Reportage An Polens Grenze zu Weißrussland – Im bleiernen Nebel des Unwissens

Die Lage der Migranten an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland verschlechtert sich im Winter zusehends.
Sokolka Wäre sie nicht so banal, so böte der Nebel die perfekte Metapher für den Ausnahmezustand in Polens äußerstem Osten. Der Nebel liegt auf den Straßen, legt sich über die Stoppelfelder und die menschenleeren Dörfer und umhüllt die endlos scheinenden Wälder in Richtung Weißrussland. Und er umgibt im übertragenen Sinne jene drei Kilometer breite Grenzzone auf polnischem Gebiet, in der seit September massive Freiheitsbeschränkungen gelten.
Seit Anfang Woche eine Gruppe von mehreren hundert Migranten versucht hat, die Grenzbefestigungen zu durchbrechen, verstärkte Polen seine Sicherheitskräfte erheblich: 15.000 Soldaten, Grenzschützerinnen und Polizisten stehen nun hinter den Stacheldrahtzäunen, patrouillieren im Umland und kontrollieren jedes Auto, das versucht, in die Zone hineinzufahren. Durchgelassen werden nur lokale Bewohner, die Horden von Journalisten, die praktisch über Nacht in der dünnbesiedelten Gegend gelandet sind, stehen an der Hauptstraße und filmen die Straßensperre. Immer wieder rasen lange Kolonnen von Militär- und Polizeifahrzeugen mit Blaulicht vorbei.
An einem einzigen Tag erleben wir auf den Nebenwegen rund um die grenznahe Kleinstadt Sokolka ein halbes Dutzend Kontrollen durch behelmte und vermummte Männer und Frauen in schusssicheren Westen, allesamt mit Maschinenpistolen bewaffnet. Die Beamten, die aus ganz Polen zusammengezogen wurden, sind ebenso furchteinflößend wie betont freundlich-korrekt. Manche wirken aber etwas verloren: Einer sagt im Dorf Czuprynowo, er habe noch keine Flüchtlinge gesehen und erfahre von den neusten Entwicklungen auch nur aus den Medien.
Vor der Kirche von Kundzin erzählt ein älterer Dorfbewohner, der nur seinen Vornamen – Lech – angeben will, wie in der Nacht davor sein Garten plötzlich taghell vom Scheinwerfer eines Helikopters erleuchtet gewesen sei. „Ich bin ja ein ruhiger Typ, deshalb ist das nicht so schlimm“, meint er lakonisch. Störend findet er es dennoch. Am meisten ärgert ihn, dass diese Woche praktisch ohne Vorwarnung die Schule in Kuznica geschlossen wurde und die Kinder zu Hause bleiben müssen.
Lech hat in den letzten Wochen auch einzelne Migranten gesehen, wobei sich ein Mann besonders in sein Gedächtnis eingeprägt hat, der mit nacktem Oberkörper und einem einzelnen Buch in der Hand ein Restaurant betrat und schnell wieder verschwand. Weder er noch seine Bekannten gehören zu den zahlreichen Menschen in der Region, die den Migranten aktiv helfen. Sie gehören vielmehr zu jener Mehrheit, die dem Geschehen relativ passiv zuschaut.

