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Stimmungsbericht aus Caracas Der Kollaps in Venezuela wird jeden Tag wahrscheinlicher

Venezuela hat zwei Präsidenten – und befindet sich damit in einer Pattsituation. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenbruch rückt näher. Ein Stimmungsbild.
06.02.2019 - 13:34 Uhr Kommentieren
Venezolaner stehen stundenlang in einer Schlange, um Butter und Nudeln zu kaufen. Quelle: MERIDITH KOHUT/The New York Time
Caracas, Venezuela

Venezolaner stehen stundenlang in einer Schlange, um Butter und Nudeln zu kaufen.

(Foto: MERIDITH KOHUT/The New York Time)

Caracas Wenn man Frank Arsten fragt, wie lange er noch in Venezuela ausharren will, dann sagt er: „Wo soll ich denn hin? Ich habe hier doch alles investiert.“ Und fast alles verloren, könnte er ergänzen. Seit 55 Jahren lebt der Deutsche in dem südamerikanischen Land und hatte ein über Jahre florierendes Unternehmen der Telekommunikationsbranche aufgebaut. Arsten, der nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden will, hatte einmal 400 Beschäftigte, jetzt sind es noch 38.

Der Staatskonzern Petróleos de Venezuela (PDVSA) war lange Zeit sein bester Kunde. Arsten lieferte dem Ölkonzern Konferenzschaltungen und Telefonanlagen. „Nach einem Monat hatte ich immer mein Geld“, erinnert sich der Unternehmer. „Das war auch noch so, als Chávez 1999 an die Macht kam.“

Erst vor ein paar Jahren, als die Erdölförderung sank und die Dollar bei PDVSA immer knapper wurden, ließ die Zahlungsmoral nach. „Irgendwann zahlte PDVSA erst nach sechs Monaten und dann gar nicht mehr.“

Mit dem Niedergang des Ölmonopolisten ging es auch Arstens Firma schlechter. PDVSA schuldet seinem Unternehmen noch 2,5 Millionen Dollar. Darauf will Arsten nicht verzichten. Also bleibt er im Land. Anders als viele andere Unternehmen, die in den vergangenen Jahren pleitegegangen sind oder sich zurückgezogen haben.

Gerade noch zehn Prozent der Unternehmen, die 1998 vor Chávez‘ Machtübernahme aktiv waren, produzieren nach Angaben des Industrieverbandes Conindustria noch. Von den multinationalen Unternehmen haben in den vergangenen 13 Jahren 60 geschlossen oder ihre Präsenz deutlich verkleinert – das Resultat überbordender staatlicher Kontrollen und der Hyperinflation.

Arsten aber bleibt und hofft auf bessere Zeiten. Zeiten, die nie so nah waren wie jetzt. „Mal sehen, wer länger aushält. Maduro oder ich“, sagt der 76-Jährige und lächelt etwas gequält.

Zwei Wochen ist es her, dass sich Juan Guaidó als Übergangspräsident von Venezuela ausgerufen hat. Seit dem 23. Januar lebt das Land in einer Pattsituation: zwei Präsidenten, die den jeweils anderen der Amtsanmaßung beschuldigen.

Hinter Guaidó einerseits und dem seit 2013 regierenden Präsidenten Nicolás Maduro andererseits haben die diplomatischen Heere dieser Welt Stellung bezogen. Die USA, fast die gesamte EU und weite Teile Lateinamerikas sind auf der Seite Guaidós. Russland, China, die Türkei sowie Kuba, Bolivien und Nicaragua stärken Machthaber Maduro den Rücken.

Alle wissen, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann, dass irgendetwas diese Machtbalance ins Wanken bringen wird. Wenn etwa die USA die „militärische Option“ tatsächlich ziehen, mit der Präsident Donald Trump droht, oder wenn Machthaber Maduro seinen Widersacher festnehmen lässt.

„Entweder ist Maduro dann weg, oder wir haben hier Kuba“

„Guaidó hat Mut“, sagt Arsten anerkennend. Wie fast alle anderen Menschen in Venezuela kannte auch der Unternehmer den 35 Jahre alten Politiker der konservativen Partei „Voluntad Popular“ vor dem 5. Januar nicht, als er zum Vorsitzenden der von Maduro entmachteten Nationalversammlung gewählt wurde.

Arsten sitzt in einem Restaurant in einem besseren Viertel von Caracas. Das Bier, das er bestellt, ist gerade nicht lieferbar. Auch bei einigen der Gerichte auf der Speisekarte muss der Kellner passen. „No hay“. Haben wir nicht.

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Es ist 18 Uhr, und es sind nur drei Tische besetzt. Eine Zwei-Mann-Kapelle spielt Liebeslieder. Einige Gäste sprechen dem Rum kräftig zu und diskutieren laut. Man weiß nicht, ob sie ihren Frust über den Zustand ihres Landes im Alkohol ertränken oder schon auf die baldige Wiederauferstehung Venezuelas anstoßen. „Spätestens im März ist der Spuk hier vorbei“, sagt Arsten.

