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Unterwegs mit Flüchtlingsrettern auf dem Mittelmeer Im Herz der Finsternis

Auf dem Mittelmeer häufen sich die Auseinandersetzungen zwischen der libyschen Küstenwache und zivilen Hilfsorganisationen. Brutale Übergriffe behindern die Rettung von Geflüchteten. Ein Erlebnisbericht von Bord eines Rettungsschiffs.
12.11.2017 - 16:46 Uhr Kommentieren
Helfer nähern sich dem völlig überfüllten Schlauchboot. Im Hintergrund wartet die Aquarius darauf, die Geflüchteten aufnehmen zu können. Quelle:  Anthony Jean
Rettung im Mittelmeer

Helfer nähern sich dem völlig überfüllten Schlauchboot. Im Hintergrund wartet die Aquarius darauf, die Geflüchteten aufnehmen zu können.

(Foto:  Anthony Jean)

Mittelmeer, an Bord der Aquarius Max Avis lehnt an der Reling und fixiert mit seinem Fernglas den kleinen, schwarzen Punkt, der da am Horizont zittert. Der Punkt wächst und bekommt Konturen. Bald verwandelt er sich in ein blaues Boot. Menschen winken. Ein Mann hält eine orangefarbene Rettungsweste in die Luft.

Seit mehr als einer Woche warten Avis und seine Kollegen auf diesen Moment. Avis ist stellvertretender Einsatzleiter an Bord der Aquarius, eines Rettungsschiffs von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen. In Tag- und Nachtschichten hatten sein Team und er abwechselnd jeden Zentimeter des weiten Blaus vor sich abgesucht. Gesehen hatten sie nichts. Bis jetzt.

„Ein Boot hält Kurs auf uns“

Starker Wind in Richtung libyscher Küste hatte in den vergangenen Tagen Flüchtlingsboote daran gehindert abzulegen. Sie konnten die großen Brandungswellen nicht überwinden, um internationale Gewässer zu erreichen. Dort, wo die Aquarius patrouilliert. 25 Seemeilen vor der libyschen Stadt Sabratha.

Avis‘ Funkgerät beginnt zu rauschen. Seine Chefin Madeleine Habib meldet sich. Sie bittet die Crew, sich an Deck zu versammeln. Etwa 25 Personen, Rettungskräfte, Mediziner, Techniker, lauschen dort ihren Worten: „Ein Boot hält Kurs auf uns. Und noch ein weiteres nähert sich“, sagt Habib. „Wir wissen nicht, ob das die libysche Küstenwache ist. Bitte haltet euch an meine Funksprüche. Das könnte kompliziert werden.“

Die Crew bereitet sich auf ihren Einsatz vor. Helme und Rettungswesten werden festgezogen. Der gelbe Arm eines Krans hebt ein oranges Boot, „Rib 1“, über die Reling der Aquarius. Mit einem lauten Platschen landet es im Wasser. Max und sein Team, mit dabei eine Ärztin und ein Übersetzer, klettern darauf.

Auf hoher See kann sich der Wellengang schnell ändern

Während Rib 1 und kurz darauf das zweite Rettungsboot, Rib 2, auf das blaue, etwa sechs Meter lange Boot zusteuern, telefoniert Habib mehrmals mit dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC), der Rettungsleitstelle in Rom, die die Bergung Schiffbrüchiger im Mittelmeer koordiniert.

Noch gleicht der Ozean einem glatten Teppich. Doch auf hoher See ändern sich die Bedingungen schnell. Da Habib im Hauptjob Kapitänin ist, weiß sie, dass höhere Wellen das Boot jederzeit kentern lassen können. Es kann nur wenig Benzin aufnehmen und ist überfüllt.

Rib 1 erreicht die Neuankömmlinge. Max und seine Leute verteilen Rettungswesten. Die Ärztin fragt ab, wer medizinische Hilfe benötigt. Sie forscht in Gesichtern, achtet auf Atmung und Körperhaltung, ehe sie an die Brücke funkt, von der aus Habib die Lage beobachtet.

