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Gutachten des Sachverständigenrats Wirtschaftsweise streiten über Finanzierung von Klimaschutz und Digitalisierung

Der Sachverständigenrat widmet sich im neuen Gutachten vor allem den Themen Investitionen, Klima, Bildung und Ungleichheit. Die Weisen zeigen sich von einer völlig neuen Seite.
10.11.2021 Update: 10.11.2021 - 16:17 Uhr Kommentieren
„Transformation gestalten – Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ lautet der Titel ihres neuen Jahresgutachtens. Quelle: Sachverständigenrat
Wieland (l.), Grimm, Schnitzer, Truger

„Transformation gestalten – Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ lautet der Titel ihres neuen Jahresgutachtens.

(Foto: Sachverständigenrat)

Berlin Viel wird die Bundeskanzlerin mit den rund 500 Seiten nicht anfangen können. Am Mittwochmorgen hat Angela Merkel ein letztes Mal das Jahresgutachten des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ entgegengenommen. Sie hätte es gleich auf ihrem Schreibtisch im Kanzleramt liegen lassen können, wenn ihr Vize Olaf Scholz (SPD) bei der Übergabe nicht auch dabei gewesen wäre. Ihr voraussichtlicher Nachfolger hat nämlich allen Grund für eine intensive Lektüre des Gutachtens.

Die Ausführungen der Wirtschaftsweisen unter dem Titel „Transformation gestalten – Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ muten an wie ein ganzer Instrumentenkasten für die angestrebte Koalition von SPD, Grünen und FDP.

Aus dem Umfeld der Koalitionsverhandler ist zu hören, dass die Vorschläge eine gewichtige Rolle in den Gesprächen der Ampel spielen werden. Offizielle Termine zwischen Verhandlern und Rat gab es traditionell nicht – aber durchaus informelle Gespräche, berichten Teilnehmerkreise.

Das Gutachten komme zum richtigen Zeitpunkt, sagte Merkel: „Der Titel ist Programm auch für die Regierung, sowohl für die geschäftsführende als auch die neue.“ Es gehe um die umfassendste Transformation der Wirtschaft. Besonders aufschlussreich ist das Gutachten auch deshalb, weil die Positionen der Wissenschaftler kaum vorhersagbar waren. Das hängt damit zusammen, dass es das erste Jahresgutachten von nur vier Weisen sein wird.

Normalerweise residiert der Rat zu fünft. Aber weil sich Union und SPD im vergangenen Jahr nicht einig geworden waren, schied der Ratsvorsitzende Lars Feld aus dem Gremium aus. Seine Position wurde nicht nachbesetzt.

Bis dato war der Rat ordnungspolitisch geprägt, was vor allem an Feld und dem Geldpolitikexperten Volker Wieland lag. Achim Truger war meist Alleingänger, wie es im Rat für das von den Gewerkschaften gestützte Mitglied Tradition hatte. Energiespezialistin Veronika Grimm und Wettbewerbsökonomin Monika Schnitzer sind nicht klar einer Denkschule zuzuordnen.

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Und so ist es gekommen, wie es kommen musste: In mehreren Kapiteln überraschen die Erkenntnisse der Weisen – und erstmals in der fast 60-jährigen Geschichte des Sachverständigenrats ist es zu einem Patt gekommen.

Investitions- und Schuldenpolitik: Die Weisen trennen sich remis

Der Investitionsbedarf bei Klimaschutz und Digitalisierung wird enorm sein. Trotzdem will die Ampel die Schuldenbremse beibehalten. Das haben die Parteien bereits klargestellt. Wie soll das funktionieren? Nicht ausschließlich mit herkömmlichen Methoden – das sagen zumindest zwei der vier Weisen, Schnitzer und Truger.

