbeiter in ihren ehemaligen Kolonien an. Fern der Stadtzentren ließ Präsident Charles de Gaulle sie in Sozialbauten zusammenpferchen. Aus einer Übergangs- wurde eine Dauerlösung, denn die Annahme, die Menschen würden nach getaner Arbeit zurückgehen, bewahrheitete sich nicht. So entwickelten sich die abgehängten Vorstädte zum Dauerproblem. Längst sind die Fronten verhärtet. „Man lebt nicht mit, sondern gegeneinander“, räumte auch Collomb ein.
Hört ein Franzose der Mittel- oder Oberschicht das Wort Banlieue, denkt er an brennende Autos, Drogenhandel, fanatische Islamisten. Die Menschen in den Vorstädten reagieren gleichfalls gereizt, sind es leid, in diese Schubladen gesteckt zu werden.
„Wir haben doch die Leute aufgenommen, die man in den besseren Vierteln nicht wollte“, erregt sich Bürgermeister Malandain. Reiche Gemeinden bauten keine Sozialwohnungen, zahlten lieber eine symbolische Strafe. Die Schuld sieht der Sozialist beim Staat: „Man erlaubte den Familiennachzug, ohne sich im Geringsten um die Voraussetzungen für die Integration zu kümmern, wie Spracherwerb oder Städtebau, der Gettos verhindert.“ So ballten sich die Migranten und ihre Nachfahren in den Vierteln fern der Innenstädte zusammen. Die Reichen bleiben unter sich, und die Armen bleiben unter sich.
Nur zehn Kilometer von Trappes entfernt prangt das Technologiecluster Saclay, um das sich mehrere Dutzend Universitäten und Unternehmen angesiedelt haben. Auf einem der Golfplätze gleich neben Trappes hat die Elite des Sports gerade den renommierten Ryder Cup ausgetragen. Doch was so nah liegt, ist für die Jugendlichen in Trappes unerreichbar. „Das Forschungscluster bietet Jobs für Leute mit sehr hohem Bildungsniveau, das erreichen unsere Jugendlichen kaum“, resümiert Malandain. „Uns bringt das überhaupt nichts.“
Eine Chance auf einen Job würden die wenigsten bekommen. Das liegt nicht allein an schlechterer Bildung, sondern auch an harter Diskriminierung. Bewerbungen aus der Banlieue landen meist im Papierkorb. „Heute macht uns niemand mehr offen runter, wir bekommen einfach keine Antwort mehr“, sagt Noureddine Agne, ein Franzose mit senegalesischen Wurzeln. Falls sie doch komme, falle sie zynisch aus: „Sie würden sich bei uns nicht wohlfühlen, unser Verhaltenskodex ist anders als Ihrer“, schrieben die Unternehmen dann. Noureddine, Anfang dreißig, hat es immerhin zum Sportreporter bei Canal+ gebracht.
Dabei wirkt Trappes auf den ersten Blick gar nicht so elend. Die Stadt ist sauberer als Paris, ist übersät mit Grünflächen und Blumenrabatten. Eine Wohnungsbaugesellschaft bietet Fünf-Zimmer-Neubauwohnungen für 245 000 Euro an. In Paris würden sie zehnmal so viel kosten. Trappes bietet erstaunlich gute Freizeitaktivitäten und eine gute Verkehrsanbindung: In weniger als zehn Minuten erreicht man zu Fuß einen großen See mit Wassersportmöglichkeiten. Mit dem Zug ist man in einer halben Stunde in Paris-Montparnasse, genauso schnell im Geschäftsviertel La Défense.
„Viel versprochen, wenig gehalten“
Das alles erinnert überhaupt nicht an ein Getto. Und doch hat Trappes Züge davon. „Die Jugendlichen hier fahren nicht nach Paris, haben das Gefühl, sie hätten dort nichts zu suchen“, sagt Agne. Die Gegner des Bürgermeisters werfen ihm vor, er habe zur Bildung einer Parallelgesellschaft beigetragen: 2001 habe er die Wahl mit dem Versprechen gewonnen, eine große Moschee zu bauen – dabei darf der Staat im laizistischen Frankreich keine Moscheen bauen oder sich dafür einsetzen. So habe er den Islam gestärkt, so die Anschuldigung.
Auch Noureddine Agne ist nicht gut zu sprechen auf die Linke, die früher mit der Banlieue kokettiert habe. „Die Sozialisten haben uns Migrantenkindern in den Achtziger- und Neunzigerjahren viel versprochen, aber wenig gehalten“, sagt er. Statt guter Jobs und Karrieren für die Nachfahren der Zuwanderer habe es Enttäuschungen gegeben.
Die zweite und dritte Generation der Einwanderer wuchs mit Scham und Wut über die Lebensbedingungen auf, die man ihren Eltern und ihnen zumutete. Der industrielle Strukturwandel brachte die Arbeitslosigkeit in die prekären Behausungen. Wie viele Vorstädte wurde Trappes bis 2001 von den Kommunisten regiert. Der Strukturwandel machte die früheren Genossen aus den Kolonien zu Konkurrenten um knapper werdende Arbeit. Die Vernachlässigung der Bildung war die letzte Zutat zu einem explosiven Cocktail. Es fehlte nur noch der Zündfunke.
