USA Wie ein rigides Abtreibungsgesetz dem Wirtschaftsstandort Texas schadet

Texas hat ein Gesetz verabschiedet, das Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche faktisch verbietet.
San Francisco Da platzte dem Gründer und Chef des US-Softwarekonzerns Salesforce, Marc Benioff, der Kragen: „Ohana, if you want to move, we’ll help you exit TX. Your choice“, schrieb Benioff an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wer als Familie („Ohana“ ist hawaiianisch für Familie) mit der Entwicklung in Texas unter dem republikanischen Gouverneur Greg Abbott nicht zufrieden sei, könne mit seiner Familie auf Unternehmenskosten in einen anderen Bundesstaat umziehen, ließ der Konzernchef mit einem Faible für Hawaii die Belegschaft des Web-Giganten wissen.
Das neue Abtreibungsgesetz in dem libertär-konservativ geprägten Bundesstaat war der Auslöser für sein Angebot. Auch andere Unternehmen überlegen deshalb, ob sie Texas den Rücken kehren sollen. Steht ein „Texit“, ein Exodus aus Texas bevor?
Texas hat eines der schärfsten Gesetze in den USA zur Abtreibung verabschiedet. Es verbietet faktisch jede Abtreibung nach der sechsten Schwangerschaftswoche, ein Zeitpunkt, zu dem viele Frauen noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind. Dann sei ein Herzschlag zu vernehmen und damit jede Abtreibung illegal, heißt es in dem Gesetz mit dem Namen „Heartbeat Bill“. Dass Mediziner und Wissenschaftler bestreiten, dass ein sechswöchiger Fötus bereits ein schlagendes Herz habe, wird dabei ignoriert.
Dazu kommt eine Finte, die auch die Gegner des Gesetzes neidlos als genialen Schachzug anerkennen: Der Staat selbst setzt dieses Gesetz gar nicht durch. Jeder Bürger und jede Bürgerin in Texas wird gewissermaßen zum Staatsanwalt. Wer Wind von einer Abtreibung bekommt, die gegen das neue Gesetz verstößt, kann die Frauen und alle „Helfer“ anzeigen: Mütter, Schwestern, Freundinnen, Ärztinnen, Krankenhäuser, Väter oder Brüder. Damit sich das Ganze für die Denunzianten lohnt, bekommen sie bei einer Verurteilung vom Staat alle Kosten ersetzt – und zusätzlich eine Prämie von 10.000 Dollar.
Das ist selbst im konservativen Süden der USA ohne Beispiel. Es ist noch zu früh, um die Folgen der christlich-fundamentalistischen Wende unter Gouverneur Abbott abzusehen. Aber es ist schon klar, dass es Folgen für den Wirtschaftsstandort Texas haben dürfte. Als vor gut zwei Jahren der Bundesstaat Georgia ein ähnlich scharfes Gesetz durchpeitschen wollte, zog sich die amerikanische Filmindustrie von den Drehorten dort zurück, bis das Gesetz blockiert wurde.
Schon heute hat der Ruf, Texas sei eine liberale Tech-Oase, an Glanz verloren – etwa durch verschärfte Wahlgesetze, die fast ausschließlich die sozial schwache und farbige Bevölkerung treffen. Sollte das umstrittene Abtreibungsgesetz durch den mittlerweile republikanisch geprägten Obersten Gerichtshof endgültig legitimiert werden, könnten die Folgen gravierend werden.

Der Chef des Softwarekonzerns Salesforce bietet seiner Belegschaft Hilfe beim Umzug aus Texas an.
Über Jahre hatte sich Texas als moderner Bundesstaat verkauft, als idealer Standort für Technologieunternehmen und Wahlheimat für Familien von High Potentials aus allen Bereichen der New Economy, die den extrem hohen Lebenshaltungskosten im kalifornischen Silicon Valley entkommen wollten. Neben den heimischen Tech-Riesen wie Dell entschlossen sich immer mehr Unternehmen, ihr texanisches Standbein zu stärken, so wie Salesforce, Facebook oder Apple.
