Türkei Wie die türkische Regierung versucht, von der Coronakrise zu profitieren

Istanbul versucht, die Bevölkerung mit der Desinfektion öffentlicher Räume zu beruhigen.
Istanbul Der wichtigste Mann in Ankara heißt derzeit nicht Recep Tayyip Erdogan, sondern Fahrettin Koca. Der Gesundheitsminister der Türkei gibt nicht nur jeden Abend die neusten Infektionszahlen in Sachen Corona bekannt. Koca lässt außerdem nicht zu, dass irgendjemand anderes im Land die Deutungshoheit über dieses Thema erlangt – niemand, außer seiner Regierung.
Als es noch keine Fälle gegeben habe, sei dies von der Administration so mitgeteilt worden, erklärte Koca am Sonntagabend. Seitdem würden „Tag für Tag“ die aktuellen Zahlen bekanntgegeben. „Wir laden sie ein, diese Transparenz zum Maßstab zu nehmen“, erklärte er außerdem auf Twitter und fügte selbstbewusst hinzu: „Dieses Land wird dieser Bedrohung nicht unterliegen.“
Das Kommunikationsbüro der Administration aus Ankara geht noch weiter. In einem Video, das Kommunikationsminister Fahrettin Altun am Montag auf seinem Twitter-Kanal verbreitete, empfiehlt dieser, einzig den Bekanntmachungen seiner Regierung zu folgen, sonst niemandem.
Das ist mittlerweile gängige Praxis auch bei europäischen Regierungen, um Falschmeldungen vorzubeugen. Altun ging noch einen Schritt weiter: „Gerüchte, Prophezeiungen, Verschwörungstheorien… In der Berichterstattung begegnen wir fast täglich dieser Art schädlicher Inhalte und glauben Sie es, alle sind mindestens so schädlich wie das Virus selbst!“
Am Montag wurde bekannt, dass die Behörden des Landes Maßnahmen gegen 1748 Social-Media-Accounts ergriffen haben, wegen des Teilens „unbegründeter Fakten in Sachen Coronavirus“ sowie „Terrorpropaganda“. Ob es dabei einzig um das Teilen falscher Wahrheiten ging oder auch um Kritik am Vorgehen der Regierung, ist nicht bekannt.
Infektionen nehmen rapide zu
Markige Worte. Worte jedoch, die größtenteils auf Zustimmung stoßen. In der Coronakrise hat die autoritäre Regierung in Ankara die Deutungshoheit an sich gezogen und versucht, davon zu profitieren. Und das, obwohl es zunehmende Kritik an der Strategie der Regierung gibt – und an den veröffentlichten Zahlen.
Beim Blick auf die globale Ausbreitung des Virus fiel zuletzt vor allem ein Land auf: die Türkei. Das Land an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien, dem Nahen Osten und Afrika blieb wochenlang von der neuartigen Krankheit verschont. Zeitgleich hatten Nachbarländer wie der Iran längst mit steigenden Fallzahlen zu kämpfen.
Die Infektionen nehmen jetzt auch in der Türkei rapide zu. Die Zahl der Todesopfer lag am Montagabend nach Angaben der Regierung bei 37, die der erfassten Infizierten stieg auf 1529. Erst vor zwei Wochen wurde der erste Fall überhaupt bekanntgemacht.
Einerseits hat die türkische Regierung früh auf die drohende Coronakrise reagiert. Bereits Anfang Februar stoppte die Regierung Flüge von und nach China sowie Iran. Ende Februar folgten Flugverbote nach Italien, Südkorea und in den Irak.
Am 11. März gab die Regierung den ersten Infektionsfall im Land bekannt, am 17. März den ersten Todesfall. Dazwischen wurden Schüler und Studenten beurlaubt. Seit dieser Woche findet Fernunterricht statt – über ein Onlineportal, das Schülerinnen und Schüler ohnehin seit Jahren für Übungen und Nachhilfe benutzen. Der Übergang ins Online-Lernen verlief reibungslos, anders als in manch europäischem Land.
Bereits am vergangenen Mittwoch hatte die Regierung von Staatspräsident Erdogan ein Rettungspaket in Höhe von 100 Milliarden Türkischer Lira aufgelegt, umgerechnet rund 14,5 Milliarden Euro. „Es ist nicht leicht, die Zahnräder der Wirtschaft am Laufen zu halten, während wir das Virus bekämpfen“, wurde Erdogan vor Bekanntgabe des Pakets zitiert.
Mit dem Paket werden anfallende Steuerschulden im April, Mai und Juni für sechs Monate gestundet. Außerdem wurde die Grundrente von 1100 auf 1500 Lira erhöht, umgerechnet rund 250 Euro monatlich. Unternehmen, deren Cash-Flow unter dem Ausbruch der Krise leidet, sollen für mindestens drei Monate von Zinstilgungen verschont bleiben. Händler, die Kredite bei der staatlichen Halkbank aufgenommen haben, bekommen ebenfalls einen dreimonatigen Aufschub.
