Währungsunion Härtetest für den Euro: Der Süden boomt – und häuft Schulden an

Italiens Wirtschaft kommt nach der Pandemie wieder in Fahrt. Aber wird der Aufschwung auch helfen, die Schulden abzubauen?
Athen, Rom, Madrid, Paris Als der Applaus nicht aufhören will, steht Mario Draghi auf, beschwichtigt mit den Händen, als seien ihm die Standing Ovations unangenehm. Die Jahresversammlung des italienischen Industrieverbands, der traditionell eine distanzierte Haltung gegenüber dem Politikbetrieb in Rom einnimmt, empfing den Premier kürzlich fast schon wie einen Star, mindestens jedoch wie den Retter des Landes.
Tatsächlich hat Draghi Verlässlichkeit in die italienische Politik gebracht, hat die Impfkampagne beschleunigt, hat einen viel gelobten Plan für die Milliarden aus dem EU-Wiederaufbaufonds vorgelegt und vor allem eine Reformagenda präsentiert. All das habe „das Vertrauen an den Märkten und gegenüber Italien gestärkt“, sagte Confindustria-Präsident Carlo Bonomi.
Ja, in Italien gibt es eine Aufbruchstimmung, die noch vor Kurzem kaum jemand für möglich gehalten hätte. Und das gilt nicht nur für Italien.
Auch in anderen südeuropäischen Staaten wie Frankreich, Spanien und selbst Griechenland keimt neuer Optimismus, verbunden mit einer kräftigen Erholung nach einem pandemiebedingten Rekordeinbruch im Jahr 2020.
Doch trotz aller Aufbruchstimmung – es gibt sie, die große Bürde: die immens gestiegene Staatsverschuldung. Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland stehen inzwischen gemeinsam für mehr als 60 Prozent der gesamten Euro-Zonen-Verschuldung.
In Relation zur Wirtschaftsleistung sind es in Griechenland inzwischen fast 210 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In absoluten Zahlen bleibt Italien mit 2,7 Billionen Euro der europäische Rekordhalter, inzwischen übrigens fast gleichauf mit Frankreich.

Die griechische Wirtschaft erholt sich schneller als erwartet, die Staatsschuldenquote soll im nächsten Jahr auf 190,4 Prozent fallen.
Und auch die relativ starken Wachstumsprognosen für das Jahr 2021 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lage nach wie vor fragil ist. Die südeuropäischen Volkswirtschaften sind im vergangenen Jahr mit Abstand am stärksten eingebrochen: Spanien mit 10,8 Prozent, gefolgt von Italien (8,9 Prozent) und Griechenland (8,2 Prozent).
In Deutschland waren es „nur“ 4,9 Prozent, und die größte Volkswirtschaft der EU wird auch die erste sein, die ihr Vorkrisenniveau wieder erreicht haben wird. Bei den vier Südeuropäern wird das noch dauern.
Doch es gibt auch Hoffnung: Der starke Aufschwung in Südeuropa hänge nicht nur mit dem Basiseffekt zusammen, sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung.
Generell erwartet er, dass die südeuropäischen Volkswirtschaften an Boden gutmachen werden, insbesondere gestärkt durch den EU-Wiederaufbaufonds. „Gerade Italien entwickelt sich besser als gedacht“, sagt Dullien. Auch er führt das auf die stabilen politischen Verhältnisse in Rom zurück.
Italien: neue Zuversicht für Europas Schuldenrekordhalter
Italien war das erste Land Europas, das die Pandemie auf dramatische Weise erfasst hatte. Rom verfügte einen ebenso langen wie harten Lockdown und Ende des Jahres kam noch eine Regierungskrise hinzu. Nach dem Einbruch 2020 korrigierten die Statistiker die Prognose für 2021 im Monatstakt nach oben.
Laut den Berechnungen des Finanzministeriums sollen es sechs Prozent Wachstum sein – mehr als die Euro-Zone (plus fünf Prozent). Auch im kommenden Jahr sollen es 4,7 Prozent werden.
Italiens neue Stärke beruht vor allem auf den widerstandsfähigen Unternehmen. Im zweiten Jahresdrittel war Italien laut der Beratungsgesellschaft Prometeia das einzige der großen europäischen Länder, das beim Warenexport das Vorkrisenniveau überschritten hat.
