Report Irland erlebt ein kleines Wirtschaftswunder – trotz des Brexits

Der Hafen im Südosten Irlands hat die Zahl der Direktverbindungen in die EU innerhalb eines Jahres vervierfacht.
London Die Freude ist Glenn Care selbst am Telefon anzumerken. „Es läuft richtig gut“, sagt der Geschäftsführer von Rosslare Europort. Der Fährhafen im Südosten Irlands erlebt derzeit einen Brexit-Boom. Die Zahl der Lastwagen auf den Fähren zum europäischen Festland habe sich in den ersten beiden Monaten des Jahres verfünffacht, erzählt der Manager.
Vor dem Brexit lief der EU-Handel mit Irland überwiegend über Großbritannien. Die sogenannte „Landbrücke“ war der schnellste und günstigste Weg, um Waren nach Irland zu liefern und von dort zu bekommen. Seit Neujahr hat sich das geändert.
Die neuen Grenzkontrollen in Dublin und Calais schrecken viele Unternehmen ab. „Es gibt eine spürbare Verlagerung in den Lieferketten“, sagt Care. „Viele irische Firmen handeln jetzt direkt mit der EU.“
Der Hafen reagiert auf die steigende Nachfrage mit immer neuen Direktverbindungen. 36 wöchentliche Überfahrten wird es ab April geben – vor einem Jahr waren es noch zehn. Die Fährgesellschaften DFDS, Stena Line und Brittanny Ferries fahren vier französische Häfen (Cherbourg, Dünkirchen, St. Malo und Roscoff) sowie einen spanischen Hafen (Bilbao) an. Auch mit belgischen und niederländischen Häfen sei man im Gespräch, sagt Care. Die höhere Frequenz mache die Routen noch attraktiver, was wiederum weitere Kunden locke.
Rosslare ist einer der Brexit-Gewinner auf der grünen Insel. Und der Hafen ist bei Weitem nicht der einzige. Insgesamt steht Irland ökonomisch besser da, als man erwarten durfte.
Die Wirtschaft wuchs im vergangenen Jahr um 3,4 Prozent – trotz des Doppelschocks aus Corona und Brexit. Es ist ein einsamer Rekord im rezessionsgeplagten Europa. Der Grund: Die multinationalen Firmen im traditionell starken Exportsektor konnten den Absatz von Pharmaprodukten, IT-Dienstleistungen und Medizintechnik deutlich steigern.
Doch wie lange hält der erstaunlich positive Trend an? Schon in diesem Jahr dürfte der Brexit erste Spuren hinterlassen. Vor allem bei den vielen kleinen Unternehmen, für die der Nachbar Großbritannien der einzige Exportmarkt ist. Betroffen seien unter anderem Branchen wie Fischerei und Landwirtschaft, die sehr wichtig für die Arbeitsplätze außerhalb der Städte seien, sagt der konservative Vizepremier und Wirtschaftsminister Leo Varadkar im Handelsblatt-Interview. Die Regierung müsse diesen Sektoren daher helfen.
Brexit verschärft Zweiteilung der irischen Wirtschaft
Die neuen Handelsbarrieren schlagen sich bereits in den Zahlen nieder: Im Januar brachen die Importe aus Großbritannien laut der irischen Statistikbehörde um 65 Prozent ein. Die Exporte ins Königreich gingen weniger stark zurück (14 Prozent), weil Großbritannien seine Grenze während einer Übergangsphase noch nicht kontrolliert.
Am härtesten wurde der Lebensmittelhandel getroffen, denn hier fallen die meisten Checks an: Die Exporte von Großbritannien nach Irland fielen um 75 Prozent, in umgekehrter Richtung waren es 30 Prozent.
Die Januarzahlen sind durch die starke Lagerbildung der Unternehmen im Dezember und durch den Corona-Lockdown verzerrt. Der Handel werde sich in den kommenden Monaten wieder etwas erholen, meint die Volkswirtin Martina Lawless vom irischen Wirtschaftsforschungsinstitut ESRI. Langfristig werde er sich in beide Richtungen bei 20 bis 30 Prozent unter dem Vor-Brexit-Niveau einpendeln.
