Serie „Global Risk“ Was Spaniens Wirtschaftsboom vergiftet

Spanien hat sich nachhaltig von seiner Wirtschaftskrise erholt. Doch das Land hat noch immer mit Problemen zu kämpfen.
Madrid Den Bauarbeitern in der Calle Santa Engracia steht der Schweiß auf der Stirn. Mit Hochdruck arbeiten sie daran, das historische Eckhaus im edlen Madrider Stadtteil Almagro zu entkernen. Jahrelang stand es leer, jetzt sollen in dem Altbau unweit der deutschen Botschaft Luxuswohnungen mit einem Quadratmeterpreis von rund 8.000 Euro geschaffen werden. Und diese finden Abnehmer.
Spanien hat sich nachhaltig von seiner Wirtschaftskrise 2008 bis 2013 erholt. Seit vier Jahren wächst das Land deutlich stärker als der EU-Durchschnitt. Die Banken sind saniert, die Immobilienbranche ist auf Normalmaß geschrumpft, und die Exporte der Unternehmen sind deutlich gestiegen.
Doch Madrid hat den Boom nicht genutzt, um für die Zukunft vorzusorgen. Haushaltsdefizit und Staatsschulden gehören ebenso wie die Arbeitslosigkeit zu den höchsten in Europa. Kommt die nächste Krise, kann Spanien kaum gegensteuern. Das Land ist verwundbar.
Die aktuell größte Schwäche ist der Schuldenberg. „Das, was mir am meisten Sorgen macht, sind das hohe Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung von fast 100 Prozent“, sagt José Luis Feito, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts IEE, das dem Arbeitgeberlager angehört. „Damit fehlt der Regierung jede Handhabe, um in der nächsten Krise korrigierend einzugreifen.“
Zwar ist das Haushaltsdefizit von elf Prozent im Jahr 2009 auf zuletzt 2,7 Prozent gesunken. Das ist aber vor allem dem starken Wachstum zu verdanken. Das strukturelle Defizit, bei dem Konjunktureffekte wie höhere Arbeitslosenzahlungen in Krisenzeiten oder höhere Staatseinnahmen in Boomzeiten herausgerechnet werden, hat sich nicht verbessert. Es ist mit 3,1 Prozent das höchste der Euro-Zone.
Der Schuldenberg Spaniens nimmt nicht ab, sondern zu. Und der Schuldendienst wird teurer, wenn mittelfristig die Zinsen wieder ansteigen. Das schmälert den finanziellen Spielraum des Staates in anderen Bereichen. Zudem liegt ein Großteil der spanischen Staatsschulden in ausländischen Händen. Das ist an sich nichts Schlechtes, weil es das Vertrauen von internationalen Investoren zeigt.
Doch in Krisenzeiten macht es das Land anfällig für Ansteckungseffekte. An den Kapitalmärkten treten häufig Herdeneffekte auf, so dass eine Zuspitzung der Krise in Italien auch Spanien in Mitleidenschaft ziehen könnte.
Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch
Eine weitere Schwäche ist der Arbeitsmarkt. Spanien hat mit rund 15 Prozent die zweithöchste Arbeitslosenquote der EU hinter Griechenland. Bei den Jugendlichen liegt sie sogar bei 34 Prozent. Das ist deutlich besser als 27 und 57 Prozent vor sechs Jahren. Und das ist zu einem hohen Maß den Arbeitsmarktreformen aus dem Krisenjahr 2012 zu verdanken.
Die Reform gibt Unternehmen die Möglichkeit, Löhne, Arbeitszeiten und -umfang mit dem Betriebsrat zu verhandeln, ohne sich an den geltenden Manteltarifvertrag zu halten. Firmen können so auf ihre eigene Situation reagieren, statt in Sippenhaft der Branche genommen zu werden.
Das hat dazu geführt, dass Unternehmen weniger Leute entlassen, dafür aber die Gehälter deutlich gesenkt haben. Sie wurden damit wettbewerbsfähiger und haben ihren Exportanteil erheblich gesteigert. Spaniens Wirtschaft ist von 2015 bis 2017 jährlich um mehr als drei Prozent gewachsen und hat seit 2014 Jahr für Jahr rund eine halbe Million neue Jobs geschaffen.