Das produzierende Gewerbe, Rückgrat des wirtschaftsstarken Nordens, zog zwischen April und Juni stark an, allein in der Lombardei wuchs die Produktion um 9,3 Prozent im Vergleich zum zweiten Quartal 2019 – also zur Zeit vor der Pandemie. In ganz Italien hat das produzierende Gewerbe im gleichen Zeitraum um 4,2 Prozent zugelegt.
Den Aufschwung dürfte gerade dort der EU-Wiederaufbaufonds beschleunigen, zeigt eine Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), die dem Handelsblatt vorliegt. Mit 192 Milliarden Euro wird Italien die meisten Mittel aus dem Fonds erhalten.
„Der Aufbauplan ist deutlich ehrgeiziger als jener der Vorgängerregierung, die nicht zuletzt an dieser Frage gescheitert war“, heißt es im IW-Papier. Ministerpräsident Draghi scheine die europäischen Gelder als echte Chance für eine Verbesserung der italienischen Wirtschaftsbedingungen nutzen zu wollen.

Der italienische Premier gibt den Unternehmen Hoffnung auf bessere Zeiten.
Sorgen machen allerdings internationale Entwicklungen, glaubt der italienische Ökonom Lorenzo Codogno von der London School of Economics. „Sie weisen darauf hin, dass Unternehmen aufgrund von Lieferengpässen, Produktionsbeschränkungen, Transportstörungen und sogar Fachkräftemangel Schwierigkeiten haben, mit der Nachfrage Schritt zu halten.“ Das könnte das Wachstum für einige Monate bremsen.
Es profitieren auch nicht alle Branchen gleichermaßen. Der Textil- und Modesektor, von der Pandemie arg gebeutelt, legte im ersten Halbjahr zwar um 24 Prozent zu. Branchenschätzungen zufolge werden die Umsätze am Ende des Jahres aber immer noch um sieben Prozentpunkte unter dem Niveau von 2019 liegen.
Die Hoffnung liegt nun auf dem Konsum: In der Pandemie haben die privaten Haushalte rund 26 Milliarden Euro mehr gespart als sonst. Confindustria schätzt, dass mindestens die Hälfte davon im letzten Jahresdrittel ausgegeben wird.
Auch der Tourismus leidet weiterhin. Während die Strandbäder in den Sommermonaten komplett ausgebucht waren, fehlen in den Kunststädten die Touristen. In Florenz etwa sind es immer noch 60 Prozent weniger im Vergleich zu vor der Pandemie.
4,5 Millionen Italiener weniger als in normalen Zeiten machten in diesem Jahr Urlaub, ganz zu schweigen vom Auslandstourismus, der wohl erst im Jahr 2023 wieder auf Normalniveau sein wird.
Zu guter Letzt könnte auch der fragile Arbeitsmarkt den Aufschwung bremsen. Zwar sind von Januar bis Juli 550.000 neue Jobs entstanden, die meisten davon sind aber befristet und im Niedriglohnsektor.
Im zweiten Jahresdrittel haben 72 Prozent der neu geschaffenen Jobs eine Vertragslaufzeit von maximal sechs Monaten. Das Prekariat wächst, gleichzeitig fehlen der Wirtschaft weiter eine halbe Million qualifizierte Fachkräfte. Obendrein ist die Frauenerwerbsquote mit 55 Prozent noch immer niedriger als in allen anderen Industrieländern.
Auch die Reformpläne im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds versprechen kaum Besserung, kritisiert das IW in seiner Analyse. Die hohe Belastung durch Lohnnebenkosten und das wenig produktivitätsorientierte Tarifsystem würden kaum angegangen. „Auch gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit finden sich zu wenige konstruktive Maßnahmen“, heißt es.
Die größte Sorge aber bleibt die Staatsverschuldung. Bis zum Jahr 2024 will Draghi die Schuldenquote von knapp 160 auf 146 Prozent senken. Das kann nur gelingen, wenn das Land seine chronische Wachstumsschwäche überwindet. Der „Retter Draghi“ – er hat noch ziemlich viel zu tun.
Frankreich: Investieren statt Sparen
Als der französische Finanzminister Bruno Le Maire im September seinen Haushaltsentwurf für das Jahr 2022 vorstellte, war er voller Zuversicht. „Das Wachstum ist da, und es ist kraftvoll“, sagte Le Maire. Zugleich machte er deutlich, dass Frankreich zumindest kurzfristig nicht zu einem ausgeglichenen Budget zurückkehren werde.
