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Vereinigtes KönigreichBritisches Gesundheitssystem in der Krise
Fehlende Krankenhausbetten, verschobene Operationen und zu wenig Pflegekräfte: Eine schwere Grippewelle und der bevorstehende Brexit bringen den britischen Gesundheitsdienst ins Wanken. Ärzte und Experten schlagen Alarm.
Immer mehr britisches Gesundheitspersonal kündigt den Job - wegen Überlastung und schlechter Bezahlung.
(Foto: AP)
London Eine 81-jährige Frau mit Brustschmerzen stirbt, während sie vier Stunden lang auf einen Notarzt wartet. Eine junge Frau liegt fünf Stunden mit Beschwerden auf einem Krankenhausflur. Patienten im ganzen Land werden auf Klinikfluren behandelt oder stecken in Rettungswagen fest, weil keine Betten frei sind: In diesem Winter häufen sich die tragischen Nachrichten aus dem britischen Gesundheitssystem. Und nach Ansicht von Ärzten und Experten steckt dahinter nicht die übliche saisonale Belastung.
Die landesweite Krise, heißt es, sei jetzt zu spüren, weil das System seit Jahren unterfinanziert worden sei. Die Entscheidung Großbritanniens, im kommenden Jahr die Europäische Union zu verlassen, verschärft die Situation für den Nationalen Gesundheitsdienst NHS zusätzlich: „Es ist nicht so, dass nur ein paar faule Äpfel oder leistungsschwache Organisationen dabei sind“, sagt John Appleby, Chefvolkswirt bei der gesundheitspolitischen Denkfabrik Nuffield Trust. „Es ist komplett systembedingt.“
Kaum eine Institution in Großbritannien ist so wichtig für das Alltagsleben im Vereinigten Königreich wie der NHS. Der 1948 gegründete Gesundheitsdienst sollte nach dem Krieg zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen. Viele Briten sind stolz auf den staatlichen Service, der steuerfinanziert eine kostenfreie medizinische Versorgung für alle bietet. Politiker aus dem gesamten Spektrum loben den NHS und sichern ihm ihrem bedingungslosen Rückhalt zu.
Doch zugleich ist der Dienst ein schwerfälliger Koloss, der mehr als eine Million Mitarbeiter beschäftigt und nur schwer mit den wachsenden Anforderungen zurechtkommt. Angesichts der schlimmsten Grippewelle seit Jahren und einer schweren Brechdurchfall-Welle hat sich in diesem Winter die Krise zugespitzt. Zum Ärger von Patienten und Ärzten mussten die Behörden Tausende Operationen und andere medizinische Behandlungen verschieben.
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Zu den Betroffenen gehört Glynis Murphy aus Südengland. Die Wissenschaftlerin rief kürzlich einen Krankenwagen für ihren Sohn, der seit zwei Tagen unter immer stärkeren Bauchschmerzen litt. „Ich konnte meinen Sohn oben vor Schmerzen schreien hören“, erzählt sie. „Am Ende sagte mir die Notrufzentrale, es könne kein Rettungswagen geschickt werden. Ich war total schockiert.“
Murphy fuhr ihren Sohn schließlich selbst ins Krankenhaus, wo die Ärzte einen Blinddarmdurchbruch feststellten und operierten. Der Rettungsdienst äußerte zwar Bedauern, erklärte aber, wegen einer hohen Zahl an Notfällen hätten keine Krankenwagen zur Verfügung gestanden.
Solche Geschichten gehören inzwischen zum Alltag. Zum Teil geht das Problem auf knappe Mittel zurück. Seit die konservativ geführte Regierung im Jahr 2010 wegen der globalen Finanzkrise Sparmaßnahmen verhängte, stieg das Budget des NHS um etwa ein Prozent pro Jahr. Aber die Nachfrage nahm aufgrund des demografischen Wandels und der wachsenden britischen Bevölkerung um vier Prozent zu.
Die meisten britischen Krankenhäuser verfehlen regelmäßig Ziele wie die Zusage, 95 Prozent aller Patienten in der Notaufnahme innerhalb von vier Stunden zu versorgen. Der Brexit macht die Lage noch komplizierter: Das Votum vom Juni 2016 stellte die Zukunft von drei Millionen Europäern in Großbritannien in Frage. Einige verließen bereits das Land, andere ließen sich abschrecken, überhaupt einzureisen. Medizinisches Personal aus der EU ist seither schwerer zu finden, das bislang fünf Prozent der NHS-Beschäftigten ausmacht.
