Katastrophenschutz Warnung vor dem Hochwasser: Kritik an „monumentalem Systemversagen“ wächst

Viele Menschen wurden von den Fluten überrascht. Hätte ein funktionierendes Frühwarnsystem das Schlimmste verhindern können?
Berlin Es ist eine Britin, die den Deutschen den Spiegel vorhält: Hannah Cloke, Professorin für Hydrologie, sprach im ZDF von „monumentalem Systemversagen“. Schon neun Tage vor Beginn des Desasters hätten Satelliten erste Zeichen der drohenden Hochwasserkatastrophe erkannt, 24 Stunden vorher seien präzise die betroffenen Gebiete benannt worden, sagt die Mitentwicklerin des Europäischen Hochwasser-Warnsystems EFAS von der Universität Reading. „Schon mehrere Tage vorher konnte man sehen, was uns da bevorsteht“, kritisiert sie. „Im Jahr 2021 sollten wir nicht so viele Todesopfer zu beklagen haben.“
Rechtzeitige Hinweise gab es durchaus: Am 11. Juli etwa sagte der private Wetterdienst des Meteorologen Jörg Kachelmann starken Regen, Hochwasser und Überflutungen im Westen voraus. Am 13. Juli verschickte der Deutsche Wetterdienst eine „amtliche Gefahrenmeldung“. Auch das European Flood Awareness System (EFAS) warnte am selben Tag vor „extremen“ Überflutungen.
Das nordrhein-westfälische Innenministerium jedenfalls will für das Kommunikationsdesaster nicht verantwortlich sein. Es leitete nach eigener Darstellung alle Unwetterwarnungen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) an die Städte und Kreise weiter. Grundsätzlich gelte im Katastrophenschutz aber ein Örtlichkeitsprinzip, sodass über Schutzmaßnahmen vor Ort zu entscheiden sei, so ein Ministeriumssprecher.
„Wir haben getan, was zu tun war“, sagt auch ein Sprecher des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Man habe präzise für jede Gemeinde und mit genügend zeitlichem Vorlauf vor Regenmengen bis zu 200 Liter pro Quadratmeter gewarnt. Vielerorts habe die höchste Warnstufe gegolten. Dies sei aber nicht von allen Medien verbreitet worden. Ähnlich klingt DWD-Meteorologe Marcus Beyer. Er schreibt auf Twitter, Warnungen seien nicht ernst genug genommen worden.
Verschiedene Meteorologen kritisieren vor allem den WDR, der als regional verantwortliche öffentlich-rechtliche Sendeanstalt nicht genügend gewarnt habe. Schlimmer noch: In der Nacht der Katastrophe habe der Sender keinen adäquaten Nachrichtenreflex gezeigt. Und das, obwohl Radios nach dem Zusammenbruch der Handynetze in technischer Hinsicht die letzten funktionierenden Informationssysteme gewesen seien, über die man die Bevölkerung hätte warnen können.
Der Leiter des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Armin Schuster, argumentiert allerdings, dass Katastrophen durch Starkregen tatsächlich nur schwer vorhersehbar seien. „Oft kann man eine halbe Stunde vorher noch nicht sagen, welchen Ort es mit welcher Regenmenge trefft.“ Dennoch habe man „150 Warnmeldungen über unsere Apps, über die Medien ausgesendet“.
Die Warn-App Nina des BBK hat zwar neun Millionen Nutzer – den meisten Deutschen ist sie aber unbekannt. Zudem nutzen viele ältere Menschen kein Handy – oder zumindest nicht ständig.
Daniel Jäger, Generalsekretär der Piratenpartei NRW, fordert Konsequenzen aus dem Informationschaos: „Der Katastrophenschutz muss an die Realität angepasst werden, denn dass eine Warn-App nicht warnen kann, wenn die Netzwerkinfrastruktur ausfällt, muss auch der Landesregierung klar sein.“
Es dürfe nicht sein, dass Menschen von lebensrettenden Informationen abgeschnitten seien, sagt Jäger. „Daher erwarten wir, dass die Sirenensysteme endlich wieder aufgebaut werden, so wie es dem Landtag schon mehrfach zugesagt wurde.“ Dass hier seit der Pleite beim letzten landesweiten Warntag nichts passiert sei, sei „ein Trauerspiel“.