Andere wie Hewlett Packard Enterprise (HPE) oder Oracle verlegten ihre Zentralen ganz nach Texas. Niedrige Steuern und billiges Bauland lockten. Diese Entscheidungen könnten sich als fatal erweisen, wenn es in Zukunft um die Anwerbung von Tech-Experten geht.
Zwar kann man noch nicht von einem „Texit“ sprechen, aber es formiert sich Widerstand. Das Biochemie-Start-up Solugen aus der texanischen Metropole Houston mit gut 120 Mitarbeitern etwa hat bereits angekündigt, man werde den weiteren Ausbau in anderen Bundesstaaten vorantreiben. Nach eigenen Angaben ist eine kurzfristige Verdopplung der Mitarbeiterzahl geplant, die in Forschung und Entwicklung arbeiten sollen – und zwar in Kalifornien oder Massachusetts.
Solugen-CEO Gaurab Chakrabarti redet dabei nicht um den heißen Brei herum: „Wir sind zu der Entscheidung gekommen, nachdem wir mit vielen Kandidaten gesprochen haben, die gern gekommen wären, aber sich nicht wohlfühlten bei dem Gedanken, nach Texas umzuziehen.“ Das Thema „Texas“ sei praktisch in jedem Bewerbungsgespräch hochgekommen.
Solugen war in Seattle gegründet worden, zog dann nach San Francisco und schließlich 2000 nach Texas. Jetzt werden wieder Mitarbeiterinnen für Kalifornien gesucht. Das Unternehmen wird von großen Wagniskapital-Firmen aus Kalifornien wie dem Founders Fund finanziert.
Taxifahrer könnten wegen Beihilfe angeklagt werden
Die beiden großen Fahrdienstanbieter Uber und Lyft werden nach eigenen Angaben Fahrerinnen und Fahrern Rechtskosten „in jeder Höhe“ ersetzen, falls diese wegen des Abtreibungsgesetzes verklagt werden sollten. Das Risiko ist hoch. Denn wer eine Schwangere – wissentlich oder unwissentlich – zu einer Abtreibung fährt, kann wegen Beihilfe angeklagt werden. „Wir werden nicht damit anfangen, Kunden auszufragen, warum sie wo hinwollen“, sagte ein Uber-Sprecher. Das gehe die Unternehmen gar nichts an.
Auch andere Firmen wie das Online-Umfrageinstitut Question Pro aus dem texanischen Austin beziehen Stellung, aber eher verhalten. CEO Vivek Bhaskaran rief alle weiblichen Mitarbeiter zu einer Videokonferenz zusammen, so die „Washington Post“, und verkündete, das Unternehmen werde alle Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch außerhalb von Texas übernehmen. „Ich kann nicht alles ändern“, so der Firmenchef, „aber ich habe eine moralische Verantwortung für meine Mitarbeiterinnen in Texas.“
Zwei große Datingportale, Bumble Inc und die Match Group aus Texas haben sich sehr schnell und klar gegen die neuen Gesetze ausgesprochen. Sie haben Frauen an der Führungsspitze und offenbar einen ganz anderen Blickwinkel als so mancher männliche CEO und Gründer.
Wie etwa John Gibson von der Videospielefirma Tripwire Interactive. Er sei glücklich, jubelte er per Twitter, dass der Oberste Gerichtshof „Abtreibungen mit einem Herzschlag“ untersage. Als „Entertainer“ mische er sich selten in die Politik ein, aber mit „so vielen Stimmen auf der Gegenseite“ sei es ihm wichtig, sich als „Pro-Life“-Anhänger, also als Abtreibungsgegner, zu outen.
Dann ging alles ganz schnell: Gibson setzte das Statement an einem Samstag ab. Nach einer stürmischen Diskussion im Netz und der Drohung von wichtigen Spieleentwicklern, ihre Zusammenarbeit aufzukündigen, teilte das Unternehmen am folgenden Montag mit, Gibson sei als CEO zurückgetreten, und seine Ansichten stellten nicht die von Unternehmen und Mitarbeitern dar.

Der Tesla-Chef will in Texas eine neue Fabrik bauen.
