Wertschöpfungsketten Flucht aus der Globalisierung: Das Coronavirus verändert die Weltwirtschaft
Brüssel, Paris, Düsseldorf Als Joe Kaeser im September 2019 zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel aus China zurückkehrte, hatte er eine Warnung im Gepäck: „Die USA und China sind dabei, sich voneinander abzukoppeln“, argwöhnte der Siemens-Chef damals mit Blick auf den Handelskrieg der beiden größten Volkswirtschaften. Kaesers Kassandraruf wird durch die Pandemie schneller Wirklichkeit als befürchtet: Unternehmen kappen Lieferketten und verlagern Fabriken. Regierungen schotten ihre Volkswirtschaften voneinander ab und horten lebenswichtige Produkte. Das betrifft nicht nur die USA und China, die ganze Weltwirtschaft geht auf Distanz zueinander.
Zu sehen ist das bereits im Welthandel. Nach der jüngsten Prognose der Welthandelsorganisation (WTO) könnte der globale Warenaustausch im laufenden Jahr wegen der Pandemie um bis zu ein Drittel einbrechen. Was die Ökonomen der WTO in ihren Frühwarnsystemen sehen, sind die unmittelbaren Folgen eines weltweiten wirtschaftlichen „Shutdowns“, der in China begann und sich dann mit dem Virus von Europa bis nach Amerika in Windeseile verbreitet hat.
Solche Betriebsunterbrechungen sind das Horrorszenario für viele Firmen. Im „Allianz Risk Barometer“ führen solche abrupten Zwangspausen in der Produktion seit 2013 die Liste der größten Managerängste an. Nur erahnen können die WTO-Experten allerdings, welche mittel- und langfristigen Folgen die Coronakrise für die durch globale Wertschöpfungsketten eng vernetzte Weltwirtschaft haben wird.
Abstand halten ist nicht nur für Menschen das Gebot der Stunde, sondern auch für Unternehmen. Die Balance zwischen Effizienz und Sicherheit wird in der Wirtschaft gerade neu justiert. Quasi über Nacht müssen auf „just in time“ getrimmte Firmen auf „just in case“ umdenken.
Konkret heißt das: mehr Lieferanten managen, Lieferketten umleiten, Lager aufstocken und notfalls selbst ganze Standorte verlagern. So wie die Banken nach der Finanzkrise 2008 Kapitalpuffer anlegen mussten, verschaffen sich jetzt vor allem Industrieunternehmen Sicherheitspolster für ihre Produktion.
Zu Hilfe kommen den Firmen dabei neue digitale Technologien wie Big Data und 3D-Drucker, die es ihnen ermöglichen, mit den Daten- auch die Güterströme so umzuleiten, dass sie nicht mehr nur von einem Produktionsstandort abhängig sind. „Die derzeitige Krise wird Auswirkungen auf die Globalisierung haben“, sagte EU-Industriekommissar Thierry Breton dem Handelsblatt. Viele Unternehmen hätten schon vor dem Ausbruch damit begonnen, ihre Lieferketten und Produktionsstandorte zu überprüfen, um den CO2-Ausstoß, die Abhängigkeit von digitalen Technologien und die Nähe zum Kunden stärker zu berücksichtigen.
Nun werde auch die Abhängigkeit von einzelnen Ländern außerhalb Europas hinterfragt, prophezeit der frühere Chef des IT-Konzerns Atos. „Diese Krise beschleunigt Entwicklungen, die wir schon vorher beobachtet haben“, so Breton. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht von einer „achtsamen Globalisierung“: Man könne Handelsströme und Lieferketten nicht mehr ausschließlich ökonomisch sehen, sagte sie der „Zeit“.
Stimmungsumschwung auch in China spürbar
Betroffen von der neuen Vorsichtsmaxime ist vor allem China, das seit seinem WTO-Beitritt 2001 zur Fabrik für die Welt geworden ist. Das McKinsey Global Institute (MGI) hat errechnet, dass die Weltwirtschaft – gemessen an Handels-, Technologie- und Kapitalströmen – 2017 drei Mal abhängiger von China war als im Jahr 2000. Über ein Drittel aller weltweit produzierten Industrieprodukte kommt heute aus chinesischen Fabriken.
Mehr als 50.000 Firmen weltweit haben nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung Dun & Bradstreet einen Systemlieferanten (Tier 1) in der Region rund um Wuhan. „Viele Länder und Unternehmen denken jetzt verstärkt darüber nach, ob sie zu stark auf Lieferungen aus China angewiesen sind“, sagt Max Zenglein, Chefökonom des Mercator Institute for China Studies (Merics) in Berlin.
Auch in China selbst ist der Stimmungsumschwung schon spürbar: „Als das Land unter der Pandemie im Januar und Februar in die Knie ging, hat der Rest der Welt gespürt, wie abhängig alle von Lieferketten aus China sind. Die Veränderungen, die sich jetzt abzeichnen, sind nicht nur temporär, sondern dauerhaft“, berichtet Jörg Wuttke, Chef der EU-Handelskammer in China.
Schon vor der Krise hätten sich Firmen aus Kostengründen anders orientiert. Trumps Handelskrieg habe dann allen gezeigt, wie verletzlich globale Wertschöpfungsketten heute seien. „Die Lieferketten werden nach der Krise anders aussehen als vorher“, sagt Wuttke voraus.
