Südamerika Kaum Wachstum und 48 Prozent Inflation: Wie Argentinien führungslos ins Chaos schlittert

Weniger als fünf Milliarden Dollar hat das Land derzeit zur Verfügung, um lebenswichtige Importe zu bezahlen.
Salvador Mit einer hundertköpfigen Delegation reiste Alberto Fernández zum Umweltgipfel nach Glasgow an. Doch statt sich in Umweltfragen zu profilieren, trat der argentinische Regierungschef auf wie ein Bittsteller in eigener Sache.
Er versuchte, die Staatsoberhäupter bisweilen penetrant davon zu überzeugen, dass sein Land unverschuldet in die Schuldenkrise geraten sei und dass es eine Sonderbehandlung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) verdiene. Umwelt und Klimawandel – das interessierte Fernández nur, wenn damit Schulden reduziert werden könnten.
„Argentinien wandert durch die Welt, bettelt um Ausnahmen und verlangt Unmögliches“, spottet der Politologe Sergio Berensztein in Buenos Aires. Der bizarre Auftritt des argentinischen Präsidenten in Europa zeigt aber vor allem eines: Einmal mehr steht Argentinien am Abgrund, einmal mehr fehlen der Regierung Ideen, wie Argentinien aus der Dauerkrise finden kann.
Nun ist Fernández, der seit zwei Jahren im Amt ist, politisch auch noch zusätzlich geschwächt: Seine peronistische Regierung hat bei den Zwischenwahlen ihre Mehrheit im Senat verloren und auch im Abgeordnetenhaus nur noch eine knappe Mehrheit. Die Regierung sei mit ihrer Strategie gescheitert, durch „populistische Maßnahmen das Ruder doch noch rumreißen“ zu können, sagt Alberto Ramos von Goldman Sachs.
Völlig offen ist nun, wie der Präsident nach diesem Rückschlag vorgehen wird: In einer Rede nach dem Schließen der Wahllokale forderte er die Argentinier etwas hilflos zur Einheit auf und erklärte, dass er jetzt einen Wirtschaftsplan vorlegen und bald mit dem Internationalen Währungsfonds ein Abkommen erzielen wolle.
Keine Lösung der miserablen Wirtschaftslage in Sicht
Ein Rätsel bleibt, wie ein solcher Plan aussehen könnte und welche Strategie zur Lösung der Wirtschaftskrise Fernández einschlägt. „Die Regierung hat keinen Wirtschaftsplan und auch nie einen gehabt“, sagt Eduardo Levy Yeyati, Ökonom an der Torcuato-de-Tella-Universität. Bisher redet sich Fernández immer damit heraus, dass ihn die Pandemie daran gehindert hätte, so zu regieren wie geplant. Doch das nimmt ihm niemand mehr ab.
Den monatelangen harten Lockdown des vergangenen Jahres rechtfertige Fernández damit, dass er „lieber zehn Prozent mehr Arme als 100.000 Tote“ haben wolle. Doch jetzt hat Argentinien beides: 116.000 Tote durch Corona und eine Armutsrate, die seit Beginn der Pandemie von 35 auf über 42 Prozent der Bevölkerung angewachsen ist.
Und die Perspektiven sind düster. Zwar wächst die Volkswirtschaft in diesem Jahr um 5,8 Prozent. Doch das ist nach dem Einbruch von fast zehn Prozent im Jahr 2020 ein kurzfristiger Erholungseffekt. Der IWF rechnet für nächstes Jahr mit einem Wachstum von nur noch 2,5 Prozent – das ist für ein Schwellenland ein schlechter Wert.
Das größte Problem allerdings: Die Inflation liegt mit 47,5 Prozent fast auf weltweitem Rekordniveau. Die Regierung lässt die Notenpresse laufen, um das Haushaltsdefizit in Höhe von vier Prozent zum Bruttoinlandsprodukt zu finanzieren.
