US-Präsident Bidens Infrastrukturpaket wird zum riskanten Billionen-Poker

Der US-Präsident genießt nicht die Mehrheitsverhältnisse im Kongress, die andere demokratische Präsidenten mit ähnlichen Zielen vor ihm hatten.
Washington Wenn die USA am kommenden Sonntag ihren wichtigsten Feiertag zelebrieren, muss Präsident Joe Biden eine gemischte Zwischenbilanz ziehen. Zwar ist der Aufschwung überall spürbar, in der Produktion, auf dem Jobmarkt, im Tourismus. Doch das erste Mal wird Biden ein Versprechen nicht einlösen können. Biden wollte, dass 70 Prozent der Erwachsenen bis zum amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli gegen Covid geimpft sind. Stattdessen werden es 67 oder 68 Prozent sein. Auf dem Papier ist die Lücke nicht dramatisch. Doch ausgerechnet, wenn die aggressive Delta-Variante auf dem Vormarsch ist, gerät das US-Impfprogramm ins Stocken.
Der Rückstand beim Impfen zeigt, dass zentrale Ziele schwieriger zu erreichen sind als vom Weißen Haus kalkuliert. Dieses Prinzip gilt auch für Bidens geplantes Comeback des starken Staates. Der Präsident betrachtet die Theorie der Trickle-down-Ökonomie, nach der Wohlstand gleichsam von oben nach unten sickert, als gescheitert. Für einen Kurswechsel in der US-Wirtschaft wollte er die Steuern für Unternehmer und Reiche erhöhen, das Land in eine grüne Energiewende führen und die Sozialprogramme für US-Verhältnisse radikal umbauen.
Vier bis sechs Billionen US-Dollar sollen Bidens Vision einer gerechten, sauberen und wettbewerbsfähigen Zukunft nach der Pandemie finanzieren. Doch im Moment ist noch nicht einmal sicher, ob sich der US-Kongress auf rund eine Billion Dollar für ein Infrastrukturpaket einigen kann. „Die Zeit wird knapp“, sagte Biden-Biograf Stephen Wayne dem Portal USA Today. In der Geschichte der USA erzielten die meisten Präsidenten ihre größten Errungenschaften früh in ihrer Amtszeit. Dazu dürften die Kongresswahlen im kommenden Jahr das politische Geschäft weitgehend lahmlegen. „Ich fürchte, er wird am Ende nicht so viel schaffen, wie er will“, so Wayne.
Ende vergangener Woche sah es zunächst nach einem Durchbruch aus, auf den das politische Washington, Unternehmer und Investoren seit Monaten gewartet hatten. „Wir haben einen Deal“, erklärte Biden nach Monaten zäher Verhandlungen für eine Infrastrukturreform. Stolz stellte er sich mit einer Gruppe demokratischer und republikanischer Senatoren ins Sonnenlicht vor das Weiße Haus. So ein überparteilicher Schulterschluss war nach den polarisierenden Jahren unter Donald Trump selten geworden.
„Noch im Juli“, so Biden, sollen 1,2 Billionen in Straßen, Brücken, Nahverkehr, Breitband, E-Ladestationen, moderne Wasserleitungen, Häfen und Stromnetze gepumpt werden. So viel wurde in den USA seit fast hundert Jahren nicht mehr am Stück in Infrastruktur investiert. Aktuell führt eine Katastrophe in der Metropole Miami die marode Infrastruktur der USA erneut vor Augen: Ein Hochhaus kollabierte und tötete die meisten Bewohner im Schlaf, rund 150 gelten als in den Trümmern verschüttet.
Biden setzt alles auf eine Karte
An den Börsen wurde die Einigung auf ein Infrastrukturpaket euphorisch aufgenommen, Aktien im industriellen Sektor schlossen am Freitag im Rekordhoch. Und tatsächlich könnte ein Konzept, das Bidens Demokraten und die republikanische Opposition zufriedenstellt, im US-Senat die 60 Stimmen bekommen, die für die meisten Gesetze erforderlich sind. Die Demokraten halten in der hundertköpfigen Kongresskammer 50 Sitze. Sie können nur unter strengen Umständen bestimmte Haushaltsgesetze im Alleingang verabschieden – und nur dann, wenn Vizepräsidentin Kamala Harris das Patt im Senat mit ihrer demokratischen Stimme bricht.