„Jetzt ist der Moment für Investitionen, um Frankreich für den wirtschaftlichen Erfolg der nächsten 15 bis 20 Jahre vorzubereiten.“ Die Coronakrise hält die französische Regierung für überwunden – und will nun mit massiven öffentlichen Investitionen den digitalen Wandel und den grünen Umbau der Wirtschaft vorantreiben.
In diesem Jahr rechnet die Regierung mit einem Wachstum von mehr als sechs Prozent und im nächsten Jahr mit immerhin noch vier Prozent. Ein wichtiger Treiber ist die Binnennachfrage.
Nach Angaben der Banque de France haben die französischen Haushalte während der Pandemie fast 160 Milliarden Euro angespart – die sie nun zunehmend ausgeben. Auch Unternehmen investieren wieder mehr und stellen ein. Die Beschäftigung kehrte bereits im Sommer auf den Stand von 2019 zurück, die Arbeitslosenquote liegt bei acht Prozent.
Allerdings läuft der Aufschwung ungleichmäßig ab. Der Tourismussektor verzeichnet weiter deutliche Einbußen. Der Chemiesektor und die Agrarbranche haben sich laut Banque de France wieder vollständig erholt, während Auto- und Luftfahrtindustrie weiterhin nur auf etwa drei Viertel des Vorkrisenniveaus liegen.
Schwachpunkt sei dabei vor allem der Außenhandel, hier rechnet die Zentralbank frühestens 2023 mit einer Besserung. Der Geschäftsklimaindex des Statistikamtes Insee ging im September leicht nach oben. Die Insee-Ökonomen betonen allerdings auch kurzfristige Risiken durch die steigenden Energiepreise und die Knappheit von Rohstoffen.
Mittelfristig muss die französische Wirtschaft noch viel größere Herausforderungen stemmen, das ist zumindest die Botschaft von Emmanuel Macron. Der Präsident will ein Programm mit dem Titel „Frankreich 2030“ auflegen, die Einzelheiten sollen im Oktober vorgestellt werden.
Im Gespräch sind öffentliche Investitionen in Höhe von 30 Milliarden Euro – in den Digitalbereich, Biotechnologie und klimaneutrale Industrie.
Die Regierung in Paris plant für 2022 mit einem Haushaltsdefizit von 4,8 Prozent des BIP. Das ist deutlich weniger als die 9,2 Prozent von 2020 und die 8,4 Prozent, die in diesem Jahr erwartet werden.
Doch die Staatsverschuldung dürfte auf absehbare Zeit deutlich über den Kriterien der Euro-Zone liegen. Aktuell liegt der Schuldenstand Frankreichs bei 115 Prozent des BIP. Aus dem französischen Finanzministerium heißt es, man dürfe nach der Krise „nicht zu brutal konsolidieren“.
In den kommenden Jahren will Paris schrittweise zwar wieder unter ein Haushaltsdefizit von drei Prozent kommen. Allerdings wünscht man sich, dass Investitionen in den grünen Umbau der Wirtschaft nicht auf dieses Kriterium der Euro-Zone angerechnet werden.
Frankreich setzt sich auch für eine Reform der Euro-Schuldenregeln ein. Am Drei-Prozent-Ziel wolle man nicht rütteln, heißt es im Finanzministerium. Doch angesichts der großen Spannbreite der Staatsverschuldung in der Euro-Zone stelle sich die Frage, ob das Ziel der Verschuldung von 60 Prozent des BIP noch realistisch sei.
Spanien: Schlusslicht unter den großen EU-Staaten
Nach Angaben des Institute for Internationale Finance (IIF) ist Spanien das Land, in dem die privaten und öffentlichen Schulden seit Ende 2019 am zweitstärksten gestiegen sind – nur knapp weniger als die von Griechenland und gefolgt von Singapur, Kanada und Frankreich.
Die Pandemie hat die öffentliche Schuldenlast um 24,4 Prozentpunkte auf knapp 120 Prozent des BIP in die Höhe getrieben. Im Durchschnitt der Euro-Zone sind es 14,1 Prozentpunkte.
Analysten fordern von der spanischen Regierung einen Plan, wie das Schuldenniveau mittelfristig wieder gesenkt werden kann. Die Regierung hat angekündigt, die Quote bis 2024 auf 112 Prozent zu senken – vor allem über ein starkes Wirtschaftswachstum.