Das Vertrauen in die Landeswährung schwindet. Der Dollar ist auf dem Schwarzmarkt mehr als doppelt so viel wert wie der offizielle Wechselkurs des Pesos. Trotz der hohen Preise für Agrarprodukte wie Soja, Rindfleisch oder Weizen, die Argentinien exportiert, ist die Devisenkasse leer: Weniger als fünf Milliarden Dollar hat das Land derzeit zur Verfügung, um lebenswichtige Importe zu bezahlen. Doch allein bis März muss Argentinien knapp sechs Milliarden an ausländische Gläubiger überweisen.

Der argentinische Präsident führt das Land in eine Wirtschaftskrise.
Ein Staat im Kontrollwahn
Der 62-jährige Präsident reagiert darauf, wie es die Tradition ist bei den Peronisten, die Argentinien mit Unterbrechungen seit mehr als einem halben Jahrhundert regieren: noch mehr Staat, noch mehr Kontrolle, noch mehr Protektionismus.
Für 1432 Produkte sind die Preise bis Januar eingefroren – von Zahnpasta bis zum Weizenmehl, verfügte die Regierung. 881 Seiten lang ist der Anhang zum Dekret. Mit Unternehmen und Lobbys feilscht der zuständige Minister täglich um die Details. Die Preise für öffentliche Güter wie Wasser oder Strom sind schon seit Ende 2019 nicht mehr angehoben worden.
Auch in den Arbeitsmarkt greift die Regierung auf Druck der Gewerkschaften ein – und verbietet Entlassungen. Genutzt hat das wenig: Das Wirtschaftsinstitut Ecolatina schätzt, dass allein im letzten Jahr rund 20.000 Unternehmen geschlossen und 100.000 Menschen ihre festen Jobs verloren haben. Täglich wandern 100 Bürger aus. Um 20.000 Argentinier soll die Exilgemeinde in Spanien seit Beginn der Regierung von Fernández angewachsen sein.
Ein Land verarmt. Schon seit Jahrzehnten erleben die 46 Millionen Argentinier diesen Prozess. Noch vor knapp hundert Jahren war das Land eines der reichsten weltweit. Jetzt droht es Entwicklungsland zu werden. Denn der Abstieg hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt.
Seit 2008 ist das Pampaland praktisch nicht mehr gewachsen: Nur um 0,2 Prozent pro Jahr ist das BIP im Durchschnitt seitdem gestiegen. 80 Prozent der Argentinier mussten wegen der Inflation Kaufkraftverluste hinnehmen. Derzeit befinden sich die Löhne – umgerechnet in Dollar – auf dem tiefsten Niveau seit 15 Jahren.
Gleichzeitig versuchen die Reichen, ihr Geld ins Ausland zu retten: Bei den Pandora Papers, welche 30.000 Konten in Steueroasen nachwiesen, waren Argentinier nach Russen und Briten zahlenmäßig als Kontoinhaber am häufigsten vertreten. Nach jahrelanger Isolation von den internationalen Finanzmärkten aufgrund der Zahlungsunfähigkeit war Argentinien unter Präsident Macri, dem liberalen Vorgänger von Fernández im Präsidentenamt, zwischen 2015 und 2019 wieder kreditwürdig geworden.
100 Milliarden Dollar an Krediten nahmen der Staat und private Unternehmen in seiner Amtszeit auf. Viel scheint davon nicht im Land geblieben zu sein. Macri selbst sagt heute, dass die IWF-Gelder – immerhin 44 Milliarden Dollar – vor allem aus Angst vor einer Rückkehr der Peronisten das Land verlassen hätten.
