Russlands Premier im Exklusiv-Interview: Medwedjew warnt vor „neuem Weltkrieg“
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Russlands Premier im Exklusiv-InterviewMedwedjew warnt vor „neuem Weltkrieg“
Bodentruppen in Syrien? Der russische Premierminister Dmitri Medwedjew warnt im exklusiven Handelsblatt-Interview für diesen Fall sogar vor einem „neuen Weltkrieg“. Zudem greift er Merkel für ihre Flüchtlingspolitik an und fordert Europa auf, die Sanktionen zu beenden.
„Der Handel zwischen Deutschland und Russland ist um 40 Prozent eingebrochen.“
(Foto: Fyodor Savintsev für Handelsblatt)
Moskau Angesichts der Syrien-Krise warnt Medwedjew eindringlich: „Die Amerikaner und unsere arabischen Partner müssen es sich gut überlegen: Wollen sie einen permanenten Krieg?“, sagte der russische Regierungschef dem Handelsblatt. Ein solcher Krieg sei nicht schnell zu gewinnen. „So etwas ist unmöglich, besonders in der arabischen Welt. Dort kämpfen alle gegen alle“, erklärte Medwedjew, der die russische Delegation auf der Münchner Sicherheitskonferenz an diesem Wochenende anführt. Nachfolgend lesen Sie das komplette Interview im Wortlaut.
Wenn Russlands Präsident Wladimir Putin Gesprächsbedarf hat, muss auch Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew seinen Terminkalender ändern. So auch am Mittwoch dieser Woche, als Putin kurzfristig den milliardenschweren Antikrisenplan für Russland mit ihm besprechen wollte. Zum Interview mit dem Handelsblatt flog er schließlich per Hubschrauber in seine Regierungsresidenz Gorki-9 westlich von Moskau. Eine Stunde nahm sich der Regierungschef Zeit, um über die geopolitischen Krisen zu diskutieren.
Herr Ministerpräsident, die Welt ist gefangen in geopolitischen Krisen, für die es bisher keine Lösung gibt – Ukraine, Syrien, Türkei. Ist die Unordnung die neue Weltordnung? Die Welt ist sehr brüchig, wir erleben nicht gerade die beste Phase in Fragen der internationalen Sicherheit. Jedenfalls kann ich aus meinen Erfahrungen sagen, dass wir in diesem Sinne schon bessere Zeiten erlebt haben.
Was hat sich verändert? Das hängt mit einer ganzen Menge von Ursachen zusammen. Erstens haben sich manche Gefahren, vor denen unser Land noch vor zehn oder 15 Jahren warnte, aus regionalen in globale Krisen verwandelt. Ich erinnere mich daran, wie wir gegen den Terrorismus im Kaukasus kämpften. Damals sagten wir, dass die Menschen, die auf unsere Soldaten und Polizisten schossen, Vertreter von religiös-extremistischen Organisationen aus dem Ausland waren, aber man hörte uns nicht zu und sagte, das wären die Menschen, die mit der Regierung unzufrieden wären, die die Korruption satthätten, die um ihre Freiheit kämpfen würden. Damals wurden sie in Extremisten und Rebellen getrennt. Aber lassen Sie uns doch ehrlich sagen: Wir fanden bei ihnen Pässe ganz verschiedener Länder, darunter beispielsweise auch türkische Pässe. In einigen Ländern, vor allem im Nahen Osten, war es schon damals gefährlich, durch die Straßen zu gehen.
Woran machen Sie das fest? Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Eindruck von einem Israel-Besuch. Das war ungefähr im Jahr 1993, und damals befasste ich mich noch nicht mit der Politik, sondern war Rechtsanwalt und Dozent an der Jura-Fakultät. Wir wollten einfach dieses Land besuchen. Aber als wir dort Menschen mit Waffen herumlaufen sahen, die uns sagten: „Passt auf, es kann jederzeit knallen“, hatten wir einen wirklich schweren Eindruck. Ich dachte damals: Sie leben unter solchen Bedingungen! Sie müssen ja richtige Helden sein! Und jetzt gilt das leider für ganz Europa. Das ist wohl das größte Unheil. Man kann sich inzwischen wohl in keinem Land der Welt in Sicherheit fühlen. Der Terrorismus ist global geworden. Das ist keine kriminelle Beschäftigung mehr, die gewisse, darunter extremistische, Ziele verfolgt, sondern inzwischen etwas ganz Spezielles. In manchen Ländern halten sich die Terroristen für legitime Machthaber und regieren diese Länder mit terroristischen Methoden. Wem das nicht gefällt, den können sie enthaupten oder zerstückeln. Und warum tun sie das? Weil es gewisse religiöse Dogmen gibt, denen sie folgen, oder einfach, weil sie so etwas für richtig halten. Das ist die größte Gefahr, die die heutige Menschheit nicht in den Griff bekommt.