„Das Geschäft mit der Verzweiflung brummt“

Die Medizinerin berichtet von 20 Geflüchteten, darunter vier Frauen und fünf Minderjährige. Ein kleiner Junge habe Schwierigkeiten zu atmen, vermutlich eine Lungenentzündung, rauscht es aus Habibs Funkgerät. Einige Personen seien schwer dehydriert. Jemand erbricht sich.

Die Rettung darf beginnen

Nach internationalem Recht müssen Menschen in Seenot gerettet und an einen sicheren Ort gebracht werden. Die Crew der Aquarius könnte also die ersten Personen auf das Rettungsboot hieven.

Da bekommt SOS-Projektkoordinatorin Habib neue Anweisungen des MRCC, die sie per Funk an Avis weitergibt: „Die libysche Küstenwache ist unterwegs und wird in zehn Minuten eintreffen. Sie wird die Rettung koordinieren. Wir sollen kooperieren.“

Alle „für die Rettung nicht essenziellen Personen“ ordert die Australierin zurück auf die Aquarius. Gemeint sind zwei Fotografen, die die Seenotretter begleiten. Schließlich drosseln die Fahrer die Motoren der Ribs. Avis und sein Team schaukeln jetzt in einigen Meter Entfernung zu den Menschen im blauen Boot.

Zurück nach Libyen will niemand

Die erfahren nicht, warum sie warten müssen. Wüssten sie von der nahenden Küstenwache, es könnte Panik ausbrechen. Denn zurück nach Libyen will niemand.

In Libyen und vor seiner Küste spielt sich seit Jahren eine humanitäre Katastrophe ab. Allein zwischen 2014 und 2017 starben oder verschwanden laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) mehr als 12 400 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer. Unterstützt von der Europäischen Union bindet sich die Libysche Küstenwache (LCG) seit Herbst 2016 immer stärker in die Bergung Schiffbrüchiger ein.

Im August 2017 rief die LCG einseitig eine „Such- und Rettungszone“ von bis zu 74 Seemeilen aus, das sind gut 140 Kilometer. Dieses Areal ragt weit über die zwölf Seemeilen umfassenden Territorialgewässer Libyens hinaus – und hinein in internationale Gewässer. Die LCG erklärte sich dort dennoch allein für die Seenotrettung zuständig; Völkerrechtler bezweifeln diese Rechtsauffassung.

Die LCG drohte Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich dort aufhalten, mit Gewalt. Aus Sorge um ihre Besatzung ließen NGOs wie Ärzte ohne Grenzen, Sea-Eye oder Save the Children ihre Schiffe zeitweise in den Häfen.

Geflüchtete werden zu Sex-Sklaven

Die Crew der Aquarius lässt sich nicht abschrecken. Sie will eine Lücke schließen, die durch das Ende der italienischen Rettungsoperation Mare Nostrum 2014 entstanden ist. Seither patrouillieren verstärkt zivile Hilfsorganisationen auf dem Mittelmeer.

Allein 2016 retteten sie 46.796 Menschen, mehr als die italienische Küstenwache oder die italienische Marine und übernahmen 40 Prozent aller Rettungseinsätze.

Das gefällt nicht jedem. Ihre Präsenz unterbinde das lukrative Geschäft „rivalisierender Netzwerke“, Migranten auf See einzufangen und an Internierungslager zu verkaufen, schreibt der britische Investigativjournalist Daniel Howden im Online-Magazin „Refugees Deeply“.

Diese Praxis bestätigt auch der UN-Bericht „Migrants at Sea“. Aufgegriffene Geflüchtete würden als Sex-Sklaven oder Zwangsarbeiter eingesetzt.

Einige Regierungen und Beamte der Europäischen Union werfen den zivilen Seenotrettern indes vor, das Geschäft der Schleuser zu befeuern und wie Magneten noch mehr Flüchtlinge anzuziehen. Eine These, die zwei aktuelle Studien der Universität Oxford sowie des Instituts Forensic Oceanography an der Goldsmith-Universität London widerlegen.

Im August setzten italienische Behörden das deutsche Schiff Juventa in Sizilien auf Basis dünner Beweise fest. Ebenfalls im Sommer legte Italien einen Verhaltenskodex auf, der die Arbeit der NGOs stärker kontrollieren, Kritiker sagen, erschweren soll. In Italien finden 2018 Parlamentswahlen statt.