Verhandlungen mit dem IWF über Schulden
Die Regierung ist deswegen gespalten, ob sie nun mit dem IWF ernsthaft verhandeln soll über die Schulden – oder sie es bleiben lassen soll. Seit über einem Jahr dümpeln die Verhandlungen dahin. Vor den Zwischenwahlen hat sich die Stimmung in der Regierung gedreht – gegen den IWF. Der gegenüber Washington konziliante Wirtschaftsminister Martin Guzman wiederholt gebetsmühlenartig, dass Argentinien erst wachsen müsse, bevor es zahlen könne. „Wir werden uns nicht niederknien in Washington“, sagte er, um es nicht mit dem linken Flügel bei den Peronisten zu verderben.
Dort hat die Vizepräsidentin Cristina Kirchner das Sagen. Sie ist die mächtigste Politikerin Argentiniens – und verlangt vom IWF einen Schuldenerlass. Für die Schulden, die Macri aufgenommen hatte, fühlt sie sich sowieso nicht verantwortlich. „Zuerst die Argentinier, raus mit dem IWF!“, verlangt ihr Sohn Máximo Kirchner, Abgeordneter und einer der möglichen Nachfolger im Amt von Fernández.
Zusammen mit Cristina Kirchner ist er tonangebend im linken „Kichnerista-Flügel“ der Peronisten. Doch Kirchner ist jetzt geschwächt, weil sie den Vorsitz im Senat verloren hat. Gut möglich, dass sie jetzt ihre radikalen Anhänger auf die Straßen ruft. Die zweifache Präsidentin hatte für die Wahlen 2019 ihren ehemaligen Kabinettschef Alberto Fernández als Kandidaten präsentiert, weil ihre eigene Ablehnungsrate in der Bevölkerung zu hoch war.
Doch die Zügel hält sie trotzdem in der Hand. Allerdings scheint sie genauso ratlos wie Fernández selbst. In ihren Regierungen von 2007 bis 2015 hat sie vorexerziert, wie sie auf leere Kassen, eine schrumpfende Wirtschaft und hohe Inflation reagiert. Mit noch mehr Kontrolle, Enteignungen, politischem Druck auf die Wirtschaft und staatlicher Alimentierung der Armen im Gegenzug für deren Stimmen.
Abbruch der Verhandlungen mit dem IWF als mögliche Konsequenz des Regierungskurses
Auf dieses Konzept, so steht zu befürchten, könnte die Regierung auch jetzt nach der Niederlage in den Zwischenwahlen wieder setzen. Der Abbruch der Verhandlungen mit dem IWF wäre dann die Konsequenz. Kaum ein Experte in Argentinien schließt derzeit ein solches Szenario aus. Der Ökonom Arturo Porzecanski sagt klar: „Mehr Populismus würde zu einer vollständigen Isolation Argentiniens führen.“
Ein solches Szenario kann nicht im Interesse der Regierung liegen. Fernando Sedano von der US-Bank Morgan Stanley hält es für wahrscheinlich, dass die Regierung nach den Wahlen versuchen wird, mit dem IWF zu verhandeln. „Die Regierung weiß, dass die Kosten einer Anpassung niedriger ausfallen, je schneller sie mit den Verhandlungen beginnt.“ Der Termin für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2023 rückt näher.
Das wahrscheinlichste Szenario sei, so Ökonom Eduardo Levy Yeyati, dass die geschwächte Regierung versuchen werde, sich „durchzumogeln“: mit etwas gutem Willen gegenüber dem IWF. Mit immer neuen Kontrollen, Ad-hoc-Steuern und Transfers. Doch dann bestehe die Gefahr, dass sich die Inflation der 100-Prozent-Marke nähert.
Deshalb hält auch Diego Pereira von JP Morgan diese Strategie für hochriskant – denn dann steige die Wahrscheinlichkeit, dass Argentinien wie bereits Mitte der 1970er-, Anfang der 1980er- und in den 1990er-Jahren die Kontrolle über sein Geldsystem verliert. Das Risiko einer Hyperinflation sei sehr hoch, wenn ein Land eine jährliche Inflationsrate von über 40 Prozent über zwei Jahre hintereinander erlebt, sagt Pereira. Genau das ist in Argentinien gerade geschehen.
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