Wie gefährlich ist die Bedrohung durch den Terrorismus für Europa? Der europäische Kontinent hat genug eigene Probleme. Das sind vor allem wirtschaftliche Probleme, gegen die wir früher sogar gemeinsam kämpften. Ich erinnere mich sehr gut daran, was 2008 und 2009 passierte, als wir zum ersten Mal zu einem G20-Treffen reisen sollten. Damals sagte mir der scheidende US-Präsident George Bush, dass die Wall Street allein daran schuld sei. Und der neue Präsident – Barack Obama wurde gerade gewählt – sagte: „Schaut mal, wir sitzen am G20-Tisch und können verhandeln. Hier sind unterschiedliche Länder vertreten: Amerika, Russland, China – und wir sprechen gemeinsam über diese Probleme.“ Das funktionierte wirklich, aber seitdem ist schon leider viel Wasser den Berg hinuntergeflossen. Bei G20-Veranstaltungen sehen wir uns nach wie vor, aber das sind eher rituelle Treffen. Es werden Empfehlungen vereinbart, die aber nicht immer erfüllt werden. Aber wirklich intensive Kontakte gibt es nicht mehr – alles wurde zerstört. Ob das gut ist? Ich denke, das ist schlecht für unsere Länder, unsere Völker und unsere Wirtschaft. Es ist eine Situation entstanden, in der die Europäische Union und Russland die gegenseitigen Kontakte vollständig oder fast komplett einstellten. Mit Deutschland unterhalten wir zwar nach wie vor sehr enge Kontakte, aber auch sie sind nicht mehr die alten. Der Handel zwischen Deutschland und Russland ist um 40 Prozent eingebrochen. Hat jemand davon profitiert? Das ist eine große Frage.
Bundeskanzlerin Merkel hat wie kaum eine andere Regierungschefin den Kontakt zu Russlands Präsident Wladimir Putin gesucht. Ja, unser Präsident spricht ständig mit Ihrer Bundeskanzlerin. Aber ihre Gespräche sind einem sehr engen Kreis von Fragen gewidmet – eigentlich nur der Situation in der Ukraine. Das ist sicherlich ein großes europäisches Problem, aber das ist auch schon alles. In einigen Fällen sprechen sie auch über die Syrien-Problematik. Doch den früheren komplexen Dialog gibt es nicht mehr. Ich habe mich daran auch beteiligt und kann das bestätigen. Und ich kann feststellen, dass die Welt nicht besser geworden ist, dass es mittlerweile mehr Probleme gibt und dass ganze Länder nicht mehr miteinander sprechen.
Es hat mit Obama einen „Neustart“ gegeben, welcher von beiden Seiten offenbar nicht genutzt worden ist. Wie lässt sich die Spaltung zwischen dem Westen und Russland wieder überwinden? Ich denke, dass es nicht unsere Schuld ist. Wir haben nie den Kontakt abgebrochen und waren bereit, in ganz verschiedenen Formaten zu sprechen. Aber sowohl die Europäische Union als auch die Nato haben die Kontakte mit uns eingestellt. Deshalb kann ich im Vorfeld der Münchener Konferenz feststellen: Unsere Welt ist gefährlicher und schlechter geworden.
Vita Dmitrij Medwedjew
Nach Jugend und Jurastudium in St. Petersburg machte der 1965 geborene Professorensohn Dmitrij Medwedjew im Kreml Karriere, zunächst unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin, dann unter dessen Nachfolger Wladimir Putin. Als Putin laut Verfassung 2008 nicht für eine dritte Amtszeit als Präsident kandidieren konnte, trat stattdessen Medwedjew bei den Wahlen an – mit Unterstützung Putins. Nach einer Amtszeit als Präsident empfahl Medwedjew dann wiederum Putin als seinen Nachfolger und wurde selbst 2012 Ministerpräsident – ein Amt, das er bis heute innehat.