Brexit: Auf in die zweite Etappe - aber wie?
London
Einem von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der britischen Premierministerin Theresa May verkündeten Durchbruch vorige Woche folgte sofort neuer Zwist. Brexit-Minister David Davis fuhr nach Hause und sagte, man werde die gerade zugesagten Zahlungen von bis zu 45 Milliarden Euro an die EU nur leisten, wenn ein Handelsvertrag zustande komme. Die Bedeutung der Zugeständnisse im Kompromisspapier spielte er herunter, heißt es doch darin: „Nichts ist abgemacht, bevor alles abgemacht ist.“
Brüssel
Natürlich weiß auch die EU: Der Austrittsvertrag ist noch nicht fertig und er gilt erst, wenn er unterschrieben und ratifiziert ist. Trotzdem reagierte man in Brüssel verärgert. Davis' Äußerungen seien „nicht hilfreich und höhlen das Vertrauen aus“, schäumte nicht nur der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments, Guy Verhofstadt. Die EU will nun so schnell wie möglich das Kompromisspapier in einen juristisch wasserdichten Vertragsentwurf übersetzen und damit die Briten so weit wie möglich festlegen.
London
Nächste Woche will die Regierung erstmals umfassend darüber beraten, wie sie sich die künftige Beziehung zur EU vorstellt. Klar ist, dass Großbritannien den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen will, um Zuwanderung selbst steuern und eigene Handelsverträge abschließen zu können. Trotzdem sollen Waren und Dienstleistungen ungehindert zwischen Großbritannien und dem Kontinent gehandelt werden. Das bezeichnet Davis in Anlehnung an den EU-Freihandelsvertrag mit Kanada als „Ceta plus plus plus“ - also eine deutlich verbesserte, besondere Variante.
Brüssel
Barnier sprach zuletzt ebenfalls von Ceta - allerdings ohne plus plus plus. Mehr als der kanadische Handelspakt sei durch die britische Abkehr von den Regeln des Binnenmarkts und der Zollunion ausgeschlossen. Die EU weckt vor allem Zweifel, dass sie britischen Finanzdienstleistern weiter Privilegien auf dem Binnenmarkt gewährt. In Brüssel gilt der Grundsatz: Ein Land außerhalb der EU kann nicht dieselben Vorteile genießen wie ein Mitglied. Der Austritt soll einen Preis haben.
London
Die Briten garantieren eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. Nur, wie sie das anstellen wollen, bleibt ein Rätsel. In dem Kompromisspapier werden drei Möglichkeiten genannt: Das gewünschte Handelsabkommen soll alles regeln; wenn das nicht klappt, will man „spezifische Lösungen“ vorschlagen; wenn das nicht klappt, will Großbritannien, so weit zur Vermeidung der Grenze nötig, die Regeln von EU-Binnenmarkt und Zollunion behalten, obwohl man die doch eigentlich verlassen will - die Rede ist auf Englisch von „full alignment“ der Vorschriften.
Brüssel
Auf der EU-Seite liest man Optionen eins und zwei als Wunschdenken und Option drei mit Verwunderung. Lässt das etwa die Möglichkeit offen, dass Großbritannien den Binnenmarkt und die Zollunion nur auf dem Papier verlässt? Einige in Brüssel interpretieren das so und werten es als große Blamage für die britische Regierung.
London
Rasch soll nun die künftige Partnerschaft geklärt werden, noch vor dem Brexit am 29. März 2019. „Dem Austrittsabkommen folgen, kurz nachdem wir raus sind, ein oder mehrere Abkommen, die verschiedene Aspekte der künftigen Beziehung abdecken“, teilte Brexit-Minister Davis offiziell mit. Der BBC sagte er, er erwarte schon zum Austritt ein substanzielles und unterschriftsreifes Handelsabkommen. Die Gespräche darüber würden einfach, glaubt London. Denn alle Vorschriften seien ja auf beiden Seiten gleich. Auf langwierige Verhandlungen könne man daher verzichten.