„Entweder ist Maduro dann weg, oder wir haben hier Kuba.“ Mit Pferdekutschen, ohne Essen und ohne Benzin. Ein bisschen Kuba ist ja schon lange in Venezuela. Die Versorgungskrise hat so dramatische Ausmaße angenommen, dass Kinder an Unterernährung sterben und Alte, weil sie lebenswichtige Medikamente nicht bekommen.

Die Nachbarschaft von Cotiza verfällt, Menschen sitzen auf der Straße. Quelle: AFP
Cotiza

Die Nachbarschaft von Cotiza verfällt, Menschen sitzen auf der Straße.

(Foto: AFP)

Diphtherie, Malaria und Tuberkulose sind wieder zurück in Venezuela. Lehrerinnen erzählen, dass manche Schüler nur alle zwei Tage in den Unterricht kommen, weil sie sich mit den Geschwistern die Schuhe teilen müssen. Andere Mädchen und Jungen können dem Unterricht nicht folgen, weil sie unterernährt sind.

60 Prozent aller Familien bekommen Lebensmittelkartons vom Staat

Einer Erhebung der drei wichtigsten venezolanischen Universitäten zu den Lebensbedingungen aus dem vergangenen Jahr zufolge haben 64 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2017 bis zu elf Kilo Gewicht verloren. Millionen überleben nur mit den staatlichen Nahrungsmittelpaketen CLAP.

Die CLAP (Lokale Komitees zur Versorgung und Produktion) schuf die venezolanische Regierung vor knapp drei Jahren, um die Versorgungskrise vor allem bei den Ärmsten zu lindern. Sie sind die wichtigste Klientel der regierenden Chavisten. Aber auch diese bekommen sie nicht mehr satt.

In Petare, dem größten Armenviertel von Caracas, reißt Rosíris Toro das Klebeband von einem grauen CLAP-Karton. Gerade erst ist er seit Langem einmal wieder verteilt worden.

Der Inhalt sieht ein wenig aus wie die Vereinten Nationen der Nahrungsmittelhilfe: Thunfisch aus Ecuador, Ketchup aus Brasilien, Bohnen aus Kanada, Nudeln aus der Türkei, Reis und Maismehl aus Mexiko. Die Regierung muss im Ausland einkaufen, was Venezuela selbst nicht mehr produzieren kann. Laut Hilfsorganisationen wie der venezolanischen Caritas erhalten 60 Prozent der Familien die CLAP-Kartons.

„Früher kamen die CLAP jeden Monat, jetzt nur noch alle 45 Tage“, sagt Toro, die in Petare eine Nachbarschaftsinitiative leitet und nie eine Anhängerin der Chavisten war. Sie müssen für eine vier- bis sechsköpfige Familie reichen. „Ohne die Futterpakete müssten wir verhungern, aber auch so reicht es schon nicht wirklich.“ Denn wenn ein Kilo Fleisch einen halben Monatslohn kostet und ein Sechser-Pack Windeln vier Monatslöhne, könne man nur noch verzweifeln, sagt Toro: „Diese Typen haben das Land zerstört.“

Bewohner von Petare warten auf Gaslieferungen. Quelle: Bloomberg
Slums in Caracas

Bewohner von Petare warten auf Gaslieferungen.

(Foto: Bloomberg)

Die Versorgungskrise ist das eine, die Inflation das andere. Bei einer Teuerungsrate von mehr als einer Million Prozent schwindet der Wert des Bolívars schneller, als man ihn drucken kann. Daher gibt es auch praktisch kein Bargeld mehr, zumal die Banken lächerlich kleine Summen als Tageslimit für Abhebungen am Geldautomaten haben.

Einkäufe und Geschäfte jeder Art laufen in Caracas nur noch über Debitkarten. Einen Großeinkauf im Supermarkt muss man mit bis zu drei Bank- oder Kreditkarten bezahlen, weil die millionenschweren Rechnungssummen die Limits sprengen.

Selbst Hotdog-Verkäufer und Straßenhändler haben einen „Punto de venta“, ein Kartenterminal. Bargeld ist so wertvoll in Venezuela, dass diejenigen, die damit bezahlen, bei den Händlern Preisnachlässe bekommen.

In Petare kleben die unverputzten Häuser wie Bienenwaben an den Hügeln. Hier leben knapp zwei Millionen Menschen. Und an manchen Ecken sieht es nach Jahren der Mangelwirtschaft aus wie in einem der ärmsten Länder der Welt. An den Straßenrändern türmt sich der Abfall, weil die Müllabfuhr nicht mehr kommt.

Menschen klauben das letzte Essbare aus den Resten. Autowracks zieren den Straßenrand, weil es keine Ersatzteile mehr gibt. Ein Reifen kostet umgerechnet 75 Euro, der Mindestlohn liegt aber nur, umgerechnet nach Schwarzmarktkursen, bei sechs Euro im Monat, 18.000 Bolívares.

