Türkei „Wir wollen einfach nur Frieden“

Viele Türken wollen den Kampf gegen die PKK nicht führen. Sie wollen Frieden.
Istanbul Schon den ganzen Tag steht Esra Aygün in der Sonne. Am Nachmittag ist es etwa 35 Grad heiß, das merkt auch die 24-jährige Studentin aus Istanbul. Sie hat sich ein Papier-Shirt übergezogen und hält ein Plakat aus Pappe in die Luft. Damit steht sie am Fähranleger im Stadtteil Kadiköy auf der asiatischen Seite der Stadt, wo stündlich hunderte Pendler mit der Fähre ankommen. Ab und zu muss sie es herunternehmen, weil es auf die Dauer zu schwer wird. Aber jedes Mal, wenn ein neues Boot anlegt, hält sie es wieder in die Luft. „Seid ihr euch dessen bewusst?“, beginnt der Text auf dem Plakat, „diejenigen, die den Krieg angezettelt haben, werden nicht sterben“.
Der Satz steht für viele Aktionen des Staatsapparats gegen seine eigenen Bürger. In den vergangenen Jahren hat der einstige Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, inzwischen Staatspräsident, einige kleine Kriege angezettelt. Er hat den Protest junger Leute gegen den Abriss des Istanbuler Gezi-Parks, mit Polizeigewalt beendet; fünf Menschen starben dabei. Er ließ Staatsanwälte versetzen, die wegen Korruptionsvorwürfen gegen Erdogan ermitteln wollten. Er klagte Journalisten an, die angeblich falsche Geschichten über ihn publiziert haben. Und seit Ende Juli greift das Militär im Auftrag Erdogans Stellungen der linksradikalen PKK an, mit der Erdogan vor zwei Jahren noch selbst eine Waffenruhe ausgehandelt hat. Am Wochenende gab es wieder Tote: Bei einer Schießerei und einem Anschlag kamen mehrere Menschen ums Leben. Ein Soldat und drei Kämpfer der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK starben am Sonntag nach Informationen aus Sicherheitskreisen bei einem Gefecht in einem ländlichen Gebiet in der Provinz Kars im Osten des Landes.
Was halten die Menschen in Istanbul von Erdogans Politik? Ein Stadtspaziergang.
Der Stadtteil Kadiköy auf der asiatischen Seite ist vergleichbar mit Prenzlauer Berg in Berlin. Tatsächlich liegt der Stadtteil ebenfalls auf einem Hügel – vor allem aber hat es viele Künstler, Intellektuelle und junge Familien hier hingezogen. Es gibt viele Ausgehmöglichkeiten und die Menschen auf der Straße sind jung. Einer von ihnen ist Oguzcan Ünver. Der 29-Jährige hat eine App entwickelt, mit der Forschungsabteilungen großer Konzerne ihre Projekte besser mit den Mitarbeitern koordinieren können. Weil sein Büro zu klein ist, trifft er sich mit Geschäftspartnern lieber im Starbucks um die Ecke. „Solange die Innenpolitik tagtäglich wechselt, halten sich die Unternehmen mit ihrer Budgetplanung zurück, als erstes bei komplizierten und teuren Projekten, wie wir sie anbieten“, ärgert sich Ünver. Er ist sich sicher, dass die Gesellschaft allgemein liberaler werde. „Nächstes Jahr werden die Kämpfe vorbei sein, und dann wird auch die Stimmung besser.“
Nicht alle sehen das so. Özgür Altug, Chefökonom beim Analysehaus BGC Partners, hat sein Büro im Stadtteil Levent auf der europäischen Seite. Im Geschäftszentrum der Stadt wachsen regelmäßig neue Wolkenkratzer in die Höhe. Altug sieht im Scheitern der Gespräche für eine Große Koalition eine große Enttäuschung. „Kommt es tatsächlich zu Neuwahlen, wird die politische Unsicherheit noch weitere sechs Monate anhalten. Das würde an den türkischen Märkten eine ernsthafte Korrektur auslösen, die mit Sicherheit länger als einen Monat andauern wird.“
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