Schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon Ein Herz für Europa

Die Gunst der Stunde im Brexit-Chaos genutzt.
London, Brüssel Sie braucht nicht viel zu sagen. Schon allein das blaue Kostüm, das Schottlands Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon an diesem Tag bei ihrem Besuch in Brüssel trägt und das sich kaum vom Blau der Europaflagge unterscheidet, sagt mehr als tausend Worte. Die Frau, die sonst Rot den Vorzug gibt, sich aber stets bewusst ist, dass Kleidung von Frauen im Politikbetrieb kritisch beäugt und gedeutet wird, fasst ihre Botschaft in der Europahauptstadt später so zusammen: „Ich möchte, dass die Menschen verstehen, dass Schottland – im Gegensatz zu anderen Teilen Großbritanniens – die EU nicht verlassen will.“
Nicola Sturgeon wird in der Regel nicht laut, spielt sich auch nicht in den Vordergrund. Spontane Kommentare, die sie später zurücknehmen oder korrigieren müsste, sind ihre Sache nie gewesen – ebenso wenig wie unüberlegte Schritte. Sie ist eher für ihre Reserviertheit bekannt. Umso erstaunlicher ist es daher, wie die Ministerpräsidentin Schottlands seit Ende vergangener Woche die Debatte nach dem Referendum über Großbritanniens Abschied aus der EU vorantreibt.
Sie ist die wohl Einzige in der britischen Politik, die Führungsqualitäten und Handlungsfähigkeit zeigt. Während die regierenden Tories und die oppositionelle Labour-Partei mit sich selbst beschäftigt sind, baut die 45-Jährige politisches Kapital auf, am Mittwoch etwa bei einem Treffen mit Martin Schulz, dem Präsidenten des Europaparlaments, und anderen Europapolitikern.
Sie wird herzlich empfangen in Europas Hauptstadt – jedenfalls von Schulz und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Zugleich aber werden ihr Grenzen aufgezeigt: Sturgeon ist nicht eingeladen in die Runde der 27 Staats- und Regierungschefs, die am Mittwoch erstmals ohne Großbritannien tagen. „Aus politischen Gründen ausgeschlossen“, sagt ein EU-Diplomat, denn alles andere hätte einen Affront gegen London bedeutet. Der Chef der Runde, Ratspräsident Donald Tusk, lehnte auch ein bilaterales Treffen mit Sturgeon als „nicht angemessen“ ab.
Doch auch ohne eine solche Begegnung hat Sturgeon genug Gelegenheit, um der Welt deutlich zu machen: Schottland will weiterhin Teil der EU bleiben. Unklar ist allerdings, wie sie das erreichen kann. Sie hat zuletzt die Möglichkeit in die Diskussion gebracht, dass das schottische Parlament gegen einen Brexit stimmen und so den britischen Austritt aus der Staatengemeinschaft stoppen könnte. Verfassungsexperten sind allerdings skeptisch, ob das funktioniert. Die gesetzliche Grundlage ist kompliziert, und letztendlich könnte das britische Parlament die Schotten in der Sache überstimmen.
Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland wäre die zweite Option. Doch auch dafür bräuchte die Region Londons Zustimmung. Und so bleibt Sturgeon derzeit vor allem dies: immer wieder daran zu erinnern, dass Schottland mehrheitlich für den Status quo votierte, und mit sanfter Gewalt darauf zu drängen, dass die schottischen Interessen in künftigen Gesprächen zwischen Brüssel und London besonders berücksichtigt werden sollten.
Mit viel Nachdruck, aber umsichtig – so hat Sturgeon auch ihre politische Karriere vorangetrieben. Mit 16 Jahren ist sie Mitglied der schottischen Nationalpartei SNP geworden. Auslöser seien die sozialen Ungleichheiten gewesen, für die sie die Regierung Margaret Thatchers verantwortlich machte. Später hat Sturgeon Jura studiert, als Anwältin gearbeitet, bevor sie sich mit Ende 20 auf die Politik konzentrierte.
Im Herbst 2014 nach dem Unabhängigkeitsreferendum Schottlands, bei dem 55 Prozent für die weitere Zugehörigkeit zum Königreich stimmten, übernahm Stur‧geon den SNP-Parteivorsitz und stieg zur Ministerpräsidentin auf.
Die Zeitung „The Scotsman“ adelte Sturgeon bereits vor einiger Zeit zur „eindrucksvollsten Politikerin“ Großbritanniens. Dem schließen sich jetzt auch einige Politiker und Beobachter in London an: Sie habe die Gunst der Stunde im Brexit-Chaos genutzt, heißt es. Sie habe verantwortungsbewusstes Handeln an den Tag gelegt, mit dem sie sich alle Optionen offenhalte.
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