Das gilt nicht nur für medizinische Produkte wie Atemschutzmasken oder Beatmungsgeräte, die durch die Lieferengpässe während der Coronakrise in fast allen Ländern zu Gütern der nationalen Sicherheit geworden sind. Bundeskanzlerin Merkel spricht von „existenziellen Wertschöpfungsketten“, die viele Politiker lieber in europäischer Hand sehen wollen. „Die Industrie sieht mit Sorge, dass sich die Bundesregierung in den vergangenen Wochen weitreichende Eingriffsbefugnisse in Produktion, Preis und Handel von Corona-Schutzgütern verschafft hat“, warnt bereits der Bundesverband der Deutschen Industrie.
Das nationale Schutzbedürfnis geht jedoch darüber hinaus: Die Krise hat viele Unternehmen so geschwächt, dass sie jetzt leichte Beute für ausländische Übernahmen werden könnten. Und tatsächlich berichtet der Finanzinformationsdienst Bloomberg von verstärktem Interesse vor allem staatlicher Investoren aus China an europäischen Firmen. Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland haben auch deshalb ihren Investitionsschutz verstärkt.
In Frankreich hat die Regierung durchblicken lassen, dass sie gemeinsam mit dem Kanzleramt an einer deutsch-französischen Initiative für die Sicherung strategisch wichtiger Wirtschaftsbereiche arbeitet. Dabei geht es auch um die Rückholung bestimmter Produktionskapazitäten etwa für Pharmaka aus dem Ausland, vor allem China, nach Europa und schließlich die Verhinderung des Ausverkaufs von Technologieunternehmen im Zuge der Wirtschaftskrise.
„Wir müssen uns in die Lage versetzen, national oder europäisch wieder Produktionen zu gewährleisten, die von essenzieller Bedeutung für unsere Bevölkerungen sind“, sagt ein Berater des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Die EU hatte sich bereits 2019 darauf geeinigt, ausländische Direktinvestitionen stärker unter die Lupe zu nehmen.
Japan will Produktionen in die Heimat holen
Nach Angaben der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Unctad) werden die ausländischen Direktinvestitionen in diesem Jahr weltweit um 40 Prozent zurückgehen. Dies drohe „globale Produktionsnetzwerke und Lieferketten nachhaltig zu schädigen“, sagte Unctad-Direktor James Zhan.
Auch anderswo wird die Globalisierung zurückgepfiffen: Japan will Firmen gar mit umgerechnet rund 1,7 Milliarden Euro dabei helfen, Produktionsstätten aus China nach Japan zurückzuholen oder in andere südostasiatische Länder zu verlagern. Microsoft und Google planen nach einem Bericht des Journals „Nikkei Asian Review“, Produktionsstätten von China nach Vietnam und Thailand zu verlagern. „Wer wegen des Produktionsstopps in einzelnen Regionen wie der Provinz Hubei Lieferprobleme bekommen hat, dürfte sich auch nach alternativen Zulieferern in anderen Erdteilen umsehen“, sagt Guntram Wolff, Chef des Brüsseler Forschungsinstituts Bruegel.
Jacques Aschenbroich, Chef des französischen Autozulieferers Valeo, hat schon zu Beginn der Krise auf die Fragilität der Lieferketten hingewiesen: „Jeder unserer Kunden versucht, nicht allein von uns abhängig zu sein. Falls das doch der Fall ist, verlangt er von uns die Garantie, dass wir jedes Bauteil aus zumindest zwei, wenn nicht drei unterschiedlichen Regionen der Welt beschaffen können.“
Ähnlich denken auch die deutschen Autobauer. Jeden Tag beziehen BMW, Daimler und die VW-Gruppe etliche Millionen Komponenten von ihren Lieferanten. Diese Kette indes ist durch die Corona-Pandemie ins Stocken geraten. Besonders wichtig und deshalb kritisch für die Produktion sind die Südländer Italien und Spanien, die ihre Produktion teilweise auf Anweisung der Behörden gestoppt haben.
Als Reaktion auf frühere Engpässe haben insbesondere die Autofirmen umfangreiche Datenbanken angelegt, um alternative Anbieter für jedes einzelne Teil finden zu können. Daimler sieht sich nun für den Anlauf seiner Werke gerüstet. Für nahezu jede Komponente gebe es in den Datenbanken Ersatzlieferanten, wenn der ursprüngliche Partner ausfallen sollte.
Mehr: Wirtschaftsweise Grimm - „Wir werden internationalen Lieferketten weniger vertrauen“
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Das menschliche Gedächtnis und die Gier
Welche hehre Ziele wurden denn nicht alles nach der Finanzkrise 2008 beschworen? Die ungezügelte Gier sollte an die ganze kurze Leine. Bis auf ein paar überschaubare Überbleibsel bei den Kapitalanforderungen von Banken ist das heute Schnee von vorgestern.
Und jetzt wird in der Krise erneut mit größter Inbrunst das vermeintlich nächste Übel namens Globalisierung angeprangert. Wie glaubwürdig ist das?
Ein kleiner Hinweis, fragen Sie mal Statistiker beim statistischen Bundesamt um wieviel Prozent Kaufkraft und materielle Lebensqualität in Deutschland/Europa abnähmen, wenn all die Elektronik und Mechanik nicht mehr aus China und Asien kämen. Das Gleiche gilt für die Amerikaner mit Trump's Gequatsche von Decoupling.
Wir werden nach dieser Krisen in kritischen Bereichen vermehrte Lagerhaltung sowie hier und da ein wenig eher symbolische Repatrierung von Industriefertigung erleben. Der dem Kapitalismus intrinsische Wettbewerb wird auch in Zukunft dafür sorgen, dass diejenigen Unternehmen mit zunehmenden Marktanteilen belohnt werden, die ihre Lieferketten trotz Risiken in China und Asien belassen.
Ein klein wenig Geduld und die jetzige Sau namens Deglobalisierung wird aus dem Dorf vertrieben und die Medien werden dem nächsten Modebegriff hinterherlaufen.