Migranten haben ihre Habseligkeiten zurückgelassen.
Auch die Jugendlichen, die in Sokolka als Vertreter ihrer Schule darauf warten, anlässlich des Unabhängigkeitstags am 11. November einen Kranz am Pilsudski-Denkmal niederzulegen, wirken distanziert, obwohl sie sagen, dass ihnen die Flüchtlinge leid täten. Ihre Freunde in der Grenzzone könne sie noch immer besuchen, meint die 18-jährige Patrycja Wroblewska, „aber es ist schwierig, verlässliche Informationen zu erhalten“.
Als sie diese Woche von einer Schulreise aus Warschau zurückgekommen sei, seien Grenzpolizisten in ihrer Turnhalle einquartiert gewesen. Seit September habe sie häufig Flüchtlinge gesehen, unter anderem während ihrer Autofahrstunden. „Die sind einfach über die Straße gerannt, wie Wild“, erzählt sie. Doch nun seien diese Menschen wie vom Erdboden verschluckt. Tatsächlich, dies bestätigen auch Hilfsorganisationen, hat das enorme Sicherheitsdispositiv dazu geführt, dass auf dem polnischen Abschnitt nur noch sehr wenige Menschen über die Grenze kommen.
Härte und Hilfe
In der Region sind die Flüchtlinge, die großteils aus dem kurdischen Teilstaat im Nordirak stammen, aber noch immer. Etwa 2000 von ihnen stecken am geschlossenen Grenzübergang von Kuznica im Niemandsland fest. Weitere halten sich in den Wäldern auf, die meisten wohl auf der weißrussischen Seite der Grenze. Dort sind sie der Willkür der Beamten ausgesetzt, welche die Flüchtenden laut deren Berichten an den Grenzzaun führen und sich oft finanziell an ihnen bereichern.
Polen, daraus macht Warschau längst kein Geheimnis mehr, treibt die Menschen in Massen zurück. Das Parlament hat im Oktober ein Gesetz verabschiedet, das illegal Einreisende dazu verpflichtet, das Land zu verlassen. Wie ein hochrangiger Regierungsberater bei einem konspirativen spätabendlichen Treffen vor der Orlen-Tankstelle von Sokolka klarstellt, genießt die Praxis nicht nur breite innenpolitische, sondern auch europäische Unterstützung. Lukaschenko habe sich bei seiner Eskalation Anfang Woche mit den von ihm inszenierten Grenzstürmen politisch völlig verschätzt.
Die Regierung sieht Polen nicht nur als östlichen Frontstaat, der Europa vor der Erpressung durch Weißrussland bewahrt, sondern auch als Kämpfer in einem „hybriden Krieg“. Polen nimmt mit seiner kompromisslosen Linie in Kauf, dass Tausende unter elendiglichen Bedingungen in den Wäldern vegetieren. Am Mittwoch starb ein 14-Jähriger – das achte Todesopfer seit September.

Die polnische Regierung setzt auf Abschreckung.
Klar ist allerdings auch, dass der kalte und feuchte Herbst längst zu einer humanitären Katastrophe geführt hätte, wenn die Sicherheitsbehörden hinter der harten Front nicht erhebliche Hilfsbereitschaft verstecken würden. Inoffiziell wird denn auch bestätigt, dass beide Seiten die Flüchtlinge mit Esswaren und warmen Kleidern unterstützen. Regierungsquellen behaupten inoffiziell, dass Kinder von der Push-back-Politik ausgenommen sind. Flüchtlinge und Hilfsorganisationen vor Ort erzählen aber das Gegenteil.
Bevor uns der Wachsoldat wegschickt, sehen wir im Fenster einer Kaserne der Grenzwache in Michalowo Spielzeuge; im Dorf heißt es, verschiedene Räume seien nun für Mütter und ihren Nachwuchs geräumt worden. Eine Bitte um Stellungnahme schlägt die Behörde aus. Sie kommuniziert lediglich die Zahl der „verhinderten Grenzübertritte“.
Allen Unannehmlichkeiten zum Trotz gibt es kaum öffentlich geäußerte Unzufriedenheit in der Region. Vielmehr sind jene, welche die Politik ablehnen, vollauf mit Hilfeleistungen beschäftigt. Dass die Regierung nicht plant, bald Kräfte abzuziehen, hat sie ebenso klargemacht wie dass eine weitere Verlängerung des Ausnahmezustands zu erwarten ist. Die Kritik an der Intransparenz innerhalb der Zone beeindruckt sie wenig. Der Nebel des Halbwissens gibt ihr mehr Bewegungsfreiheit.
Auch die Flüchtlinge richten sich offenkundig auf einen langen Winter an der Grenze ein: Sie haben in den letzten Tagen damit begonnen, bei Kuznica eine Zeltstadt inklusive festerer Strukturen aus Holz zu errichten. Die Lebensbedingungen werden äußerst prekär bleiben.
Mitarbeit: Katarzyna Piasecka
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