Die beiden zeigen sich offen für „eine Kreditfinanzierung zukunftsbezogener öffentlicher Ausgaben“. Bei Keynesianer Truger ist diese Position kaum überraschend. Bei Schnitzer dafür umso mehr. Die Wissenschaftlerin von der LMU-Universität München war in der Vergangenheit schwer einzuordnen, aber in ihren Positionen dem marktliberalen Wieland meist doch noch näher als Truger.

Das neue Tandem spricht nun davon, dass „öffentliche Investitionsgesellschaften nach herrschender Rechtsauffassung nicht der Schuldenbremse unterliegen und gezielt zur Finanzierung genutzt werden könnten“.

Schnitzer erklärte bei der Vorstellung des Gutachtens, dass es dafür nicht bloß Bedarf für die Übergangszeit gibt, wenn die Schuldenbremse voraussichtlich ab 2023 wieder gilt. Investitionen müssten verstetigt werden und nicht immer hinter Konsumkosten wie Sozialausgaben anstehen. Schnitzer machte deutlich: „Investitionen müssten die gleiche Priorität haben. Das lässt sich nur machen, wenn man den institutionellen Rahmen dafür schafft.“

Dafür seien Investitionsgesellschaften das beste Mittel. Im Gutachten zeigen sich Schnitzer und Truger auch für weitere Wege neben der Schuldenbremse offen, etwa die Schaffung einer Rücklage, während die Bremse noch ausgesetzt ist, oder von Rücklagen. Laut Schnitzer seien Investitionsgesellschaften aber vorzuziehen, weil sie eine nachhaltige Finanzierung sicherstellten.

Im Umfeld der Ampel kursiert dieser Vorschlag schon länger. Die FDP allerdings reagierte darauf bislang eher mit Zähneknirschen, insbesondere, weil sich so öffentliche Mittel der parlamentarischen Kontrolle entziehen könnten. Doch scheint es bei den Liberalen Bewegung zu geben. Über solche Gesellschaften Unternehmen Zuschüsse für Klimainvestitionen zu gewähren komme bei den Liberalen weiter nicht gut an, heißt es aus Kreisen der Koalitionsverhandler. Das seien schließlich immer noch Subventionen, keine Investitionen.

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Infrastrukturgesellschaften etwa zum Aufbau eines Wasserstoffnetzes könne man sich hingegen möglicherweise vorstellen. Wenn messbare Renditen bei Projekten möglich seien, handle es sich eindeutig um Investitionen, und dann seien solche Gesellschaften ein möglicher Weg, sagt ein Beteiligter. Dass der halbe Sachverständigenrat sich dafür ausspricht, könnte eine wichtige Argumentationshilfe werden – wäre in dem Gremium ein solches Votum früher doch noch undenkbar gewesen.

Da hätte eher die Gegenposition des diesjährigen Gutachtens gepasst. Investitionsgesellschaften brauche es überhaupt nicht, argumentieren darin Grimm und Wieland. Gute Angebotspolitik, das sei es, was ausreiche. Sie vertrauen auf die Wirtschaft. Achtmal mehr Investitionen tragen die privaten Unternehmen in Deutschland im Vergleich zum Staat.

Dieses Potenzial müsse gehoben werden, um auch den Klimaschutz vorantreiben zu können – etwa durch eine stärkere CO2-Bepreisung oder geringere Abgaben beim Strom. In die Infrastruktur hingegen müsse der Staat vermehrt investieren. Das sei aber mit den gegebenen Mitteln im Haushalt machbar.

Es sei sicherzustellen, „dass eine Finanzierung der öffentlichen Investitionen nicht außerhalb der Regelungen der Schuldenbremse implementiert wird“, schreiben Grimm und Wieland. Eine Auslagerung von Mitteln könne „mit dem Haushaltsrecht in Konflikt geraten“. Grimm kritisierte zudem im Gespräch mit dem Handelsblatt: „Die Idee, ausgelagerte Investitionsgesellschaften zu schaffen, klingt für viele erst mal attraktiv. Aber keinem ist doch so recht klar, was genau damit finanziert werden kann und soll.“ Vorstellen können sie sich allein, dass bestehende Programme der öffentlichen KfW-Bank ausgebaut werden.