Dass noch mehr Flüchtlinge kommen, wollen europäische Regierungen verhindern. Auch in den Sondierungsgesprächen für eine Jamaika-Koalition gehört die Begrenzung der Migration zu den größten Streitfragen.

Avis und sein Team wollen sich von politischem Geplänkel nicht beeinflussen lassen. Gäbe es wieder eine europäische Rettungsmission in ähnlichem Umfang wie Mare Nostrum, würde die Aquarius ankern, sagt Avis. Doch danach sieht es nicht aus.

Die Retter dürfen nicht retten

Die Sonne brennt vom Himmel, doch die Retter dürfen nicht retten. Seit 20 Minuten dümpeln sie nun schon neben dem blauen Boot. Internationales Seerecht verpflichtet die Crew der Aquarius zu retten. Doch die Anweisungen des MRCC waren deutlich.

Die Geflüchteten, alles Libyer, werden langsam nervös. Avis bittet sie, sitzen zu bleiben.

Etwas entfernt schippern zwei weitere Boote, ihre Insassen beobachten die Situation. Es könnten Motordiebe sein, vermutet die Crew. Hyänen des Mittelmeers, die auf ihre Chance lauern. Von der Küstenwache ist indes nichts zu sehen. Mehrfach versucht Habib, sie anzurufen. Doch niemand meldet sich.

Neun Wochen Einsatz, sechs Wochen Pause

Avis hat schon viele Rettungen erlebt. Seit mehr als einem Jahr arbeitet er auf der Aquarius. Ein Einsatz dauert bis zu neun Wochen. Danach braucht er mindestens sechs Wochen Pause, um das Erlebte zu verarbeiten.

Der 30-jährige Brite weiß, dass der erste Kontakt mit einem Flüchtlingsboot darüber entscheidet, ob es eine gute Rettung wird. Der Arabisch-Dolmetscher und er müssen laut und deutlich sprechen.

Eine beruhigende Körpersprache ist wichtig. Klare Botschaften. Unsicherheit verursacht Stress, Stress führt zu Panik, aus Panik stürzen Menschen ins Wasser oder erdrücken andere auf oft gnadenlos überfüllten Booten.

Avis hat schon Rettungen erlebt, bei denen die Menschen tagelang auf See waren. Sich zu zehnt einen Quadratmeter teilten. Vor lauter Durst begonnen hatten, Salzwasser zu trinken, dem Wahnsinn nahe. Situationen, „in denen Menschen alles tun würden, um zu überleben“, sagt Avis.

Er möchte lieber schnell helfen. Er weiß, was passieren kann, wenn die LCG einfährt. Er war bei einer Massenrettung dabei, die Mitglieder der LCG aufmischten. Auf der Suche nach Notfällen waren die Ribs zwischen Flüchtlingsbooten hindurchgeglitten, es seien etwa 20 gewesen, darin um die 2.500 Menschen, erinnert sich Avis.

Ein bewaffnetes Schnellboot der Küstenwache

Andere NGO-Schiffe halfen. Gemeinsam, so schildert es Avis, konnten sie fast alle Menschen mit Rettungswesten ausrüsten. Da tauchte plötzlich die LCG auf einem bewaffneten Schnellboot auf. Avis erzählt später:

Ihre Mitglieder schossen herum, in die Luft, ins Wasser. Sie rasten zwischen den Schlauchbooten hindurch. Versuchten, sie in Richtung libyscher Küste zu treiben. Doch die Menschen wissen, was dort passiert.

Libyen erhält aus Europa humanitäre Hilfe. Die EU und ihre Mitgliedstaaten helfen dem Land aber auch dabei, Migranten von der Flucht abzuhalten, und geben seiner Küstenwache Training und Ausrüstung.

In der diesen Februar verabschiedeten Malta-Erklärung, die „illegale Zuwanderungsströme“ über das Mittelmeer eindämmen soll, unterstützten die EU-Ratsmitglieder, also die Staats- und Regierungschefs, zudem die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Italien und Libyen, die in einem „Memorandum of Understanding“ definiert ist.

