Wirtschafts-Gipfel Operation Neustart: EU und Indien machen gemeinsame Sache gegen China

Die Infrastruktur in Indien ist noch immer schwach ausgeprägt. Die EU will bei deren Ausbau helfen.
Fünf Tonnen medizinische Ausrüstung, darunter 120 Beatmungsgeräte: Die erste Hilfslieferung aus Deutschland hat die indische Hauptstadt Neu Delhi erreicht. Eine Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff soll noch im Laufe der Woche folgen.
Auch Frankreich, Italien, Österreich, Belgien, Irland und Finnland haben Hilfsgüter geschickt. Mitten in der verheerenden Infektionswelle, einer der schwersten Krisen in Indiens jüngerer Geschichte, wollen sich die EU-Staaten als verlässliche Partner präsentieren. „Das Team Europa ist unserem demokratischen Partner Indien in tiefer Solidarität verbunden“, schrieb Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Twitter.
Der humanitäre Einsatz im Kampf gegen die Corona-Pandemie deckt sich mit einem strategischen Interesse: Die EU will ihre Kooperation mit Indien vertiefen, ein neues Kapitel in den Beziehungen aufschlagen – zum wechselseitigen wirtschaftlichen Nutzen, aber auch, um ein politisches Gegengewicht zu China zu bilden.
Auf dem für diesen Samstag geplanten virtuellen Gipfeltreffen wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs mit Indiens Premier Narendra Modi die vor acht Jahren unterbrochenen Handelsgespräche wiederbeleben. Ein Signal des guten Willens. Auch eine Infrastrukturpartnerschaft ist geplant, eine europäisch-indische Initiative zum Bau von Brücken, Tunneln und Zugstrecken.
Die Idee: mit vereinten Kräften eine Alternative zur chinesischen Seidenstraßen-Initiative entwickeln. „Die EU-Indien-Konnektivitätspartnerschaft wird geschlossen als Teil der EU-Asien-Konnektivitätsstrategie, mit der die EU regelbasierte und nachhaltige Vernetzung in Europa und Asien fördert“, heißt es vom Auswärtigen Amt. Die Anfänge sind indes noch recht bescheiden. Im ersten Schritt wollen die Europäer die Infrastrukturprojekte der Mitgliedstaaten bündeln, die sie in Indien ohnehin schon unternehmen.
Projekt-Liste liegt dem Handelsblatt vor
Europa soll sichtbarer werden, indem sich die EU und ihre Mitgliedstaaten besser koordinieren und gemeinsam auftreten – das „Team Europa“ bilden, von dem die Kommissionschefin spricht.
Die Liste mit den Vorhaben, die für die Infrastrukturpartnerschaft vorgesehen sind, liegt dem Handelsblatt vor.
Acht deutsche Projekte zählen dazu. In Mumbai etwa hilft die Bundesrepublik beim Bau einer Metrolinie, in Tamil Nadu bei der Modernisierung der Busflotte. Ein Großprojekt sind Korridore für grüne Energie, deren Bau Deutschland vorantreibt: 7700 Kilometer neue Stromleitungen sollen verlegt, 165 Umspannwerke gebaut oder modernisiert werden. Kostenpunkt: 1,7 Milliarden Euro.
Um mit der chinesischen Seidenstraßen-Initiative zu konkurrieren, die weltweit Großvorhaben finanziert, braucht es allerdings mehr als eine Bestandsaufnahme – das ist sowohl den Europäern als auch den Indern bewusst. Deshalb wollen beide Seiten vereinbaren, gemeinsam neue Infrastrukturprojekte im asiatischen Raum anzuschieben.
Der Bedarf an Infrastruktur ist weltweit riesig
„Konnektivität kommt eine geopolitische und transformative Rolle zu und fördert nachhaltig Wachstum und Arbeitsplätze“, sagt David McAllister, Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments. „Der digitale EU-Indien-Gipfel am Samstag sollte die Weichen für echte Zukunftsprojekte stellen. So kann die Zusammenarbeit auch in anderen Politikfeldern langfristig vertieft werden.“
Der Bedarf an Infrastruktur ist riesig, global wird er auf mindestens drei Billionen Dollar jährlich geschätzt. China ist mit der Seidenstraßen-Initiative, auch bekannt als „Belt and Road“, in diese Lücke gestoßen – und weitet so seine Machtsphäre aus. Eine Tatsache, die Inder und Europäer gleichermaßen beunruhigt. „Wir erleben im indopazifischen Raum eine Angleichung von strategischen Interessen“, erläutert ein EU-Diplomat. Diese Chance will die EU nutzen. Gerade Indien ist als Partner interessant. Vor der Pandemie zählte das Land zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften.