Rechnungshof warnt vor Umwegfinanzierungen

Unterstützt werden sie in ihrer Herangehensweise vom Bundesrechnungshof. Der veröffentlichte am Mittwoch seine neue „Bestandsaufnahme zur Lage der Bundesfinanzen“ zur 20. Wahlperiode. „Eine dauerhafte Finanzierung auf Pump ist keine tragfähige Alternative und ungeeignet, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen“, warnt die Behörde darin. Das gelte auch für Umwegfinanzierungen über Nebenhaushalte.

„Eine Aufweichung oder gar Abschaffung der Schuldenregel wäre der falsche Weg und eine Kapitulation vor den Problemen, ohne Lösungen überhaupt diskutiert zu haben“, sagt Bundesrechnungshof-Präsident Kay Scheller. Über Nebenhaushalte dürften „unabhängig von ihrer rechtlichen Ausgestaltung keine Kreditfinanzierung ohne Anrechnung auf die Schuldenregel stattfinden“.

Das überraschende Patt bei den Wirtschaftsweisen habe sich früh abgezeichnet, berichteten die Ökonomen und Ökonominnen bei ihrer Pressekonferenz. Der Entschluss, es auch so zu Papier zu bringen, sei aber erst kurz vor Schluss gefallen. Ob dieses Vorgehen nun gut oder schlecht sei, auch dazu gab es unterschiedliche Sichtweisen. Truger sagte: „Man kann das ökonomisch nicht eindeutig klären.“ Wieland entgegnete, dass es schon der Idealfall gewesen wäre, nur einen Vorschlag zu machen.

Am Ende waren es dann gar vier. Denn nicht nur bei der nationalen Diskussion, auch bei jener um die europäischen Fiskalregeln konnten sich die vier nicht einigen, sodass sie zwei unterschiedliche Positionen formulierten. Grimm und Wieland plädieren dafür, die darin formulierten normalen Grenzen, die eine Verschuldung von bis zu 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, spätestens im Jahr 2023 wieder einzuhalten. Von einer Anhebung der Grenze halten sie nichts.

„Ein hohes Maß an Flexibilität“ würden die Regelungen enthalten, sodass der wirtschaftliche Aufschwung davon nicht abgewürgt würde. Anstatt die Schuldengrenze anzuheben, wollen sie die Komplexität des Regelsystems reduzieren sowie die Transparenz hinsichtlich der Einhaltung und Durchsetzung verbessern.

Und sie fordern die Einführung einer Ausgabenregel für die Staaten: dass die Regierungen nicht mehr ausgeben dürfen, als ihre Wirtschaft im Vergleich wächst. Außerdem müssten die vielfältigen Ausnahmen der Regeln abgeschafft werden.
Schnitzer und Truger halten es dagegen für „sehr problematisch“, höher verschuldete Staaten wie Italien durch die Regeln zu zwingen, ihre Schulden relativ bald auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu reduzieren.

Vielmehr brauche es „eine vorsichtige fiskalische Exit-Strategie, die den Aufschwung und die Wachstumsaussichten nicht beeinträchtigt“. Würde gleich wieder auf eine restriktive Fiskalpolitik umgeschwenkt werden, fürchten Schnitzer und Truger, könne das mit Blick auf die Staatsverschuldung letztendlich gar kontraproduktiv sein.

Die Ökonomin und der Ökonom schlussfolgern: „Vor diesem Hintergrund liegt eine Reform der Fiskalregeln nahe, die länderspezifische Zielwerte für den Schuldenstand oder die Anpassungsgeschwindigkeit mit einer Privilegierung investiver Ausgaben verbindet.“ Mit einer Ausgabenregel können aber auch sie sich anfreunden.

