Russland und die Flüchtlinge Warum Putin Europa für moralisch verfault hält

Der russische Präsident Putin will von Russlands Problemen ablenken – und macht dafür Europa zum Sündenbock.
Moskau Der Fall ist mehr als mehr widersprüchlich – und doch kommt er den russischen Medien wie gerufen: Die 13-jährige Lisa aus einer russlanddeutschen Familie in Berlin verschwand am 11. Januar und wurde von ihrer Familie als vermisst gemeldet. Kurz darauf tauchte sie wieder auf – und berichtete von einer Entführung und Vergewaltigung durch Migranten. Laut Polizei hat das Mädchen die Vergewaltigung später wieder zurückgenommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen sexuellen Missbrauchs, da Geschlechtsverkehr mit einer 13-Jährigen auch dann strafbar ist, wenn er einvernehmlich erfolgt.
Doch die Moskauer Presse hat den „Fall Lisa“ für sich entdeckt – und ausgeschlachtet, denn es handelt sich um ein Mädchen aus der russischsprachigen Gemeinde in Deutschland. Mit der Beschreibung einer Gruppenvergewaltigung einer Minderjährigen mit russischen Wurzeln durch Flüchtlinge lassen sich jegliche Emotionen in der Heimat wecken. Und sie eignet sich hervorragend für Propaganda.
Der Fall traf nicht nur die Russen in Russland, sondern auch die in Deutschland: Die Reportage des staatlichen „Ersten Kanals“ über den Fall schlug auch bei der russlanddeutschen Gemeinde in Berlin Wellen, die oft russisches Fernsehen schaut. Es kam zu Demonstrationen in Berlin, Bayern und Baden-Württemberg.
Doch in den russischen TV-Medien wird daraus ein Skandal um die die Vertuschungspolitik deutscher Behörden. Angeblich weigere sich die Polizei gar nach den Tätern zu suchen, um den Anschein zu wahren, dass in Deutschland alles in Ordnung sei. Es gehe nicht um einen Einzelfall, in Deutschland sei man nicht mehr sicher, so der Tenor in Moskau.
Der Vorwurf wird inzwischen auch offiziell wiederholt: Außenminister Sergej Lawrow erklärte am Dienstag in einer Pressekonferenz, dass das Mädchen bestimmt nicht freiwillig verschwunden sei. „Ich hoffe, dass sich solche Fälle wie mit unserem Mädchen Lisa nicht wiederholen, wo die Nachricht, dass sie verschwunden ist, aus irgendwelchen Gründen lange geheim gehalten wurde“, sagte er. Die Probleme mit den Migranten dürften nicht dazu führen, dass die EU „politisch korrekt die Wirklichkeit wegen irgendwelcher innenpolitischer Ziele überlackiert“, so der Minister.
Das passt gut ins Bild der Russen. Europa gilt als moralisch verfault, seine Toleranz – vor allem gegenüber Trans- und Homosexuelle – als sündhaft und abartig, Offenheit und Multikulturalismus als Schwäche.
Der griechischen Sage nach musste sich Zeus am Strand von Sidon, einer Stadt in Kleinasien, in einen Stier verwandeln, um die schöne Europa zu entführen – heute würde man wohl sagen – abzuschleppen. Nicht etwa, weil er Europas Widerstand zu fürchten hatte, sondern um seine eigene Gattin, die eifersüchtige Hera, auszutricksen. Dieses Europa-Bild lebt nun in den russischen Medien wieder auf: Schwach, hilf- und willenlos – speziell gegenüber Flüchtlingen aus dem Nahen Osten.