Doch die Reform ist in Spanien umstritten, denn die niedrigen Gehälter sorgen dafür, dass viele Spanier von ihrem Verdienst allein kaum leben und sich etwa noch nicht einmal eine eigene Wohnung leisten können. Der sozialistische Ministerpräsident Pedro Sánchez will deshalb die „schädlichsten Aspekte der Arbeitsmarktreform“ rückgängig machen.
Konkreter wird er nicht, meint aber wohl, so die Interpretation in Spanien, das Primat des Betriebsrats. Zudem hat Sánchez bereits den Mindestlohn um 22 Prozent angehoben, damit der starke Aufschwung allen Spaniern zugutekommt.
Die Absicht ist lobenswert, aber eine Kehrtwende bei der Arbeitsmarktreform ist gefährlich. Eine deutliche Anhebung des Mindestlohns könnte dazu führen, dass Unternehmen wieder Stellen streichen. „Es macht mir Sorgen, dass wir nicht mehr über die Schaffung von Arbeitsplätzen reden, sondern schon wieder über hochwertige Arbeitsplätze“, kritisiert auch Ökonom Fernando Fernández von der Madrider Business-School (IE). „Es scheint, als wäre es besser, arbeitslos zu sein, als einen schlechten Job zu haben.“
Tatsächlich hat der Rückgang der Arbeitslosigkeit auch das soziale Gefüge verbessert, wenn auch nur in kleinen Schritten: 2014 waren 29 Prozent aller Spanier von Armut bedroht, 2017 noch knapp 27 Prozent. Allerdings ist das immer noch einer der höchsten Werte in Westeuropa.
Die Proteste der Gelbwesten in Frankreich haben gezeigt, wie gefährlich eine allzu große Spaltung der Gesellschaft ist, und auch der Internationale Währungsfonds (IWF) und die OECD mahnen ein Wachstum an, das möglichst vielen zugutekommt. Doch der Weg zu mehr Gleichheit führt nach Ansicht von Experten nicht über eine schlichte Anhebung der Gehälter, sondern über grundlegende Reformen im Arbeitsmarkt und der Wirtschaftsstruktur. „Künftige Lohnerhöhungen sollten dem Produktivitätswachstum folgen“, mahnt der IWF.
Zeitarbeit senkt die Produktivität
Doch auch bei der Produktivität schwächelt Spanien. Während in Deutschland eine Stunde Arbeit 74 Dollar an Wirtschaftsleistung schafft, sind es in Spanien nur 56 Dollar. Das liegt unter anderem am hohen Anteil temporärer Jobs: 27 Prozent der spanischen Angestellten haben nur einen Zeitarbeitsvertrag.
Der läuft im Schnitt gerade einmal über einen Monat, ein Viertel sogar weniger als eine Woche. Der IWF sieht darin das „Haupthindernis, um die Produktivität der Arbeitskräfte zu steigern“. Denn Arbeitgeber investieren kaum in die Weiterbildung von Mitarbeitern, die nur kurz im Unternehmen sind.
Zudem sorgt die große Zahl der Kleinstfirmen für eine geringe Produktivität: 95 Prozent aller spanischen Unternehmen haben weniger als zehn Beschäftigte. In Deutschland trifft das auf 82 Prozent der Unternehmen zu. Die kleinen Firmen profitieren anders als große Unternehmen nicht von Skalenvorteilen und investieren weniger in Innovationen.
Spaniens Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind nur gut halb so hoch wie der EU-Durchschnitt. Dabei ist das Land gerade für die digitale Wirtschaft bestens ausgerüstet. „Spanien hat eines der schnellsten und am weitesten ausgebauten Glasfasernetze in Europa. Das ist für Unternehmen enorm wichtig“, sagt Javier González Pareja, Chef von Bosch Spanien und Portugal sowie Präsident der deutsch-spanischen Außenhandelskammer.
Zudem könne Spanien im internationalen Standortwettbewerb mit seinem Klima und der Lage am Meer punkten. „Der Kampf um Talente und die langfristige Verfügbarkeit von gut ausgebildeten Arbeitskräften werden künftig für Unternehmen der wichtigste Erfolgsfaktor sein“, ist er überzeugt. Eine Bosch-Tochter hat gerade in Barcelona ein Softwarezentrum gegründet und will dort 60 Ingenieure einstellen.