Medwedjew gilt als Vertreter der Reformfraktion im Kreml, die für weniger Staatseinfluss auf die Wirtschaft plädiert. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Medwedjew ist Fan des Fußballklubs Zenit St. Petersburg und hört am liebsten Classic-Rock von Led Zeppelin bis Deep Purple.
Europa hat nach der Annexion der Krim das Vertrauen in Russland verloren. Überrascht Sie das? Ich will gar nicht bestreiten, dass die Vertrauensfrage die Schlüsselfrage ist. Aber lassen Sie uns klarstellen, wie dieses Vertrauen entsteht und wie wertvoll es ist. Als die Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 und 2009 ausbrach, gab es ebenfalls eine Vertrauenskrise. Aber wie lässt sie sich überwinden? Nur durch Kontakte. Und unsere Kontakte mit vielen europäischen Ländern und den USA liegen entweder völlig auf Eis oder werden kaum noch gepflegt. Vertrauen kann nicht binnen weniger Wochen entstehen. Im Grunde hatte es 25 Jahre seit der Entstehung des neuen Russlands auf Basis neuer Prinzipien im Jahr 1991 gedauert. Irgendwann hatte ich schon den Eindruck, dass wir richtige Freunde waren, dass wir im direkten und übertragenen Sinne eine Sprache sprechen – egal ob Russisch, Deutsch oder Englisch, wir verstanden uns sehr gut. Doch davon ist nichts geblieben. Wir können natürlich verschiedene Ereignisse, darunter in der Ukraine, unterschiedlich bewerten. Aber warum mussten wir alle Kontakte – ob politische oder wirtschaftliche – zum Scheitern bringen? Sehen Sie nur: Die Sowjetunion war wohl nicht der einfachste Partner und auch nicht der beste Freund für Europa und auch andere Länder. Aber niemals – selbst in schlimmsten Situationen wie der Kubakrise oder dem Krieg in Afghanistan – wurde unserer Parlamentsführung die Einreise verboten. Wir könnten jetzt den „Eisernen Vorhang“ wieder fallen lassen und sagen, dass wir jetzt keine Kontakte mehr pflegen. Was getan wurde, ist meines Erachtens ein fataler politischer Fehler. Das wurde falsch gemacht, und niemand profitierte davon. Wir stehen auf unserer Position beispielsweise zur Situation in der Ukraine und zum Schicksal der Krim, während die europäischen Länder auf ihrer Position stehen. Aber wir sprechen einfach nicht mehr.
Wie lässt sich diese tiefe Krise überwinden, bevor es zu einem neuen Kalten Krieg kommt? Als Mensch, der zu praktischen Schritten neigt, muss ich sagen, dass es nur einen Ausweg gibt: unsere Kontakte neu zu knüpfen, gewisse Stereotype zu überwinden und vernünftige Kompromisse einzugehen. Aber wie gesagt, es liegt größtenteils nicht an uns, denn man sagte uns einfach: Ihr seid die Schlechten, ihr trefft Entscheidungen außerhalb der Völkerrechtsnormen, und wir werden euch nirgendwohin einladen, werden mit euch nicht mehr handeln und werden Sanktionen gegen euch verhängen. Ich habe das alles eben aufgezählt – aber hat sich denn Russlands Position deshalb im Geringsten verändert? Wir befinden uns leider auf einem schlechten Weg. Einen großen Teil dieses Wegs müssen unsere europäischen Partner gehen, vor allem die Führung der EU-Länder – das betone ich extra, um jegliche Missverständnisse zu vermeiden. Obwohl die EU-Länder Nato-Mitglieder sind, obwohl Amerika der größte Akteur auf der Welt ist, hat die Europäische Union ihr eigenes Schicksal, und die Führung der europäischen Länder muss sich entscheiden, ob sie die Beziehungen mit Russland wiederherstellen will oder nicht. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat kürzlich gesagt, man müsste jetzt schon Russland stärker entgegenkommen, wo die ersten Teile des Minsker Abkommens erfüllt wurden. Die Verlängerung der Russland-Sanktionen hält er für einen Fehler.