Umgekehrt ist die Zusammenarbeit mit der EU auch für Indien wichtig, weil Modis Regierung bisher eine bescheidene Bilanz als Investor in der eigenen Nachbarschaft aufzuweisen hat. Während China mit Milliardeninvestitionen reihenweise Autobahnen, Hafenanlagen und Zugstrecken in Südasien errichtet, kommen die indischen Projekte kaum vom Fleck.
Eine Eisenbahnstrecke, an der Neu Delhi seit mehr als einem Jahrzehnt im Nachbarland Bangladesch arbeitet, ist noch nicht einmal zu einem Drittel fertiggestellt. Bei Wasserkraftprojekten in Nepal gibt es ebenfalls kaum Fortschritte.
Ein gemeinsames Engagement mit der EU bietet die Chance, die Effizienz des Vorgehens deutlich zu erhöhen. Interesse an Alternativen zu China beim Infrastrukturausbau gibt es in der Region jedenfalls. Die von der Regierung in Peking vorgesetzten Finanzierungsbedingungen sehen die Empfänger zunehmend kritisch. Dass sich China in Sri Lanka die Kontrolle über einen strategisch wichtigen Hafen sichern konnte, weil der Inselstaat seine Schulden nicht mehr bedienen konnte, gilt inzwischen als abschreckendes Beispiel.
Die wachsende Rivalität mit China hat zu einer strategischen Neuorientierung geführt. Im vergangenen Jahr kam es wiederholt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen indischen und chinesischen Soldaten an der Grenze im Himalaja. Dass auch der Westen Chinas Hegemonialstreben einhegen will, kommt den Indern gelegen. „Der Aufstieg eines durchsetzungsstarken Chinas hat sowohl Indien als auch die EU davon überzeugt, dass eine substanzielle Zusammenarbeit unerlässlich ist“, kommentiert Priyanka Pandit, Chinaexpertin der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation.
Indien wünscht ein faires und ausbalanciertes Abkommen
Chinas Einigung mit den führenden Volkswirtschaften Ostasiens auf die weltgrößte Freihandelszone RCEP im vergangenen Herbst war aus indischer Sicht ein entscheidender Moment. Neu Delhi beteiligte sich an RCEP bewusst nicht – aus Sorge, China damit weiter zu stärken. Stattdessen zeigte sich das Land gewillt, mit Partnern im Westen ein Gegengewicht zu schaffen: An einem fairen und ausbalancierten Abkommen mit der EU sei man sehr interessiert, erklärte Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar nach dem RCEP-Abschluss.
Entsprechend optimistisch gibt sich die indische Regierung nun vor dem EU-Gipfel: Er sei zuversichtlich, dass das Treffen am Samstag neuen Schwung in die strategische Partnerschaft mit den Europäern bringen werde, ließ Premierminister Modi wissen. Seine Finanzministerin Nirmala Sitharaman sagte, ein offizieller Neustart der Verhandlungen wäre ein „bemerkenswerter Erfolg“ der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft.
Sowohl in Indien als auch in Europa ist man sich allerdings im Klaren darüber, dass die Gespräche äußerst schwierig werden dürften: Bereits von 2007 bis 2013 verhandelten beide Seiten vergeblich über ein Freihandelsabkommen. Die Gespräche wurden gestoppt, nachdem auch nach 16 Verhandlungsrunden keine Einigung absehbar war.
Brüssel will leichteren Marktzugang für Autos und Wein
Aus Sicht der EU scheiterten die Verhandlungen an Indiens Protektionismus: In Brüssel forderte man leichteren Marktzugang für europäische Autos und europäischen Wein. Die Regierung in Neu Delhi stemmte sich gegen einen Zollabbau, weil sie befürchtete, dass die eigene Industrie mit der ausländischen Konkurrenz nicht mithalten könne.
Prinzipiell geändert hat sich an den protektionistischen Tendenzen in Indien nichts. Im Gegenteil: Modi ließ Einfuhrzölle in den vergangenen Jahren weiter anheben – mit dem Ziel, Fabriken ins eigene Land zu locken und so Arbeitsplätze zu schaffen. „Atmanirbhar Bharat“ – übersetzt: eigenständiges Indien – heißt seine 2020 vorgestellte Kampagne, mit der er die Wirtschaft so unabhängig wie möglich machen möchte. Doch angesichts Chinas wachsenden Einflusses in der unmittelbaren Nachbarschaft setzte sich bei Modi die Erkenntnis durch, dass auch Indien auf Partnerschaften angewiesen ist.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.