Das Papier verpflichtet Italien, sowohl die libysche Küstenwache als auch Libyens Innenministerium, das Internierungslager für Migranten beaufsichtigt, „technisch und finanziell“ zu unterstützen. Die Lager sollen laut dem Memorandum Gelder von Italien und der Europäischen Union beziehen.

Diese Kooperation ist mindestens heikel. Denn inzwischen sprechen nicht nur Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen und die Vereinten Nationen von Folter und Vergewaltigung in Internierungslagern. Anfang des Jahres berichtete die deutsche Botschaft in Nigers Hauptstadt Niamey nach Informationen der „Welt am Sonntag“ von „allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen“ und „KZ-ähnlichen Verhältnissen“.

Die Zusammenarbeit in der Migrationskontrolle mit Libyen, einem Gebilde, bei dem fraglich ist, ob es die Bezeichnung Staat verdient, verschärft die Situation zwischen NGOs und LCG auf See.

Sie sprangen ins Wasser

Avis erzählt, wie die Situation eskalierte, als die LCG die Geflüchteten in ihren Booten bedrängte:

Sie sprangen, etwa 60 Leute waren im Wasser. Ein Mann schwamm etwas abseits, ohne Rettungsweste. Er schaffte es nicht, auf eines der Holzboote zu klettern. Ich frage einen Typen mit einer AK47 Kalaschnikow, ob wir ihn retten dürfen. Er sagt: „Nein, lasst ihn im Wasser.“ Ich sage: „Er wird sterben.“ Das war ihm egal. Ich begann zu flehen: „Ihr habt doch schon ein Boot voller Leute, lasst uns diesen Mann retten.“ Er willigte schließlich ein. Der Mann im Wasser, was hatte der für ein Glück.

Von ähnlichen Zwischenfällen berichten auch andere Organisationen. Am 21. Oktober 2016 erlebte die Crew der deutschen Organisation Sea-Watch 2 einen Übergriff während einer vom MRCC in Rom beauftragten Rettung. Angehörige der LCG hätten ein voll besetztes Schlauchboot geentert, mit Stöcken auf die Migranten eingeprügelt und die Crew der Sea-Watch daran gehindert, Rettungswesten zu verteilen. Die Menschen gerieten in Panik und stürzten ins Wasser. Etwa 30 seien ertrunken.

Die Crews werden bedroht — und beschossen

Andere NGOs berichten, ihre Crews seien von der LCG nicht nur bedroht, sondern auch beschossen (das Schiff Bourbon Argos von MSF: August 2016) und kurzzeitig geentert worden (Mission Life‧line: September 2017, Sea-Watch: April 2016). Oder dass die LCG Crew-Mitglieder nach Libyen verschleppt habe (Sea-Eye: September 2016).

Eine Kleine Anfrage der Linken an die Bundesregierung dokumentiert die Fälle. Auf eine Kleine Anfrage der Grünen vom September 2017 antwortet die Bundesregierung, sie weise die libysche Einheitsregierung darauf hin, dass die Einrichtung eines libyschen Rettungsbereiches „keine Ausweitung der libyschen Hoheitsgewalt“ bedeute und es nicht zu „völkerrechtswidrigen Einschränkungen von Seenotrettungen“ kommen dürfe.

„Obwohl die libysche Küstenwache seit Oktober 2016 von der EU ausgebildet und ausgestattet wird, bleibt sie unberechenbar“, sagt Ellen van den Velden, MSF-Verantwortliche für Libyen und die Seenotrettung im Mittelmeer.

Das liegt auch daran, dass gar nicht so klar ist, wer sich hinter „der“ Küstenwache verbirgt und wem ihre Mitarbeiter dienen. Laut der Kleinen Anfrage der Linken vom 29. Mai 2017 sind der Bundesregierung Vorfälle bekannt, bei denen „einzelne Angehörige von Teilen der libyschen Küstenwache mit Schleusernetzwerken zusammengearbeitet haben“.

Schwere Menschenrechtsverletzungen

Verstrickungen und schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber Migranten auf See kritisieren auch zwei UN-Berichte. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex meldet in einem Bericht von 2016, dass „erneut libysche Behörden in Schmuggelaktivitäten involviert“ seien.

„In Libyen kommen sie in Lager“
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