US-Jobmarkt „Die Pandemie hat die Machtverhältnisse verändert“ – Arbeiter in den USA bekommen mehr Einfluss

Amazon will allein in den USA weitere 125.000 Menschen einstellen.
New York 19 Monate ist es her, da wurde Christian Smalls von Amazon entlassen, nachdem er in seinem Lagerhaus einen Protest organisiert hatte, um besseren Schutz vor Covid zu fordern. Heute steht er wieder vor dem Amazon-Lagerhaus in Staten Island in New York – diesmal, um eine Gewerkschaft für die Mitarbeiter zu organisieren.
Je nach Tageszeit verteilt Smalls mit seinen Mitstreitern außer Flugblättern auch Kaffee, Pizza oder frisch gebratenes Fleisch vom Grill. Finanziert wird das Ganze durch eine „GoFundMe“-Kampagne, die Geld aus allen Teilen des Landes sammelt.
Smalls und die anderen Männer und Frauen vor dem Tor tragen rote Hoodies, auf denen die weißen Letter A.L.U. prangen: „Amazon Labor Union“. Eine Amazon-Gewerkschaft, das ist wohl der Albtraum des Firmengründers Jeff Bezos.
Im gewerkschaftsfeindlichen Alabama hatte Bezos einen ähnlichen Versuch im Frühjahr abwehren können. Doch in New York ist man optimistischer. Smalls hat bereits genug Unterschriften eingesammelt, dass die Mitarbeiter über die Einführung einer Gewerkschaft zumindest abstimmen können. Mindestens 50 Prozent der Beteiligten müssen für die Gewerkschaft stimmen, damit diese auch Realität wird.
Smalls ist überzeugt: „Das hier ist New York, nicht Alabama. New Yorker sind anders. Die Energie hier ist anders.“ Außerdem habe sich die Verhandlungsposition von Arbeitern in diesen Zeiten, in denen Unternehmen verzweifelt nach Mitarbeitern suchen, grundsätzlich geändert: „Die Arbeiter realisieren ihren Wert. Und dementsprechend wollen sie auch bezahlt werden!“
Die Pandemie hat die Machtverhältnisse verändert
Die neue Macht der Arbeiter macht sich überall in den USA bemerkbar. Nicht nur bei Amazon, sondern auch bei Starbucks wollen Mitarbeiter Gewerkschaften organisieren. Bei dem Landmaschinenhersteller John Deere haben die gewerkschaftlich organisierten Angestellten zwei Wochen lang gestreikt und damit bereits Lohnerhöhungen und eine bessere Rentenversorgung für mehr als 10.000 Menschen erreicht.
Auch in den Oreos- und Kellogg-Fabriken streiken die Arbeiter für bessere Bedingungen. Und selbst in Hollywood hätte beinahe die Produktionen stillgestanden, weil Kameraleute, Beleuchtungstechniker und Assistenten für Kostüm und Maske damit gedroht haben, ihre Arbeit niederzulegen. Erst im letzten Moment haben die Studios eingelenkt.
Die Professorin Anat Lechner von der NYU Stern School of Business ist überzeugt: „Das ist erst der Anfang“. Vielen Konzernen sei es in der Pandemie schließlich prächtig ergangen, und nun wollten die Mitarbeiter ihren Teil davon abbekommen. Seit Beginn des Jahres habe es bereits 177 Streiks gegeben, deutlich mehr als in anderen Jahren. „Die Arbeitgeber sitzen nicht mehr am längeren Hebel“, erklärt Lechner. Die Stimmung im Land sei noch nie so gewerkschaftsfreundlich gewesen wie heute.
„Die Pandemie hat die Machtverhältnisse verändert“, meint auch die auf Gewerkschaften spezialisierte Professorin Michelle Kaminski von der Michigan State University. „Covid hat gezeigt, wie wichtig die Arbeiter sind“, sagt sie. „Die Arbeiter sind es leid, schlecht behandelt zu werden. Sie wollen würdevoll behandelt werden, und das ist vielerorts nicht der Fall.“
Smalls’ Versuch, das Amazon-Lager in Staten Island gewerkschaftlich zu organisieren, beobachtet Kaminski daher mit großem Interesse. „Das könnte Signalwirkung haben“, sagt die Arbeitsrechtsexpertin, mahnt aber auch, dass so etwas wegen der Gesetze in den USA Jahre dauern kann. Außerdem hätten Unternehmen immer noch die Chance, die Mitarbeiter in Versammlungen während der Arbeitszeit davon zu überzeugen, dass eine Gewerkschaft nicht nötig sei und nur unnötige Gebühren koste.