Der Kreditgarantiefonds, ein Instrument aus der Krisenzeit nach einem Putschversuch im Juli 2016, ist auf ein Volumen 50 Milliarden Lira (6,2 Milliarden Euro) verdoppelt worden. Über den Fonds können sich Unternehmen günstig mit Kreditgeld versorgen, zu deutlich besseren Konditionen als bei ihren Hausbanken. „Wir werden damit vor allem kleinen und mittelgroßen Unternehmen sowie Firmen mit Liquiditätsproblemen helfen“, erklärte Erdogan.
Die Maßnahmen aus Ankara gehen noch weiter und betreffen nicht nur finanzielle Hilfen. So gilt seit Sonntag eine Ausgangssperre für über 65-Jährige. Die teilstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines wird ab dem 27. März alle internationalen Flüge einstellen, mit Ausnahme von fünf Verbindungen nach New York, Washington, Hong Kong, Moskau und Addis Abeba. Das Transportministerium hatte zuvor Flugverbindungen in 68 Länder untersagt, darunter Deutschland.
Lange wurde vermutet, die Regierung in Ankara halte die Zahl der gemeldeten Infektionen gering, um die Wirtschaft des Landes zu schonen. Alleine der Tourismus bringt dem Land jedes Jahr rund 50 Milliarden US-Dollar an Devisen. Die türkische Wirtschaft ist dringend auf den Fremdenverkehr angewiesen. Nicht zuletzt, weil zehntausende Jobs daran hängen: in Hotels und Gaststätten, aber auch bei Fluggesellschaften, Reiseunternehmen und Landwirten. Und weil wegen der vielen politischen Krisen ohnehin bereits viele Europäer der Türkei fernbleiben, ist der Tourismus inzwischen zu einem sensiblen Geschäft geworden.
Am Montag drohte Innenminister Soylu den Herstellern von Atemschutzmasken mit Verstaatlichung, sollten sie ihre Produkte nicht bis Montagabend an die Regierung verkaufen. Die Behörden hätten diese aufgefordert, Verträge mit dem Gesundheitsministerium zu unterzeichnen und damit aufzuhören, Bestände zurückzuhalten. „Wir werden diese Masken kaufen, und zu einem guten Preis“, sagte Soylu. Die Firmen hätten noch eine Frist von mehreren Stunden, dann würden sie verstaatlicht.
Gleichzeitig wächst die Kritik am Verhalten der Regierung. Lange schien die Türkei nämlich verschont von dem neuartigen Virus, welches derzeit das öffentliche Leben auf der ganzen Welt lahmlegt. Während Ende Februar in den meisten Ländern Europas und des Nahen Ostens Fälle gemeldet worden waren, hielten die türkischen Behörden die Zahl lange bei Null. Ob das den Tatsachen entspricht, ist bis heute unklar.
Auch ist bislang nicht bekannt, wo die gemeldeten Fälle auftreten und wo Menschen gestorben sind. Es ist daher nicht klar, ob auch auf dem Land Menschen am Virus sterben – also dort, wo die ärztliche Versorgung möglicherweise unzureichend ist, sollte es zu massenhaften Erkrankungen kommen.
Ein möglicher Grund für diese Taktik: Die Opposition. Viele Großstädte fielen bei den jüngsten Kommunalwahlen im Jahr 2019 an die republikanische Volkspartei CHP, darunter Istanbul, Ankara und Antalya, die Metropole Izmir wurde schon davor von der CHP regiert. Alleine in diesen vier Städten lebt mehr als ein Drittel der türkischen Bevölkerung.
Diese Bürgermeister hätten ein Interesse daran, selbstständig die neuen Infektionsfälle zu melden, um daraufhin eigene Maßnahmen zu verkünden. Doch die Stadtoberhäupter der Opposition scheinen zum Schweigen verdammt. Der Oberbürgermeister der Stadt Istanbul zum Beispiel, Ekrem Imamoglu, kann daher nur zeigen, wie die Busse und Bahnen seiner Stadt regelmäßig desinfiziert werden.
Hinzu kommt, dass im Verhältnis zur Bevölkerung wenige Tests gemacht werden. Am Sonntag waren es 1600 Labortests, wie das Gesundheitsministerium in Ankara bekanntgab. Zum Vergleich: Deutschland hat nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Kapazitäten für rund 12.000 Coronavirus-Tests pro Tag. In der Schweiz liegt die Kapazität nach Behördenangaben bei rund 7.000 pro Tag. In der Stadt New York mit einem Zehntel der Einwohnerzahl der Türkei sind es derzeit rund 16.000 Tests, die pro Tag durchgeführt werden.
Die Regierung beharrt derweil darauf, dass sie die Lage unter Kontrolle hat. Schon am 22. Januar erklärte der Kommunikationsdirektor der Regierung Fahrettin Altun, dass es in der Türkei kein Problem mit Medikamenten gebe. Und das, obwohl es noch gar kein Medikament gegen das Coronavirus gibt.