Der entflammte nach dem 27. Oktober 2005. Damals starben zwei Jugendliche in einem Transformatorhäuschen in Clichy-sous-Bois bei Paris, in das sie vor der Polizei flohen. Ein Aufstand brach los und verstärkte sich, als Polizisten Tränengasgranaten in eine volle Moschee warfen. Drei Wochen lang zündeten daraufhin Jugendliche in ganz Frankreich insgesamt 9000 Autos und Hunderte von Bibliotheken, Schulen und Bussen an. Die Gewalttäter brandschatzten ihre eigene Umgebung. Auch in Trappes brannten damals Busse. In den guten Vierteln dagegen geschah nichts.
Der „Abschaum“ habe das Kommando übernommen, sagte Nicolas Sarkozy, damals Innenminister, und stieß damit auf Zustimmung bei der verunsicherten weißen Mittelschicht. Unvergessen seine Ankündigung: „Ich werde die Banlieue mit dem Kärcher säubern!“ Die Unruhen lösten aber auch ein Umdenken bei den Politikern aus. In den folgenden Jahren wurden mehrere Milliarden Euro für Stadterneuerung ausgegeben. Aus scheußlichen Gettos wurden ansehnliche Wohnviertel. So wie in Trappes.
Doch Beton und Farbe schaffen keine besseren Aufstiegschancen. „Die Arbeitslosigkeit in den Quartiers ist doppelt, die Armut dreimal so hoch wie in einer durchschnittlichen französischen Kommune“, sagt Sebastian Jallet vom „Generalkommissariat für die Gleichheit der Territorien“ (CGET), das die Politik für die benachteiligten „Quartiers“ koordiniert. 5,4 Millionen Menschen leben dort.
Revierkämpfe mit Sturmgewehren
Die Arithmetik der Banlieue ist erbarmungslos: Schlechte Bildung und Diskriminierung stärken die Arbeitslosigkeit, die regt den Drogenhandel an und der die Gewalt. In Marseille tragen die Gangs ihre Revierkämpfe mit der Kalaschnikow aus, die jugendlichen Zuträger der Narcos terrorisieren ganze Wohnblocks. Auch an anderen Orten ist die Grenze zwischen friedlichem Nebeneinander und Gewaltausbruch äußerst dünn. Im Sommer 2017 brannten in Beaumont-sur-Oise, nördlich von Paris, wochenlang Autos, weil bei einer rabiaten Festnahme ein Jugendlicher aus Mali starb. Dessen Tod wollte die Gendarmerie als Folge einer chronischen Herzschwäche vertuschen.
Das erinnert an Gewaltausbrüche wie in Chemnitz – und ist doch nicht vergleichbar. In Sachsen ist die Gewalt rechtsradikal motiviert, in Frankreich spielt sie sich unter den Menschen mit Migrationshintergrund ab. Die Jugendlichen in Frankreich wollen Aufmerksamkeit. Dafür stecken sie dann auch die Autos der eigenen Nachbarn an. Hauptsache, irgendwie auffallen. Sonst kommt ja niemand raus zu ihnen, niemand sieht ihre Situation.
Trappes’ Bürgermeister Malandain setzt große Hoffnungen in Emmanuel Macron. Der französische Präsident hat Ende September einen Plan gegen Armut vorgestellt. Sein Ausweg aus Chancenlosigkeit und Gewalt: Bildung und Arbeit. Macron will die Zahl der Lehrer für die Primar- und Grundschulklassen in den Quartiers verdoppeln.
Ob dies allein hilft? Jallet von der staatlichen Verwaltung warnt: „Je besser ausgebildet die Jugendlichen aus den Banlieues sind, desto härter ist die Diskriminierung.“ Ein Quartier-Bewohner mit Hochschuldiplom werde noch häufiger abgelehnt als ein junger Arbeiter. Das Institut Montaigne hat ermittelt, dass Menschen mit dem Vornamen Fatima oder Mohamed zehnmal weniger Chancen auf ein Bewerbungsgespräch haben als eine Jacqueline oder ein Frédéric. Das größte Problem der Banlieue sind vielleicht nicht trostlose Wohntürme, sondern die Mauern in den Köpfen der Oberschicht.
Es ist ein sonniger Tag Ende September, der Gashersteller Air Liquide feiert die Eröffnung eines großen Forschungszentrums, nur zehn Kilometer von Trappes entfernt. Auf die Frage, ob seine 300 Wissenschaftler etwas für die Banlieue-Jugendlichen tun könnten, räumt Air-Liquide-Chef Benoît Potier offen ein: „Da haben wir uns erst wenig Gedanken gemacht, aber wir werden hier mit vielen Start-ups arbeiten, vielleicht können wir dem einen oder anderen Jugendlichen eine Chance geben.“
Malandain glaubt fest an seine Stadt. Dieses Jahr habe er 120 junge Talente ausgezeichnet, die ihr Bac, das französische Abitur, mit einem Prädikat abgeschlossen hätten. Und immer wieder schaffen es ein paar Leute aus dem Ort im Département Yvelines bis ganz nach oben: Der Filmstar Omar Sy, bekannt aus „Ziemlich beste Freunde“, gehört dazu. Der Komiker Djamel Debbouze ebenfalls. „Trappes hat hohes Potenzial“, sagt Malandain mit Stolz. Das würden früher oder später auch die Unternehmen erkennen.
Zur Not mit Druck. Macron hat die Chefs der 120 größten französischen Unternehmen aufgefordert, sich konkret für mehr Berufsausbildung in den Quartiers zu engagieren. Dazu gehört auch Air Liquide.
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