Viele Manager halten sich angesichts der aufgeheizten Stimmung mit einer klaren Positionierung lieber zurück. Prominentester Vertreter ist der sonst eher streitlustige texanische Neubürger Elon Musk. Der texanische Gouverneur zerrte ihn öffentlich in den Ring, als er verkündete, Musk „liebe die Sozialpolitik in Texas“ und habe Kalifornien verlassen, weil er mit der Sozialpolitik dort nicht zufrieden gewesen sei.
Tesla-Chef Musk, der eine Fabrik im gewerkschaftsfeindlichen Texas bauen will und mit SpaceX dort Raketen entwickelt, war das sichtlich unangenehm. „Grundsätzlich“, so entgegnete Musk auf Twitter nebulös, „sollten Regierungen den Menschen ihren Willen nicht aufzwingen. Wenn sie es tun, sollten sie dabei das Glück aller maximieren. Ansonsten würde ich es vorziehen, mich aus der Politik herauszuhalten.“
Auch HPE hielt sich beim jüngsten Analystengespräch bedeckt, was die neue Wahlheimat angeht. Aber ein Unternehmenssprecher deutete gegenüber „Newsweek“ an, dass die Krankenversicherungspolice des Unternehmens Behandlungen außerhalb von Texas decke, und merkte an, dass Abtreibungen eben auch zum Leistungsumfang gehörten.
Für Musk und andere könnte sich allerdings eine klare Haltung auszahlen. Nach einer Umfrage von Morning-Consult waren 46 Prozent der Verbraucher dafür, dass ihre bevorzugten Marken sich klar öffentlich positionieren, 39 Prozent wollen das nicht, und 15 Prozent waren unentschieden.

Der texanische Gouverneur (M.) nach der Unterzeichnung eines Gesetzes.
Erste Klagen wurden schon eingereicht. Schon bald könnte es zu einem Präzedenzfall kommen. Der Arzt Alan Braid gab etwa in einem Beitrag in der „Washington Post“ bekannt, er habe in Texas eine Abtreibung unter Verletzung des neuen Gesetzes vorgenommen. Er wisse, dass dies für ihn rechtliche Konsequenzen haben könnte. Aber der Arzt, der nach eigenen Angaben seit über 40 Jahren praktiziert, argumentierte, er habe aus Verantwortung gegenüber den Patientinnen gehandelt und wolle zudem sicherstellen, dass Texas mit dieser „eklatanten Verletzung der Verfassung“ nicht durchkommen werde.
Jetzt ist der Ball wieder im Feld von Gouverneur Abbott und den ultraorthodoxen Christen, die jetzt schneller als erwartet jenen Präzedenzfall bekommen könnten, der dann seinen Weg bis zum Obersten Gerichtshof in Washington machen dürfte. Und viele Unternehmenslenker werden sich erneut Gedanken machen müssen, auf welcher Seite sie stehen.
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Das gute an konservativen Staaten ist sie verwalten den Status quo immer recht brauchbar.
Allerdings kommen Innovationen meist aus liberalen Staaten oder Gesellschaften.
Wir haben ja nun selbst 16 Jahre "guten" Stillstand hinter uns, nur innovativ waren wir meist nicht.
Ich bin gespannt wie sich Texas langfristig entwickelt. Ich vermute trotz des Störfeuers mit der Abtreibungsregelung, konservativ an der Grenze aber im Kern liberaler.
"Dazu kommt eine Finte, die auch die Gegner des Gesetzes neidlos als genialen Schachzug anerkennen: Der Staat selbst setzt dieses Gesetz gar nicht durch. Jeder Bürger und jede Bürgerin in Texas wird gewissermaßen zum Staatsanwalt." In einem für mich insgesamt interessanten Artikel eine irritierende Passage. Vielleicht ist man in Deutschland aufgrund seiner Geschichte in puncto Denunziantentum auch besonders sensibilisiert, aber ich kann darin nichts Geniales entdecken und es klingt weniger nach einer freiheitlichen Demokratie als vielmehr nach PRC, Nordkorea o.ä.