Doch jetzt droht das Paket zu scheitern, noch bevor es in einen Gesetzestext gegossen werden kann. Schuld daran ist eine komplexe Gemengelage aus knappen Mehrheiten, Konflikten bei Bidens Demokraten – und dem Umstand, dass Biden eine riskante, zweigleisige Strategie fährt.
Der US-Präsident machte noch am Freitag deutlich, dass die Infrastruktur-Reform ein Türöffner sein soll für neue, größere Investitionen. Er kämpfe „wie verrückt“ dafür, dass der Kongress parallel ein weiteres Paket vorbereite, das Klimaschutz, Steuererhöhungen, bezahlbare Bildung, Pflege, Kinderbetreuung und vieles mehr enthalte – notfalls nur mit den Stimmen der Demokraten. Biden setzt damit alles auf eine Karte: Entweder es gibt zwei Pakete oder keines. Sollte der Kongress nur ein Infrastrukturgesetz beschließen wollen, „unterschreibe ich es nicht“, betonte Biden. „Es gibt das Paket nur im Tandem.“
Dieser Satz sorgt in Washington für Aufruhr und zum Teil auch Ungläubigkeit. Ein derart wagemutiges Experiment hätten manche Beobachter Biden, der sich als Senator einen Ruf als überparteilicher Vermittler erarbeitete, nicht zugetraut. Zwar hatten die Chef-Demokraten in Senat und Repräsentantenhaus, Chuck Schumer und Nancy Pelosi, stets klargemacht, dass ihnen ein Infrastrukturpaket nicht genüge. So verzichtet der Kompromissvorschlag auf Steuererhöhungen, die Klimawende bleibt außen vor. Doch viele Wirtschaftslobbyisten hatten eigentlich damit gerechnet, dass sich Biden zunächst mit der Infrastruktur-Billion zufriedengeben würde.
Die Republikaner wüten: „Das ist Erpressung“
Offenbar rechneten damit auch viele Republikaner. Der Senator und Trump-Vertraute Lindsey Graham hat den Infrastruktur-Kompromiss mit verhandelt, jetzt will er abspringen. Sollte Biden auf weitere Billionenausgaben bestehen, „kann er das vergessen“, wütete Graham am Wochenende. „Das ist Erpressung. Da machen wir nicht mit“, sagte er laut „Politico“ in einer Telefonschalte mit seiner Partei. „Wir sehen sonst aus wie verdammte Idioten, das wäre ein Selbstmordkommando.“ Andere republikanische Senatoren äußerten sich ähnlich. Insgesamt bräuchte Biden zehn Republikaner im Senat und sämtliche Demokraten, um das Infrastrukturpaket durch den Kongress zu bekommen.
Doch gibt es überhaupt genügend Rückhalt für die Reform? Und was würde danach passieren? Rein rechnerisch ist ein zusätzliches Megapaket möglich durch die Verfahrensregel der sogenannten „budget reconciliation“. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich ein mächtiges Instrument, mit dessen Hilfe Ex-Präsident Barack Obama 2010 seine Gesundheitsreform durchdrückte und Ex-Präsident Donald Trump 2017 seine Steuerreform.
Dank der „budget reconciliation“ können Bidens Demokraten bestimmte Haushaltsgesetze mit einfacher Mehrheit von 51 Stimmen beschließen, anstatt mit 60 Stimmen. Biden nutzte die Regel zuletzt im März, um das knapp zwei Billionen Dollar schwere Covid-Hilfspaket verabschieden zu können. Damals debattierte der Kongress fast 25 Stunden am Stück. Gesetze per „budget reconciliation“ sind extrem kompliziert – jede Änderung und jeder Abweichler kann in letzter Minute alles torpedieren.