Brüssel
Die EU sieht das völlig anders. Davis „weiß sehr genau, was möglich ist und was nicht möglich ist“, sagte EU-Unterhändler Michel Barnier. Vor dem Brexit werde es nur das Austrittsabkommen geben, flankiert mit einer „politischen Erklärung“ zum Rahmen der künftigen Beziehungen. Der Abschluss eines detaillierten Handelsabkommens brauche „mehr Zeit“. Will sagen: Jahre. Auch deshalb soll es eine Übergangsphase von etwa zwei Jahren geben. Politisch heißt das aber: Großbritannien müsste die Pflichten des Austrittsabkommens erfüllen, ohne dass ein konkreter Zukunftsvertrag steht.
Die Zahl europäischer Krankenschwestern und Hebammen, die sich in Großbritannien registriert haben, fiel nach Angaben des zuständigen Berufsverbands zwischen September 2016 und September 2017 um fast 90 Prozent. Die Zahl der Abgänge stieg um 67 Prozent. Zugleich kündigen auch immer mehr britische Krankenschwestern ihren Job - wegen Überlastung und schlechter Bezahlung.
Die Finanzierung des Gesundheitsdienstes ist auch zum Streitpunkt zwischen Befürwortern und Gegnern des Brexits geworden. Fürsprecher eines EU-Austritts wie Außenminister Boris Johnson argumentieren, der britische Millionenbetrag für Brüssel könne künftig an den NHS gehen.
Zentralbankchef Mark Carney jedoch erklärte vor wenigen Tagen, der Brexit habe dem Wirtschaftswachstum in Großbritannien geschadet und das Land schon 200 Millionen Pfund (knapp 230 Millionen Euro) pro Woche gekostet. Die Politiker sind sich zwar einig, dass etwas passieren muss - was genau, ist aber hoch umstritten. Der Vorsitzende der oppositionellen Labour, Jeremy Corbyn, forderte kürzlich Sonderausgaben in Höhe von fünf Milliarden Pfund, um „den NHS vor dem Tod durch Tausende Kürzungen zu retten“.
Premierministerin Theresa May räumte ein, der Gesundheitsdienst erlebe „winterliche Belastungen“. Die Regierung stelle aber bereits mehr Geld zur Verfügung und werbe zusätzliche Ärzte und Krankenpfleger an, versicherte sie.
Allein am Geld liegt es wohl nicht. Siva Anandaciva, Chefanalyst bei der Gesundheitsstiftung King's Fund, spricht sich für grundlegende Änderungen in der Gesundheitsversorgung aus. „Man kann nicht einfach immer nur mehr Geld in den NHS pumpen“, sagt er. „Man muss ein paar schwierige Entscheidungen treffen. An einem bestimmten Punkt wird die Liebe für den NHS vielleicht zum Hindernis für Veränderung.“ Denkbar wären beispielsweise Gebühren, höhere Steuern oder eine größere Umstrukturierung - politisch sind sie aber praktisch nicht durchsetzbar.
3 Kommentare zu "Vereinigtes Königreich: Britisches Gesundheitssystem in der Krise"
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
G. Nampf
GB hat das Gesundheitssystem , das die SPD mit der Bürgeversicherung bei uns einführen will.
Sven NSA Euro
Warum die Information zum Gesundheitszustand von England? Liebes Handelsblatt ist es bei uns in Deutschland nicht auch so? Bekommt Ihr Schweigegeld dass Ihr über England schreiben müsst. Mich interessiert das nicht. Was in Deutschland passiert interessiert mich und bestimmt auch viele meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger.
locked...
Die haben ein Gesundheitssytem? Das wusste ich nicht
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
GB hat das Gesundheitssystem , das die SPD mit der Bürgeversicherung bei uns einführen will.
Warum die Information zum Gesundheitszustand von England? Liebes Handelsblatt ist es bei uns in Deutschland nicht auch so? Bekommt Ihr Schweigegeld dass Ihr über England schreiben müsst. Mich interessiert das nicht. Was in Deutschland passiert interessiert mich und bestimmt auch viele meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Die haben ein Gesundheitssytem?
Das wusste ich nicht