Mittelfristig allerdings könnte zumindest die Suche nach geeigneten spanischen Beschäftigten schwierig werden: Viele Jugendliche haben keine Ausbildung. Spanien hat nur knapp hinter Malta die höchste Schulabbrecherquote in der EU: 18,3 Prozent aller Spanier beenden die Schule nicht. „Während des Wirtschaftsbooms Anfang der 2000er-Jahre haben viele die Schule aufgegeben, weil sie auf dem Bau viel Geld verdienen konnten“, erklärt Miguel Cardoso, Chefökonom für Spanien bei der Großbank BBVA.
Heute gehen sie als ungelernte Kräfte in die Hotellerie. Die Spanier sind zudem kaum bereit, für eine Stelle ihren Wohnort zu wechseln. Zum einen, weil die Jobs oft ohnehin nur zeitlich befristet sind. Zum anderen, weil die Familie für arbeitslose oder schlecht bezahlte Mitglieder sorgt.
Auch bei der universitären Qualifizierung sehen Experten Probleme. „Die Universitäten bieten zu wenig Fächer mit den Profilen an, die Unternehmen für die künftigen Jobs brauchen, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik“, sagt der Bosch-Spanien-Chef.
Instabile Politik verhindert Reformen
Spanien braucht, um besser für den nächsten Abschwung gerüstet zu sein, also dringend politische Reformen. In der Bildung könnte eine Berufsausbildung nach deutschem Vorbild helfen. Auch die Arbeitslosenvermittlung muss neu aufgestellt werden. Derzeit findet kaum eine individuelle Betreuung der Jobsuchenden statt.
Auf dem Arbeitsmarkt muss den ausufernden Zeitarbeitsverträgen ein Ende gesetzt werden. Das kann durch strikte Kontrollen geschehen, um den Missbrauch dieser Verträge zu unterbinden, sowie durch Anreize für feste Stellen. Doch für derlei Reformen ist eine stabile Regierung nötig – und die fehlt in Spanien. Seit 2015 sind zwei neue Parteien in das Parlament einzogen, und die Politiker konnten sich nicht mehr auf eine tragfähige Mehrheit einigen.
Am 28. April finden die dritten Wahlen in weniger als vier Jahren statt, einer Zeit, in der vor allem politischer Stillstand herrschte, weil sich keine regierungsfähigen Mehrheiten fanden.
Den Umfragen zufolge sind 40 Prozent der Spanier bei den anstehenden Wahlen noch unentschieden – eine Vorhersage ist deshalb kaum möglich. Klar ist nur, dass eine Regierungsbildung erneut schwierig werden dürfte, denn inzwischen ist durch das Erstarken der rechtsradikalen Partei Vox noch ein weiterer Spieler hinzugekommen.
„Angesichts der fragmentierten politischen Landschaft gehen wir nicht davon aus, dass die Wahlen ein effektives Mandat für die nächste Regierung liefern“, schreibt die Ratingagentur Standard & Poor’s. Kurzfristig werde das keinen Schaden anrichten, aber „die zunehmende Unfähigkeit der öffentlichen Hand, die anstehenden Herausforderungen der Wirtschaft anzugehen, könnte mittel- bis langfristig auf der Wirtschaftsleistung lasten“, so die Agentur.
„Investoren kommen immer wieder auf die politische Instabilität Spaniens zu sprechen“, sagt der Chef des Unternehmerverbands Círculo de empresarios, John de Zulueta Greenbaum. Dazu gehört auch der Streit zwischen Madrid und der nach Unabhängigkeit strebenden Region Katalonien. 2017 hat sie ein illegales Referendum über die Trennung von Spanien organisiert.
Tausende Unternehmen haben daraufhin ihren Hauptsitz in eine andere Region verlegt. Sánchez versuchte, den Konflikt politisch beizulegen, ist aber gescheitert. Eine Lösung in Katalonien ist ebenso wenig zu erkennen wie eine starke Regierung, die das Land für die Zukunft rüstet. „Uns fehlt ein stabiler politischer Minimalkonsens“, fasst Ökonom Fernández die Lage zusammen.
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