Auch Christian Smalls weiß, dass er in Staten Island noch viel Überzeugungsarbeit leisten muss: „Viele jüngere Menschen haben nie von Gewerkschaften gehört. Die wissen gar nicht, wofür die gut sind“, berichtet er. „Und manche haben Angst, dass Amazon sich rächt, wenn sie sich für eine Gewerkschaft starkmachen“, weiß der gekündigte Amazon-Mitarbeiter, der gegen seine Entlassung geklagt hat und noch immer auf den Ausgang des Prozesses wartet.
Konzerne wollen Arbeiter locken
Einen öffentlichen Konflikt wird Amazon wahrscheinlich vermeiden wollen. Denn das Unternehmen braucht dringend Mitarbeiter. Erst Mitte September hat Amazon bekannt gegeben, dass es allein in den USA weitere 125.000 Menschen einstellen will. Das wird nicht einfach sein: Mehr als zehn Millionen unbesetzte Jobs gibt es laut dem US-Arbeitsministerium derzeit in den USA. Dem stehen nur acht Millionen Arbeitssuchende gegenüber.

Der Amazon-Mitarbeiter will eine Gewerkschaft organisieren.
Um Mitarbeiter zu locken und an sich zu binden, haben gleich mehrere große US-Konzerne ihre Löhne freiwillig erhöht, zahlen Boni beim Jobantritt oder übernehmen Uni-Gebühren für das Studium nebenbei.
Der Einzelhändler Walmart hat allein im Jahr 2021 den Stundenlohn dreimal angehoben, zuletzt auf 16,40 Dollar. Starbucks, Amazon und Target haben ihren Stundenlohn auf 15 Dollar erhöht. Das entspricht zwar in teuren Orten wie New York ohnehin dem Mindestlohn, der nur knapp zum Leben reicht. Aber in anderen Regionen kann man mit 15 Dollar die Stunde durchaus eine Wohnung und Essen finanzieren.
Es sind auch längst nicht nur die einfachen Arbeiter, die zuletzt bessere Bedingungen aushandeln konnten. Auch bei qualifizierten Jobs rumort es, und die Mitarbeiter verlangen bessere oder andere Bedingungen: Lisa Michaels (Name von der Redaktion geändert) etwa hätte nie gedacht, dass sie jemals so viel Druck auf ihre Chefs ausüben könnte. Die 25-Jährige war im vergangenen Frühjahr aus ihrer kleinen Wohnung in San Francisco geflohen und bei ihrer Schwester in Denver untergekommen.
Dort gab es mehr Platz und sogar einen kleinen Garten. Ihren Job als Vertrieblerin für ein Softwareunternehmen konnte sie von überall aus machen, da die Firma ihre Büros vergleichsweise schnell geschlossen und die „Work from anywhere“-Phase eingeläutet hatte.
Als das Unternehmen nun alle wieder zurück nach San Francisco beorderte, stieß das Topmanagement auf ungeahnte Widerstände. „Ich wollte nicht zurück nach San Francisco“, sagt Michaels. „Und meinem ganzen Team ging es genauso.“
Also haben alle Vertriebler signalisiert, dass sie sich andere Jobs suchen würden, falls sie zurück in die Zentrale gezwungen werden. „Und auf einmal waren alle ganz freundlich und zuvorkommend. Denn das Unternehmen kann es sich nicht leisten, alle von uns auf einmal zu verlieren“, erzählt sie und weiß: „Das wäre früher undenkbar gewesen.“
Die Arbeitsrechtexpertin Kaminski rät Unternehmen, ihren Mitarbeitern gut zuzuhören, um zu verstehen, was sie von ihrem Arbeitgeber erwarten und wo mögliche Probleme liegen. „Sie müssen ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das physisch und mental nicht schädlich ist“, sagt sie.
„Es hat in den vergangenen 30 Jahren keinen besseren Moment gegeben!“
Den Arbeitnehmern dagegen rät sie, die Gunst der Stunde zu nutzen. „Es hat in den vergangenen 30 Jahren keinen besseren Moment gegeben!“, ist sie überzeugt. Und wenn sie wollten, dass ihre Gehaltserhöhungen auch von Dauer sind und nicht einfach beim nächsten Abschwung wieder kassiert werden, dann sollten sie so schnell wie möglich einer Gewerkschaft beitreten, rät Kaminski.
Auch die NYU-Professorin Lechner ist längerfristig eher pessimistisch, was die steigenden Gehälter angeht. „Das Ganze könnte sich als kurzfristiger Sieg für die Arbeiter herausstellen“, gibt sie zu bedenken.
Lechner mahnt, dass die höheren Löhne die Unternehmen noch mehr motivieren werden, ihre Abläufe zu automatisieren und auf Künstliche Intelligenz zu setzen. „Dann könnten wieder Millionen Jobs verlieren“, so Lechner. Bis dahin können die Mitarbeiter aber wohl noch ein paar Jahre die guten Zeiten genießen.
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