Biden selbst wirkt in diesen Tagen aufgeräumt und gelassen, trotz der hohen Hürden und der Ungewissheit. „Es geht um Vertrauen“, sagte er im East Room des Weißen Hauses, kurz nach der überparteilichen Einigung am Donnerstag. „Wir können alles schaffen, wir sind die USA.“ Vizepräsidentin Harris stand anerkennend nickend neben ihm. Er verlasse sich auf sein Gespür, seine Erfahrung, betonte Biden. „Ich kenne die Demokraten, kenne viele Republikaner, und ich kenne den Kongress“, sagte der Präsident lächelnd. „Ich saß mehr als 30 Jahre darin.“
Die Gelassenheit lässt sich mit strategischen Überlegungen erklären. Offenbar will das Weiße Haus den Ball eine Weile auf der Seite der Republikaner lassen. Bleiben Teile der Opposition an Bord, so das Kalkül, könnte Biden nicht nur ein Infrastrukturpaket, sondern womöglich auch weitreichende neue Investitionen als Erfolg verbuchen.
Und zieht sich die Opposition endgültig aus den Verhandlungen um Infrastruktur zurück, stünden die Republikaner blamiert da – nicht der Präsident, der sich um eine überparteiliche Lösung bemühte. Die allermeisten Bürger unterstützen nämlich neue Ausgaben für Infrastruktur. In diesem Fall bliebe Biden immer noch der Alleingang über die „budget reconciliation“. Die Demokraten könnten ihre Billionen-Investitionen dann nach ihren Wünschen gestalten.
Kein demokratischer Senator darf krank werden – oder sterben
Für den Präsidenten bergen all diese Variante große Risiken. Er hat keine andere Wahl, als an zusätzlichen Billionenausgaben festzuhalten – sonst rebelliert der linke Flügel seiner Partei. Unter dem Motto „Kein Klima, kein Deal“ sammeln sich demokratische Senatoren, die nur dann für die Infrastrukturreform stimmen wollen, wenn ein weiterführendes Paket garantiert ist. „Ich bin nicht bereit, auf Klimaschutz zu verzichten“, sagte der Chef des Finanzausschusses im Senat, Ron Wyden. „Mit mir gibt es nur mehrere Pakete.“
Auch das Repräsentantenhaus, die zweite Kammer des Kongresses, könnte die Infrastruktur-Reform blockieren. „Wir müssen mehr tun, das reicht nicht“, kommentierte die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez den Kompromiss. Allein ihre Clique aus linken Kongressfrauen, der sogenannte „Squad“, hätte genügend Stimmen, um das Paket einzufrieren. So lange, bis das Gerüst für größere Ausgaben steht.
Ziehen Biden und die Demokraten ihre zweigleisige Strategie durch, steht Washington vor einem brutalen Kampf um Steuererhöhungen und eine neue Schuldenobergrenze. Biden genießt schlichtweg nicht die Mehrheitsverhältnisse im Kongress, die andere demokratische Präsidenten mit ähnlichen Zielen vor ihm hatten. Für Biden könnten sich parteiinterne Konflikte deshalb noch zum größten Problem dieses Sommers entwickeln.
Während Parteilinke wie Bernie Sanders und Elizabeth Warren auf Investitionen bis zu sechs Billionen Dollar drängen, pochen Moderate wie der Senator Joe Manchin und die Senatorin Kyrsten Sinema auf eine Obergrenze von zwei Billionen US-Dollar. Angesichts dieser Differenzen ist die „budget reconciliation“ keine goldene Lösung: Schert auch nur ein demokratischer Senator oder eine Senatorin aus, stehen Biden und die Demokraten im Kongress als handlungsunfähig da.
Und es gibt noch ein weiteres Risiko, über das in Washington immer wieder spekuliert wird. Es ist ein Szenario, über das die US-Demokraten nicht gern öffentlich sprechen. Weil sie im Senat exakt 50 Sitze halten, dürfen sie keine einzige Stimme wegen gesundheitlicher Probleme oder Schlimmerem verlieren. Fällt auch nur ein Senator oder eine Senatorin aus – das Durchschnittsalter in der Kammer ist 63 Jahre – war’s das mit der demokratischen Mehrheit. „Der Verlust ihrer Macht ist buchstäblich einen Herzschlag entfernt“, so drückt es eine Diplomatin aus.
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