Klimapolitik: Die Antwort ist international

In der Klimapolitik legen die Weisen ihren Schwerpunkt auf die internationale Klimapolitik. Darüber werde in Deutschland zu wenig diskutiert. Damit Fortschritte bei der globalen Kooperation erzielt werden können, fordern sie, die Lasten infolge des Klimaschutzes stärker zwischen fortgeschrittenen Volkswirtschaften und Entwicklungs- und Schwellenländern zu verteilen. Die Transfers sollten gezielt die örtlichen Rahmenbedingungen stärken, um die politische Unsicherheit für private Investitionen zu reduzieren.

Technologiekooperationen und der gemeinsame Aufbau von klimafreundlichen Wertschöpfungsketten müssten im Fokus der internationalen Bemühungen stehen. „Gelingt es, durch Lastenausgleich und technologische Kooperationen den Entwicklungs- und Schwellenländern nachhaltige Wachstumsperspektiven zu eröffnen, so könnte global der Klimaschutz beschleunigt und die Kosten für die Vermeidung von Emissionen könnten verringert werden“, schreiben die Wirtschaftsweisen an dieser Stelle in trauter Einigkeit.

Neben der Zusammenarbeit unter dem Dach der Vereinten Nationen sei die Kooperation innerhalb kleinerer Gruppen von Staaten eine wichtige Option. So können beispielsweise bilaterale Technologiepartnerschaften zwischen Staaten Unternehmen die Möglichkeit bieten, frühzeitig klimafreundliche Technologien zu erproben und zu skalieren.

Investitionsschutzabkommen kommt eine wichtige Rolle zu, um die notwendigen Investitionen zu mobilisieren. Handelsabkommen sollten der engen Verflechtung zwischen Handel und Klima Rechnung tragen.

Auch stellen die Experten die Frage des sozialen Ausgleichs. Viele Maßnahmen hätten eher Einkommen von unten nach oben umverteilt, etwa die Förderung von Solaranlagen, Gebäudesanierung oder Elektrofahrzeugen. „Soziale Ausgewogenheit muss ernster genommen werden“, so steht es im Gutachten. Das könne etwa gelingen, wenn man die CO2-Bepreisung schärft und die Einnahmen über eine Senkung der Strompreise zurückgibt.

Bildung und Ungleichheit: Dringender Auftrag an die Politik

Die Neuerfindung des Sachverständigenrats zeigt sich auch bei sozialökonomischen Themen. Zwar attestieren die Weisen insgesamt keine erhöhte Ungleichheit während der Krise. Doch schreiben sie: „In der Coronakrise waren Selbstständige, Geringqualifizierte und geringfügig Beschäftigte besonders stark von den Auswirkungen am Arbeitsmarkt betroffen.“

Fachkräfteengpässe in der Transformation der Wirtschaft sollten daher eingedämmt und die Arbeitsmarktchancen insbesondere von Geringqualifizierten verbessert werden. Dazu sollten die Erwerbsanreize für Zweitverdienende erhöht werden – wozu eine Reform des Ehegattensplittings und die Verbesserung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten beitragen können.

Auch im Bereich der Bildung müsse die Politik dabei ansetzen. „Dem deutschen Bildungssystem gelingt es bisher noch zu wenig, die schlechteren Startbedingungen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien auszugleichen“, wird im Gutachten kritisiert. Auch bei der Übergabe an die Bundeskanzlerin war es das Erste, was Schnitzer aufbrachte: „Wir müssen gerade nach der Pandemie mehr in Bildung investieren.“

Die pandemiebedingten Einschränkungen hätten für diese Kinder besonders große Nachteile gehabt. Daher seien umfangreichere Maßnahmen als bisher notwendig, um Bildungsrückstände aufzuholen. Förderungen sollten gezielt auf leistungsschwache und benachteiligte Kinder ausgerichtet werden.

Mehr: Vier Wege, wie die Wirtschaftsweisen ihren Einfluss stärken könnten

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