Überwachung Wie Chinas Sozialkreditsystem deutsche Unternehmen trifft

Jedes in China engagierte Unternehmen und jede Privatperson muss sich dem chinesischen „Kreditsystem“ stellen.
Peking Über eine Zweigstelle von Adidas heißt es: Sie sei bei einer Stichprobenkontrolle in Schanghai durchgefallen. Überprüfte T-Shirts hätten nicht den Qualitätsstandards entsprochen. Unter anderem bei der „Wasseraufsaugung vor dem Waschen“ habe es Mängel gegeben. Über den Industriekonzern Siemens steht in der Datenbank: Das Unternehmen sei „A-Level-Steuerzahler“. Der Chemiegigant BASF wird als „fortgeschritten zertifiziertes Unternehmen“ gelobt.
Jedes in China engagierte Unternehmen und jede Privatperson muss sich dem chinesischen „Kreditsystem“ stellen. Es war als allumfassendes System geplant, mit eng vernetzten Datenbanken und automatisierten Konsequenzen. Alle sollten nahezu grenzenlos digital überwacht – und möglicherweise sanktioniert werden, so die Befürchtung. Wer sich in der Volksrepublik gut verhält, bekommt Privilegien, wer sich schlecht verhält, muss mit schweren Konsequenzen rechnen.
Doch ein Jahr nach einer entscheidenden Umsetzungsphase zeigt sich: Das System funktioniert nur in Teilen und ist längst nicht so digital wie proklamiert. Das zeigt eine Studie des Berliner China-Thinktanks Merics, die dem Handelsblatt exklusiv vorab vorliegt. Das Jahr 2020 habe offengelegt, so heißt es darin, „wie sehr die Digitalisierung in bestimmten Bereichen noch hapert“. Ausgerechnet China – das sich gern als Super-Digitalmacht inszeniert.
„Man hat das Bild von einem einheitlichen System im Kopf, in dem alles hochdigital ist“, sagt Katja Drinhausen, eine der Autorinnen der Studie. „Das Sozialkreditsystem ist aber tatsächlich weit von einem einheitlichen System entfernt und hochfragmentiert“, so Drinhausen. „Es ist auch sehr wenig digital.“ Die Einträge kommen von den Aufsichtsbehörden und werden meist nicht digital automatisch aktualisiert, sondern manuell – und sind lückenhaft.
Entwarnung für die Überwachten gibt es dennoch nicht – insbesondere nicht für Firmen. Denn auch wenn das System vor allem wegen seines Effekts auf Individuen bekannt geworden ist, Unternehmen stellen laut Merics-Analyse das „Hauptziel“ des Systems dar. „Chinesische Bürger sollen mehr Vertrauen in chinesische Unternehmen haben“, erklärt Drinhausen. Das solle den Wettbewerbsnachteil von chinesischen Unternehmen auf dem Binnenmarkt gegenüber ausländischen Unternehmen ausgleichen.
Willkür ohne Grenzen
Doch auch wenn es bei Weitem noch nicht die Tragweite hat wie anfangs befürchtet, ist das System problematisch. So lässt vor allem die Fragmentierung Raum für „traditionelle Kanäle der individuellen und politischen Einflussnahme“, heißt es in dem Merics-Bericht. Individuen und Unternehmen müssten sich in verschiedenen Vorschriften, Listen und Ratingsystemen zurechtfinden. Der Willkür vor allem bei den Strafen durch Lokalregierungen sind damit keine Grenzen gesetzt.
Obwohl die chinesische Regierung mit anderen Projekten die digitale Überwachung vorantreibt, etwa mit Smart Cities, bleibe das Sozialkreditsystem „die am wenigsten digitalisierte von Chinas technikgetriebenen Überwachungsinitiativen“, heißt es in dem Bericht. Zu einem ähnlichen Urteil war auch die auf China spezialisierte Unternehmensberatung Trivium vor Kurzem in einem umfassenden Report über das System gekommen.
„Die derzeitige technologische Ausgereiftheit des Corporate Social Credit System wird im öffentlichen Diskurs sowohl innerhalb als auch außerhalb Chinas überbewertet“, heißt es darin. Obwohl China Technologien erprobe, die darauf ausgelegt sind, betriebliche Verstöße aus der Ferne zu erkennen, sei kein Fall bekannt, in dem eine automatisierte Datenerfassung zur automatischen Anwendung von Sanktionen ohne das Eingreifen menschlicher Regulierungsbehörden geführt habe.