Laut ESRI-Prognose wird der Brexit die irische Wirtschaft in den kommenden zehn Jahren 2,5 Prozentpunkte Wachstum kosten. Die Hälfte davon sei in diesem Jahr zu erwarten, sagt Lawless.
Der Brexit verstärkt auch die Zweiteilung der irischen Wirtschaft. Einige Regionen, darunter der Fährhafen Rosslare und die Hauptstadt Dublin, profitieren vom Eigentor des Rivalen Großbritannien. So sind bereits 100 Finanzfirmen aus London nach Dublin umgezogen, 3000 Arbeitsplätze sind dadurch entstanden.
Irland kann sich bei den Konzernen aus den USA, Japan und Indien fortan als einziges englischsprachiges Tor zum europäischen Binnenmarkt empfehlen. Der Wachstumssektor der multinationalen Unternehmen, den die Regierung seit Jahrzehnten mit einem ultraniedrigen Körperschaftsteuersatz von 12,5 Prozent päppelt, dürfte weiteren Zulauf erhalten.
Auf der anderen Seite kämpfen viele kleine Unternehmen mit den zusätzlichen Handelsbarrieren in der Irischen See. Unter dem Strich sei der Brexit negativ für Irland, sagt der Ökonom Conor O’Toole vom ESRI. Denn er verschärfe die wirtschaftliche Kluft zwischen internationalen und nationalen Unternehmen sowie zwischen Hauptstadt und Provinz.
Irland: Langer Corona-Lockdown bremst Start ins Jahr
Während der Exportsektor im vergangenen Jahr wuchs, fallen die Daten außerhalb der Welt der Global Player ähnlich schlecht aus wie im Rest Europas. Die Binnennachfrage ging um neun Prozent zurück, die Investitionen um 32 Prozent. Die Arbeitslosenquote liegt zwar offiziell bei niedrigen 5,8 Prozent. Sie steigt aber auf 25 Prozent, wenn man die Arbeitnehmer mitzählt, die derzeit Corona-Hilfen vom Staat erhalten.
Der Corona-Lockdown seit Dezember, einer der längsten in Europa, hat den Start ins Jahr stark gebremst. Dennoch erwarten Ökonomen für das laufende Jahr ein Wachstum von vier Prozent. Die Wirtschaftsverbände hoffen auf einen Boom in der zweiten Jahreshälfte. „Wir rechnen mit einem starken Aufschwung“, sagt Danny McCoy vom Arbeitgeberverband IBEC. Er hat nur die Sorge, dass viele Firmen in der Gastronomie und im Tourismus nicht so lange durchhalten.

100 Finanzfirmen aus London sind bereits nach Dublin umgezogen, 3000 Arbeitsplätze sind dadurch entstanden.
Nach Corona und Brexit will die Regierung die Digitalisierung und den grünen Umbau der Wirtschaft vorantreiben. „Wir sehen den Klimawandel als unternehmerische Chance“, sagt Varadkar. Die Regierung will die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 51 Prozent senken.
Davon profitieren Firmen wie der Holzrahmenbauer Cygnum, der energieeffiziente Häuser herstellt. Die Auftragsbücher seien voll, sagt Gründer John Desmond. Am 5. April soll der Lockdown für den Bausektor enden, dann kann er wieder loslegen. Er wird vielleicht sogar zusätzliche Mitarbeiter einstellen.
Der Brexit ist vor diesem Hintergrund eine lästige Ablenkung. Zwar nimmt die Bedeutung des Handelspartners Großbritannien für Irland seit Jahren ab, doch viele Firmen sind nun gezwungen, ihre Lieferketten umzustellen. Zum Beispiel der Elektronikhersteller Ei Electronics: Der Marktführer liefert seine Rauchmelder jetzt über Rosslare direkt nach Dünkirchen. Der Seeweg kostet laut Firmengründer Mick Guinee 20 Prozent mehr als der alte Weg über die Landbrücke. Dafür spart sich die Firma sämtliche Zollformalitäten.
Laut dem Hafenmanager Care in Rosslare hat sich schon die Hälfte des Lastwagenverkehrs von der Landbrücke auf die direkten Seeverbindungen nach Europa verlagert. „Es ist eine neue Welt.“
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