Weit verbreiteter Glaube an Verschwörungstheorien
Die Taktik der Regierung hat verschiedene Gründe: Einerseits sitzen auffallend viele Menschen Esoterik und Verschwörungstheorien auf. Von Horoskopen über Kaffeesatzleserei bis Corona-Weltkomplott: Es wird gerne geglaubt, was andere erzählen.
Das gilt allerdings auch für die Regierung selbst. Außenpolitische Probleme werden schnell zum „Spiel fremder Mächte“ erklärt, welches es zu bekämpfen gilt. Mancher Kolumnist glaubt sogar, Erdbeben in der Region seien Machenschaften der CIA.
Andererseits handelt es sich bei Corona um ein ganz reales Problem, das keine Armee der Welt bekämpfen kann. Deshalb versucht die Führung in Ankara, zumindest die Deutungshoheit zu behalten.
Eine Umfrage des Ipsos-Instituts unter 800 Erwachsenen in der Türkei deutet erste Erfolge dieser Taktik an. Die Umfrage von Mitte März – kurz nach Bekanntgabe der ersten Infektionsfälle – kommt zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent der Befragten die Anweisungen des Ministers verfolgen. 74 Prozent halten die Maßnahmen der Regierung für ausreichend und 60 Prozent glauben, dass die Regierung transparent sei. Eine knappe Mehrheit von 55 Prozent glaubt sogar, dass das Gesundheitssystem des Schwellenlandes dem kommenden Ansturm Infizierter gewachsen sei. Und das, während die Zustimmungsrate für die Regierungspartei AKP derzeit deutlich niedriger rangiert.
Während in Ländern wie Deutschland verschiedene Institute, Virologen und Politikberater über die richtigen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus diskutieren, gilt in der Türkei hauptsächlich das Wort des Gesundheitsministers. Andere Experten kommen nicht zu Wort. Das liegt auch am Selbstverständnis des Staatswesens in der Türkei, worin der Staat an erster Stelle steht und auch das öffentliche Leben organisiert.
Anders als in Deutschland, wo die Expertise in der Seuchenbekämpfung an das Robert Koch-Institut ausgelagert ist oder wo der Städte- und Gemeindebund die Interessen der Kommunen in der Öffentlichkeit vertritt, gilt in der Türkei: Der Zentralstaat bestimmt, wo es langgeht. Und der Staat, das ist in diesen Tagen noch mehr als sonst die Regierungspartei Akp.
Für die inzwischen getroffenen Maßnahmen erntet die türkische Regierung hauptsächlich Lob von der Bevölkerung. In sozialen Medien teilen Nutzer Videos von alten Menschen, die sich nicht an die Ausgangssperren halten. Der Tenor ist fast immer gleich: Man solle die Vorgaben der Führung beachten. Wer sich nicht an die Anweisungen aus Ankara halte, begehe einen Fehler.
In der zentraltürkischen Stadt Konya wurden am Wochenende zwei Personen, die sich nicht an die Quarantänebestimmungen und die Ausgangsbeschränkungen gehalten hatten, mit einer Geldstrafe in Höhe von 6300 Lira belegt, umgerechnet fast 1000 Euro. Das Paar war einem Zeitungsbericht zufolge zuvor aus Deutschland eingereist und hätte sich eigentlich in 14-tägige Quarantäne begeben müssen.

Ein Fahrer mit Mundschutz fährt inmitten des Coronavirus-Ausbruchs eine Straßenbahn entlang der Istiklal-Straße, der Haupteinkaufsstraße in Istanbul.
Von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet scheinen die Maßnahmen Ankaras sinnvoll und mit Bedacht gewählt. Bereits seit dem 16. März bereits sind Restaurants, Friseurläden und andere Geschäfte geschlossen. Danach hat sich das exponentielle Wachstum bei Neu-Infizierten tatsächlich verlangsamt. Am 16. März selbst stieg die Zahl der Neuinfizierten im Vergleich zum Vortag noch um 161 Prozent. Tags darauf lag der Anstieg bei 109 Prozent, danach fiel er bis zum 20. März auf 87 Prozent. Seitdem fiel der tägliche Anstieg sogar auf 41 und schließlich auf 31 Prozent pro Tag.
Dass die Unterstützung in der Bevölkerung so groß ist, überrascht trotzdem. Die Akp-geführte Regierung in Ankara ist nämlich alles andere als beliebt beim Volk. Ob bei möglichen Bestechungszahlungen im Fall der regierungsnahen NGO Kizilay, beim Vorgehen des türkischen Militärs in Syrien oder beim mangelnden Wirtschaftswachstum: Medien und weite Teile der Bevölkerung lassen inzwischen kaum eine Möglichkeit aus, die Administration in Ankara offen anzugreifen.
Beim Corona-Krisenmanagement sieht es anders aus. Offenbar traut ein großer Teil der Bevölkerung Erdogans Regierung weiterhin zu, eine solche Krise zu meistern. Die Regierungspartei Akp nutzt das aus – und könnte gestärkt aus dieser Phase hervorgehen.
Mehr: Die aktuellen Entwicklungen zur Coronakrise im Newsblog.
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