Anders als in Österreich waren viele Sirenen hierzulande in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach abgebaut worden. Vor wenigen Jahren besann man sich dann eines Besseren und machte sich an den Wiederaufbau. Ein Testlauf im September 2020 zeigte jedoch massive Probleme: Viele Kommunen wussten schlicht nicht, ob und wo genau es noch Sirenen gibt, viele der noch existierenden Geräte funktionierten nicht.
Nun wird die Neueinrichtung seit wenigen Monaten vom Bund mit 90 Millionen Euro gefördert. Der zweite für dieses Jahr geplante deutschlandweite Warntag war vor der Flut abgesagt worden. Das Bundesinnenministerium hält an dem Plan fest, einen neuen Warntag erst im kommenden Jahr durchzuführen. Man sei derzeit dabei, das im März vorgestellte Konzept für den Katastrophenschutz abzuarbeiten und etwa die Standorte für Sirenen auszubauen, sagt ein Sprecher.
„Wir arbeiten daran, dass dieses System funktioniert“, sagt der Sprecher. Innenminister Horst Seehofer habe die Reform des Katastrophenschutzes seit dem vergangenen Jahr forciert. Eine Regierungssprecherin weist darauf hin, dass es sich beim Katastrophenschutz um eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen handele.
BBK-Chef Schuster fordert ein Warnsystem aus verschiedenen Methoden. Rein digitale Warnungen seien nicht ausreichend, sagt der oberste Katastrophenschützer. „Deswegen wollen wir auch die traditionelle Sirene zurückhaben.“ Diese Signaltechnik könne heute auch mit Sprechdurchsagen kombiniert werden. Die veranschlagten 90 Millionen Euro „werden dafür aber nicht reichen“.

Das System an Sirenen ist in einem desolaten Zustand. Doch es soll in den kommenden Jahren reaktiviert werden.
Für Katastrophenschutz sind die Kommunen zuständig
Im föderalen System Deutschlands sind für den Katastrophenschutz insbesondere die Landkreise, kreisfreien Städte und Kommunen zuständig. Die britische Professorin Cloke warnt jedoch davor, die Kommunen zu überfordern. Sie stünden vor sehr unterschiedlichen Herausforderungen, je nachdem ob die Sturzfluten durch Regen, Stürme an den Küsten oder saisonal auftretendes Hochwasser verursacht werden. „Lokale Verwaltungen haben oft keine ausreichenden Mittel, um sich angemessen darauf vorzubereiten.“
So hatte der Landkreis Ahrweiler in der Nacht zum Donnerstag um 23.09 Uhr eine Evakuierungsmeldung für Gebiete 50 Meter rechts und links des Flusses Ahr herausgegeben. Doch in einem Wohnheim für behinderte Menschen in Sinzig, das rund 200 Meter vom Fluss entfernt liegt, ertranken in dieser Nacht zwölf Menschen.
Der Meteorologe Sven Plöger sieht ein grundsätzliches Dilemma: Seine Zunft hätte vor der Flut diverse Szenarien entwickelt – diese hätten in ihren Einschätzungen teils über, teils unter der tatsächlichen Entwicklung gelegen. Das Problem sei jedoch, dass man auch nicht zu drastisch warnen dürfe, sagte er in der ARD, „denn sonst nimmt es das nächste Mal keiner mehr ernst“.
Das Bundesinnenministerium hält sich derzeit mit Aussagen über mögliche Schuldfragen strikt zurück. „In der gegenwärtigen Situation stellen sich keine Schuldfragen“, sagt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Eine Regierungssprecherin bezeichnet es als verfrüht, weil man sich immer noch um die Rettung von Menschen kümmere. Danach werde man schauen, „ob weitere Schlussfolgerungen zu ziehen sind“.
Mehr: Hätten sich die Kommunen gegen die Flut wappnen können? Was ein Hochwasserexperte sagt
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