Die Merics-Forscher sehen darin trotzdem eine Art Paradigma für Chinas Zukunft. Das System werde in den nächsten Jahrzehnten zu einem „bestimmenden Merkmal der chinesischen Regierungsführung“. Das Kreditsystem werde in den kommenden Jahren noch ausgebaut werden.
Auf der einen Seite bietet das System die Chance, dass etwa Umweltschutzstandards systematischer überwacht und nachgehalten werden. Auf der anderen Seite droht das System zum perfekten Repressions- und Zensurinstrument zu werden.
Alle großen deutschen Unternehmen stehen jetzt schon in den Verzeichnissen – teilweise mit guten Noten, aber auch mit Tadel. In zwei öffentlich und frei zugänglichen Datenbanken können Unternehmen schauen, ob und welche Einträge sie haben: Zum einen bei Creditchina, einer Datenbank der nationalen Entwicklungs- und Reformkomission (NDRC) und zum anderen auf einer Seite der chinesische Regulierungsbehörde State Administration of Market Regulation (SAMR).
Die Datenbanken sollen eine Prangerwirkung haben und gleichzeitig das Vertrauen vor allem in die Unternehmen erhöhen – insbesondere in die chinesischen, denn die haben oft ein schlechteres Image im Vergleich zu etwa deutschen Firmen.
40 schwarze Listen
Es gibt insgesamt rund 40 schwarze Listen, auf die Unternehmen kommen können, etwa eine Liste zu Umweltvergehen oder bei Verstößen gegen geistiges Eigentum. Darunter fallen auch Ratings, bei denen Unternehmen anhand von Skalen bewertet werden. Wer sich nicht wie gewünscht verhält, muss mit Strafen rechnen – völlig an Gerichten vorbei.
„Es gab den Fall eines deutschen Unternehmens, das ein schlechtes Steuerrating bekommen hatte“, sagt Luisa Kinzius, die als Projektleiterin bei der auf China spezialisierten Berliner Unternehmensberatung Sinolytics Firmen zum Sozialkreditsystem berät. „Das führte dazu, dass es Probleme bei bürokratischen Prozessen bekam, die auch außerhalb des Bereichs Steuern lagen, etwa bei der Produktlizenzierung.“
Laut der Merics-Studie sind 47 Institutionen in China an der Entwicklung des Sozialkreditsystems beteiligt. Die übergeordnete Führung liegt beim chinesischen Staatsrat, eine Art Kabinett Chinas, der NDRC und der chinesischen Zentralbank.
Europäische Wirtschaftsvertreter hatten bereits 2019 vor den Folgen des Systems gewarnt. Eine Umfrage der Auslandshandelskammer (AHK) in Peking unter ihren Mitgliedern hatte damals ergeben, dass die meisten Unternehmen nicht viel von dem Sozialkreditsystem wissen.
Eine solche Umfrage würde heute wahrscheinlich anders ausfallen. Etwa 30 bis 40 deutsche Unternehmen hat allein die auf China spezialisierte Unternehmensberatung Sinolytics bereits zu dem Thema beraten. Insbesondere große Konzerne haben inzwischen sogar eigene „Sozialkredit-Manager“ in China, die sich hauptsächlich um das Thema kümmern.
Große Unsicherheit in der Wirtschaft
Seit 2019 hat es nach der Kritik von Unternehmensvertretern laut Experten durchaus Verbesserungen gegeben, „die dem System den größten Schrecken genommen haben“, wie Sinolytics-Beraterin Kinzius sagt. „Eine wichtige Verbesserung ist, dass Unternehmen jetzt mehr Klarheit und eindeutige Regeln haben, wie sie wieder von den Listen kommen.“
Dennoch sei die Unsicherheit in der Wirtschaft weiterhin groß, wann man auf einer schwarzen Liste lande, sagt Sinolytics-Beraterin Kinzius. „Das liegt auch daran, dass es sehr aufwendig und komplex ist, die entsprechenden Sozialkreditsystem-spezifischen Regeln und Dokumente zusammenzutragen, denn sie sind nicht an einer Stelle zentral gesammelt.“
Laut der Merics-Studie liegen Tausende Dokumente verstreut auf den Webseiten von Ministerien sowie auf provinzieller oder städtischer Regierungsebene.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.