Stichwahl in der Ukraine Bei der Ukraine-Wahl geht es für die EU um Milliarden

In Umfragen liegt der TV-Komiker Selenski vor Amtsinhaber Poroschenko.
Valetta/Kiew Seinen größten Wahlhelfer hat Petro Poroschenko auf die Wahlplakate gebracht: Wladimir Putin. Das Konterfei des russischen Präsidenten schaut grimmig auf das Abbild des Ukrainers. Nachdem der Kremlchef erklären ließ, Russland wolle jeden im Amt des ukrainischen Staatschefs, nur nicht Amtsinhaber Poroschenko, versucht dieser als großer Gegenspieler Moskaus bei seinem Volk zu punkten.
Vor allem in der von Russland weg- und nach Europa strebenden Westukraine kommt Poroschenko damit an. Doch in Umfragen für das ganze Land liegt der Amtsinhaber, der im ersten Wahlgang knapp 16 Prozent der Stimmen holte, abgeschlagen hinter Herausforderer Wolodimir Selenski. Der TV-Komiker kam vor drei Wochen auf 30,2 Prozent der Stimmen und gewinnt laut den meisten Prognosen über die Hälfte der Wählerstimmen am Sonntag.
Die große Unbekannte dabei ist nur, ob das erste große Rededuell der beiden etwas bewegt hat. Das haben die Kontrahenten am Freitagabend vor tausenden Zuschauern in Kiews Olympiastadion teilweise mit verbalem Säbel statt filigranem Florett ausgefochten und wurde landesweit – und auch in Russland – auf mehreren TV-Sendern übertragen. „Ich bin nicht sein Opponent, ich bin sein Urteil“, hieb der 41-Jährige Selenski auf den zwölf Jahre älteren Amtsinhaber ein, und drohte Poroschenko somit mit Strafverfolgung nach der Abwahl.
Er habe Poroschenko vor fünf Jahren auch gewählt, umschmeichelte Selenski seinen Rivalen. Nur um das gleich danach als „schweren Fehler“ zu brandmarken und anzukündigen, „das System zu zerstören“. Im Wahlkampf tat er das schon: Selenski führt ihn ohne gedruckte Flyer oder Pressekonferenzen, nur auf Facebook, seiner Website und mit seinen 3,8 Millionen Fans auf Instagram.
Im Olympiastadion legte er dann denselben respektlosen Ton an den Tag. Er sicherte zu, nur eine Amtszeit anzustreben und alle korrupten Oligarchen hinter Gitter zu bringen, ihnen „die Hand abzuhacken“.
Poroschenko reagierte kaum weniger zimperlich: Immer wieder warf er seinem Herausforderer vor, kein Programm zu haben, eine „Katze im Sack“ zu sein. Woraufhin der Komiker konterte: „Besser eine Katze im Sack als ein Wolf im Schafspelz.“
Die ukrainischen Wähler dürften nicht zulassen, mit Selenskis Wahl die Ukraine „Putin oder den Oligarchen zu übergeben“, sagte Poroschenko. Der TV-Unterhalter laufe „am Gängelband der Oligarchen“. Damit zielte Poroschenko, der von seinem Widersacher selbst wegen seiner Industrie- und Fernsehbeteiligungen als Oligarch bezeichnet wurde, auf Ihor Kolomojski ab. Der von Poroschenko weitgehend entmachtete Multimilliardär besaß und besitzt teilweise noch neben Airlines, Ölfirmen, die größte Bank des Landes, die Privatbank, und den Fernsehsender 1+1.
Auf dem sendet Selenski seine Unterhaltungsshows. Seine TV-Produktionsfirma „Studio Quartal 95“ hat er über Offshore-Firmen auf Zypern registriert und bekommt dafür teilweise russische TV-Gelder. Und Selenski, der aus einer jüdischen Familie in der südostukrainischen Stahl- und Chemiestadt Kriwy Risch stammt, hat laut Recherchen ukrainischer Investigativ-Journalisten immer wieder Kolomojski in Wien und Israel besucht. Kolomojski hatte nach der Pleite und der Verstaatlichung der Privatbank im Dezember 2016 das Land dorthin verlassen.
Die Angst der EU vor einem neuen Bankenkrieg
Nun sinnt Kolomojski auf Rache gegen Poroschenko, der ihm neben dem Ölkonzern Ukrnafta auch die Privatbank nahm. Am Donnerstag hatte ein Kiewer Gericht auf Antrag Kolomojskis die Zwangsverstaatlichung und Rettung mit Hilfsmilliarden zur Rekapitalisierung für ungültig erklärt. „Die Wahlergebnisse sind noch nicht da, da kommen sie schon wegen der Privatbank“, warnte Poroschenko die Wähler vor seinem Gegenkandidaten: Selenski sei eine Marionette des Bankenbankrotteurs.
Die ukrainische Zentralbank warnt im Falle einer Umsetzung des Gerichtsurteils vor einem Platzen der Abkommen über milliardenschwere Hilfskredite für die Ukraine mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, den USA und der Europäischen Union (EU). Die Finanzstabilität stehe zudem auf dem Spiel, legte die Nationalbank Berufung ein. Und die Vertretung der EU in der Ukraine hat bereits in einer Erklärung gemahnt, dass die Machthaber auch künftig die verschwundenen Gelder der Privatbank bei ihren früheren Eignern eintreiben sollten.