An den Haltestellen bilden sich lange Schlangen, Busse fahren kaum noch, weil auch sie nicht repariert werden können. Lkws oder Viehtransporter dienen jetzt als Ersatzbusse. Wasser und Strom werden rationiert. Das Zusammenbrechen der staatlichen Serviceleistungen habe die Regierung viel Zustimmung gekostet, sagt Toro. „Gerade in Vierteln wie Petare, die über Jahre die Bastion der chavistischen Regierung waren.“

Die Situation in der Hauptstadt ist trotz der hitzigen Situation ruhig. Quelle: AP
Haus in San Augustin, Caracas

Die Situation in der Hauptstadt ist trotz der hitzigen Situation ruhig.

(Foto: AP)

Als Juan Guaidó am 23. Januar zu Massenkundgebungen aufrief, gingen die Menschen auch in Petare auf die Straßen und machten ihrem Ärger Luft. Die Regierung schickte die gefürchtete Spezialeinheit der Polizei FAES und ließ die Proteste niederschlagen. Dutzende Menschen starben.

Aber der Druck auf die Regierung steigt weiter. Bis Ende Januar lieferte Venezuela täglich 550.000 Fass Öl in die USA und bekam dafür rund 300 Millionen Dollar – am Tag. Das Geld half, um die Lebensmittel für die CLAP-Nahrungspakete in der ganzen Welt zusammenzukaufen und Benzin zu importieren. Doch nach den jüngsten US-Sanktionen fehlt das Geld. Und der Kollaps rückt wieder ein Stück näher.

Die Benzinvorräte dürften schon bald knapp werden

„Wir rechnen damit, dass die Regierung für zehn Tage Benzinvorräte hatte“, rechnet Luis Arturo Bárcenas, Chefökonom bei der Wirtschaftsberatungsgesellschaft Ecoanalítica vor. Demnach wäre der Sprit am kommenden Montag aufgebraucht. Der Verkehr würde zusammenbrechen und in der Folge auch die Versorgung, weil nichts mehr transportiert werden kann. „Schon jetzt gibt es Versorgungsprobleme auf dem Land“, sagt Bárcenas.

Es wäre vermutlich das Ende des Maduro-Regimes, wenn zum internationalen Druck auch noch die totale wirtschaftliche Notlage käme, vermutet der Vertreter einer internationalen Organisation vor Ort. Auch er will aus Angst vor Folgen für sein Büro nicht genannt werden.

Die Regierung versucht, die 550.000 Fass Öl nach Asien zu verkaufen und so das Geld einzunehmen, das jetzt fehlt. Aber dies brauche eine operative Vorbereitung von 30 bis 40 Tagen, sagt Bárcenas. „Ob die Regierung das politisch durchhält, ist fraglich.“ Falls nicht: Was kommt dann? Lange schon gibt es Pläne von Ökonomen, wie das postchavistische Venezuela aufzubauen ist.

„Innerhalb von vier Jahren sollte die Wirtschaft wieder das Produktionsniveau von 2000 erreicht haben“, sagt Ecoanalítica-Experte Bárcenas. Aber dafür brauche es Kredite von internationalen Finanzorganisationen, Privatinvestitionen – und Vertrauen in die neuen Akteure an der Spitze des Landes.

Vordringlich für das Ölland Venezuela ist dabei der Wiederaufbau von PDVSA. Die Produktion ist gesunken – von einst 3,2 Millionen Fass pro Tag, als Chávez Ende 1998 gewählt wurde, auf zuletzt 1,1 Millionen Fass im November. Dieses Jahr könnte sie auf unter eine Million Barrel fallen, sollte die Regierung an der Macht bleiben. Die Chavisten haben PDVSA geschröpft, aber nichts in den Erhalt der Anlagen investiert.

Manche Kinder sterben an Unterernährung. Die Versorgung mit Medikamenten läuft nicht verlässlich. Quelle: AP
Spielende Kinder auf der Straße

Manche Kinder sterben an Unterernährung. Die Versorgung mit Medikamenten läuft nicht verlässlich.

(Foto: AP)

Fahrlässig, wenn man bedenkt, dass 90 Prozent der venezolanischen Einnahmen aus dem Ölverkauf stammen.

Der Ökonom und Ölexperte José Toro Hardy, früher Mitglied des Direktoriums von PDVSA, geht davon aus, dass über sieben Jahre rund 25 Milliarden Dollar jährlich in die Infrastruktur von PDVSA investiert werden müssen, damit die „Henne“ wieder „ihre goldenen Eier“ legt.

Frank Arsten ist da zuversichtlicher. „Dieses Land hat alles – nicht nur Öl, sondern auch Gold und Bauxit.“ In drei Jahren, ist der Unternehmer sicher, könnten wieder blühende Landschaften in Venezuela entstehen. „Und dann bekomme ich auch mein Geld von PDVSA.“

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