Was erwarten Sie von den westlichen Staaten? Gerhard Schröder hat absolut recht – das war ein Fehler. Er ist ein sehr erfahrener Mensch, er leitete die Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Doch es geht nicht nur darum. Die europäischen Länder müssen jetzt einfach zusammenkommen und nicht einfache Entscheidungen treffen. Die Europäische Union ist nicht monolithisch, wir alle verstehen dies sehr gut. Es gibt Länder, die gewisse Phantom-Schmerzen in Bezug auf die Sowjetunion haben, sie verdächtigen immer Russland bei irgendwelchen Dingen. Doch Deutschland, so hoffe ich, verdächtigt Russland bei nichts. Wir haben mit Ihnen eine Geschichte der Beziehungen, bei denen es blutige Kriege des 20. Jahrhunderts gab, und wir wurden dennoch zu engsten Partnern. Deswegen denke ich, dass die Einschätzungen richtig sind und man den Mut finden sollte, dies zuzugeben. Präsident Putin sagte dies mehrmals, ich sagte dies mehrmals – es gibt keine Alternative zum Minsker Abkommen. Aus einem einfachen Grund – wir sind auch praktische Menschen, wir haben nichts anderes. Es wurde ein Dokument entwickelt, das de facto eine Roadmap ist, nach der man sich bewegen soll. Wir folgen dieser Roadmap, mal schneller, mal langsamer, doch Gott sei Dank gibt es zumindest keinen aktiven Schusswechsel mehr. Es wurde kein einziger Punkt zur politischen Regelung erfüllt. Doch das hängt nicht von Russland ab.
Proteste in der ukrainischen Hauptstadt Kiew
Moskau erweitert seinen Einfluss.
(Foto: AFP)
Sondern? Unsere europäischen Partner hören uns zu, im Unterschied zu denen, die in Kiew Entscheidungen treffen. Die Frage nach der Durchführung der Wahlen, Amnestie, dem künftigen Aufbau der Ukraine – das sind nicht unsere Fragen, nicht die Fragen Frankreichs, Deutschlands, das sind die Fragen der Ukraine. Dennoch werden diese Prozesse blockiert. Jetzt laufen Verhandlungen, an die sich auch die Amerikaner angeschlossen haben. Ich denke, dass es nicht schlecht ist, weil, ehrlich gesagt, Kiew sehr aufmerksam die Worte verfolgt, die in Washington geäußert werden. Ein Teil der Führung des Landes schaut im gewissen Sinne auf Europa und der andere Teil auf Amerika. Jedenfalls müssen die Minsker Abkommen erfüllt werden, wir haben nichts anderes. Aber der Ball liegt jetzt auf der ukrainischen Seite.
Wäre es nicht ein Zeichen des guten Willens, wenn Russland in der Sanktionsfrage von sich aus zum Beispiel bestimmte Importverbote aufhebt, um Europa die Entscheidung zur Milderung der Sanktionen zu erleichtern? Wissen Sie, diese Frage bezüglich der Verbote hat einen dämonischen Charakter. Erstens kennen Sie sehr gut unser Land, wir erleben derzeit keine einfache Wirtschaftsperiode, doch es ist keine Katastrophe zu erkennen. Wir haben Schwierigkeiten, die vor allem mit einem kritischen Rückgang der Energieträgerpreise verbunden sind, von denen unser Staatshaushalt in vielerlei Hinsicht abhängt. Gegenseitige Handelsbeschränkungen haben selbstverständlich ihren Einfluss. Aber nicht wir haben diese Beschränkungen eingeführt. Wir haben Gegenmaßnahmen ergriffen. Das war der Gegenschritt, Sie wissen das. Sagen wir es direkt: Diese Gegenmaßnahmen beschränken uns bei einigen Dingen, doch sie helfen uns auch. Ich befasse mich seit vielen Jahren in der Regierung und bereits früher als Präsident mit der Landwirtschaft. Wir waren in einer sehr schwierigen Lage, obwohl Russland ein Agrarland ist und die weltweit größten Ackerfelder hat. Jetzt ernähren wir uns fast völlig autonom. Es entstand eine Situation, in der unsere Bauern, unser Großlandwirte daran glaubten, dass sie selbst Produkte herstellen können, dass sie keine Konkurrenz zu Dumpingpreisen aus einigen europäischen Ländern haben und ihre Kapazitäten ausbauen. Wir haben im vergangenen Jahr rund 240 bis 250 Milliarden Rubel in die Förderung der Landwirtschaft ausgegeben, auch in diesem Jahr werden wir investieren. Wir sehen ein großes Potenzial. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir bewusst darauf gestimmt sind, die Sanktionen zu verlängern. Die europäischen Länder müssen einfach verstehen, dass, wie man bei uns sagt, der heilige Ort nie leer bleibt, er wird mit Sicherheit von jemandem gefüllt.
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