Ob das gelingt, ist fraglich. Ende September schockte das Nationale Statistik-Instituts (INE) mit der Ansage, dass die Wirtschaft im zweiten Quartal nur 1,1 Prozent im Vergleich zum Vorquartal zugelegt hat. Das ist deutlich weniger als der Euro-Zonen-Schnitt von 2,2 Prozent.
Die spanische Zentralbank war in diesem Jahr von einem Wachstum von 6,3 Prozent ausgegangen. Zentralbankchef Pablo Hernández de Cos erklärte inzwischen aber, sein Institut werde diese Vorhersagen nun aktualisieren. Die Investmentbank JP Morgan hat das bereits getan und erwartet nun für dieses Jahr nur noch ein Plus von 4,5 Prozent.
Die Ratingagentur Moody’s erwartet, „dass Spanien das letzte der großen Euro-Zonen-Länder sein wird, das sein Vorkrisenniveau des BIP erreicht“.
Positive Signale dagegen gibt es zumindest vom Arbeitsmarkt, der eigentlich die große Schwachstelle Spaniens ist. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist im Juli und August wegen des anziehenden Tourismus deutlich gestiegen und liegt saisonbereinigt fast schon wieder auf dem Vorkrisenniveau.
Allerdings liegt die Arbeitslosenquote immer noch bei mehr als 15 Prozent, das ist der zweithöchste Wert in der EU nach Griechenland.
Griechenland: Haushaltsdefizit soll kräftig sinken
Auch die griechische Wirtschaft erholt sich schneller als erwartet. Die Regierung hat zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen ihre Wachstumsprognosen heraufgesetzt. Für das laufende Jahr erwartet Finanzminister Christos Staikouras jetzt ein Plus von 6,1 Prozent.
Anfangs ging die Regierung von 3,6 Prozent aus. Die EU rechnet mit 4,1 Prozent. Für 2022 erwartet Staikouras ein Plus von 4,5 Prozent. Wichtigste Wachstumsmotoren sind die Investitionen, die 2022 um 23,4 Prozent zulegen sollen, die Exporte und das erwartete Comeback im Tourismus.
Dank des Wachstums hofft die Regierung, das Haushaltsdefizit zu reduzieren und Schulden abzutragen. Die Staatsschuldenquote soll im nächsten Jahr auf 190,4 Prozent fallen.
Die Haushaltsausgaben will der Finanzminister 2022 von 70,6 auf 64,3 Milliarden Euro zurückfahren.
Bei den Einnahmen erwartet er trotz geplanter Steuersenkungen ein Plus von 50 auf 54,6 Milliarden Euro. Damit will Staikouras den Fehlbetrag im Haushalt von 13 Milliarden Euro in diesem Jahr auf zwei Milliarden Euro reduzieren.
Ob die Rechnung aufgeht, wird allerdings nicht zuletzt vom weiteren Verlauf der Pandemie abhängen. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die Entwicklung der Energiekrise. Sie könnte den Haushalt dieses und des kommenden Jahres zusätzlich belasten.
Das würde auch den Schuldenabbau verzögern. Rund 80 Prozent der griechischen Schulden liegen bei öffentlichen Gläubigern wie dem Euro-Stabilitätsfonds ESM. Die Zinsen dieser Kredite sind niedrig, die Laufzeiten reichen bis ins Jahr 2070.
Um die Kosten für den Schuldendienst zu reduzieren, plant die Regierung im kommenden Jahr die vorzeitige Tilgung älterer, relativ teurer Kredite im Volumen von rund 4,3 Milliarden Euro.
Dabei geht es um Darlehen des Internationalen Währungsfonds und um Kredite aus dem ersten Hilfspaket von 2010. Vor diesem Hintergrund haben mehrere Ratingagenturen Griechenlands Kreditwürdigkeit in den vergangenen Wochen sogar heraufgestuft.
Analysten heben lobend hervor, dass die Regierung des konservativen Premiers Kyriakos Mitsotakis trotz der Pandemie an ihrem Reformkurs festhalte und so die Weichen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum stelle.
Trotz der in Athen gelobten fiskalischen Disziplin will sich auch Premier Mitsotakis wie seine Amtskollegen in Paris und Rom um eine Lockerung des bis 2022 ausgesetzten EU-Stabilitätspakts bemühen. In Athen spricht man bereits von einer „Süd-Allianz“.
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