Das ist ein klares Signal, dass Selenski im Falle eines Wahlsiegs zugunsten Kolomojskis auf abgezweigte Milliarden verzichten könnte. Privatermittler der Agentur Kroll hatten herausgefunden, dass Kolomojski und seine Partner umgerechnet 5,5 Milliarden Dollar durch gezielte Kredite an ihnen nahestehende (Briefkasten-)Firmen aus der Privatbank abgezogen haben sollen.
Ein weiteres Milliarden-Problem, das Europa auf die Füße fallen könnte, ist die Frage der Gas-Transit-Einnahmen der Ukraine. Russland tue momentan alles dafür, dass das Transitabkommen zwischen Gazprom und der Ukraine nicht verlängert werde, sagte der Chef des ukrainischen Gaskonzerns Naftogaz Ukrainy, Andri Kobolew. Es sei „die wahrscheinlichste Variante“, dass der Gastransit platze. Dann würde wegen Milliarden-Einnahmeausfällen die Ukraine noch mehr am Tropf des Westens hängen.
Merkel an der Seite Poroschenkos
Im Wahlkampf spielte dies keine Rolle. Er war von den Bluttests auf Drogenmissbrauch und Alkoholabhängigkeit, die Poroschenko und Selenski öffentlich abgegeben mussten und sich nach Tricksereien des Herausforderers dabei ordentlich stritten, geprägt. Wie Poroschenko wurde Selenski auch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron empfangen, bekam allerdings keine Einladung zu Angela Merkel. Die Kanzlerin empfing öffentlich nur den Staatschef, was sogar der Koalitionspartner SPD als falsche, einseitige Parteinahme Merkels kritisierte.
Einige bezeichneten dies schon als Abschiedsbesuch Poroschenko, dessen Partei ebenso wie die CDU/CSU der Europäischen Volkspartei (EVP) angehört. Doch Hintergrund dürfte, so deuteten mit der Sache in Kiew Vertraute an, vielmehr sein, dass Poroschenko bereits im Mai im Falle seiner Wiederwahl eine neue Runde des „Normandie-Formats“ anstrebe. In dieser Runde aus Kanzlerin, dem französischen Präsidenten sowie den Staatschefs Russlands und der Ukraine war der Friedensplan von Minsk hervorgegangen.
Selenski setzt unterdessen, statt auf Deutschland und Frankreich als Vermittler, auf die USA und Großbritannien. Wie er aber den Krieg im Donbass beenden und die von Russland annektierte Halbinsel Krim zurück in die Ukraine holen will, erklärte er nicht.
Russlands Einmischung und Poroschenkos Verbindung zu Rothschild
Im russischen Fernsehen wird Selenski, der sechs Jahre in Moskau lebte und noch immer eine Firma in Russland hat, positiv dargestellt. Über Poroschenko werden auf „Russia Today“ immer neue Korruptionsskandale verbreitet oder Einkommen von der Rothschild Bank. Verschwiegen wird dabei, dass er seinen Schokoladenkonzern Roshen nicht – wie versprochen – verkauft hat, sondern von Rothschild treuhänderisch verwalten lässt. Gewinne bekommt er dann von Rothschild, ohne Unternehmensentscheidungen selbst zu beeinflussen.
Doch ob Poroschenko seinen gewaltigen Umfragen-Abstand auf den Fernsehstar Selenski, der sich im Wahlkampf nur „Se!“ nennt, noch aufholen kann, wird erst am Sonntagabend um 19 Uhr klar: Dann schließen die Wahllokale in Europas größtem Flächenstaat.
Und dann zeigt sich, ob es für Poroschenko reicht, dass er als Präsident seinen Landsleuten die Visumsfreiheit für Reisen in Schengen-Staaten und ein EU-Assoziierungs- und Handelsabkommen gebracht und zum Jahreswechsel vom orthodoxen Patriarchen von Konstantinopol (heute Istanbul) die Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche erklärt bekommen hat. Und dass tiefgreifende Wirtschaftsreformen immerhin angegangen wurden und sich in seinen Jahren als Präsident „so viel geändert hat wie in den 20 Jahren der Unabhängigkeit davor nicht“. So sieht es zumindest Andreas Lier, Präsident der deutsch-ukrainischen Industrie- und Handelskammer in Kiew und Ukraine-Chef von BASF.
Oder ob sich Selenski durchsetzt. Der Herausforderer hatte sich bis zuletzt vor allen Rededuellen mit dem vom Schokoladen-, TV- und Werftunternehmer zum Präsidenten mutierten Rivalen gedrückt. Wenn Selenski gewinnt, wie von allen Umfragen vorhergesagt, kommen weitere Probleme: Denn wie er dann bis zur Neuwahl des Parlaments, der Werchowna Rada, ohne eigene Mehrheit regieren will, gilt als fraglich.
Aber in seiner Paraderolle in der Fernsehserie „Diener des Volkes“ hat er es bereits schauspielerisch vom Geschichtslehrer per Zufall zum Präsidenten geschafft. Und am Ende das Land geeint. „Ein Komiker kann Präsident werden. Aber ein Präsident, der zum Showman wird, ist eine Schande“, ätzte Selenski gegen Poroschenko.
Doch während er nach dem TV-Duell auf der Bühne des Olympiastadions seine Frau küsste und Victory-Zeichen ins Publikum machte, stimmte Poroschenko mit seiner Frau die Nationalhymne an. Gegensätzlicher können die Kandidaten kaum sein. Aber die Ukraine hat als eines der wenigen post-sowjetischen Länder eine echte Wahl – und einen komischen Wahlkampf, sowie wohl bald einen bisherigen Clown als Präsident.
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