Interview „Wir verlieren enormes Potential“

Andreas Schleicher ist Leiter der Bildungsabteilung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Handelsblatt: Herr Schleicher, Bildung sei das A und O für den Erfolg unseres Landes, betonen Politiker gern. Handeln sie auch danach?
Andreas Schleicher: Seit PISA misst sich Bildungspolitik und Bildungspraxis an tatsächlich erbrachten Schülerleistungen. Und wir bewerten Chancengerechtigkeit nicht mehr danach, ob die Schulen überall gleich aussehen - sondern danach, ob es gelingt, außergewöhnliche Fähigkeiten gewöhnlicher Schüler zu finden und fördern. Das ist ein entscheidender Mentalitätswandel, der zu deutlich verbesserten Schülerleistungen geführt hat.
Sie sind also rundum zufrieden?
Nein, keineswegs. Die wachsende Bedeutung von Bildung, die sich in Deutschland ganz klar am steigenden Einfluss auf Lebens- und Einkommenschancen widerspiegelt, schlägt sich nicht in entsprechenden Investitionen nieder. 1995 gab Deutschland mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus, 2008 waren es nur 4,8 Prozent - das ist deutlich unter dem OECD-Mittel von 5,9 Prozent. Auch in Privathaushalten ist die Bereitschaft, in Bildung zu investieren, nicht viel höher - das zeigt sich in den gescheiterten Versuchen für Studiengebühren.
In Kindergärten sind solche Gebühren dagegen gang und gäbe.
Ja genau - dort, wo die entscheidenden Grundlagen gelegt werden und wo Gebühren wirklich keinen Sinn haben. Alles was der Politik dazu einfällt, ist das Betreuungsgeld. Wir geben öffentliche Gelder dafür aus, dass Eltern ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken. Da gibt es noch viel zu tun.
Wo steht das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich?
Die Schülerleistungen haben sich erfreulich entwickelt, die PISA-Leistungen sind deutlich besser als 2000. Allerdings liegt Deutschland bei der Lesekompetenz nur noch im Mittelfeld. Auch in den Hochschulen sehen wir steigende Studierendenzahlen, aber trotzdem hängt Deutschland dem internationalen Trend weit hinterher. Deutschlands Beitrag zum globalen Pool an Talenten ist über die letzten Jahrzehnte deutlich geschrumpft: In der Bevölkerungsgruppe der 55- bis 64-Jährigen stellt Deutschland 6,3 Prozent des globalen Angebots an hochqualifizierten Kräften. In der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen sind es nur noch halb so viele.
Woran liegt das?
Daran, dass aufstrebende Volkswirtschaften wie China im weltweiten Talentpool immer stärker ins Gewicht fallen. Und daran, dass die Zahl der Hochqualifizierten in Deutschland in den letzten Jahrzehnten außergewöhnlich langsam gestiegen ist.
Gibt es in Deutschland denn genug Studienplätze in den wichtigen Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT)?
Das Problem liegt weniger in der Quantität des Bildungsangebotes. Das größere Problem ist, dass viel zu wenig getan wird, um Kinder und junge Menschen für die Naturwissenschaften zu interessieren. Fast jedes Kind im Kindergarten und die allermeisten Viertklässler in Deutschland begeistern sich für die Naturwissenschaften. Bei den 15-Jährigen ist es nur noch deutlich weniger als die Hälfte.
Was läuft falsch?
Durch die Art und Weise, wie wir in Deutschland die MINT-Fächer unterrichten, verlieren wir enormes Potenzial. Oft werden das reine Paukfächer. Das reicht aber nicht aus. Zum einen, weil derartiges Wissen schnell veraltet, zum anderen, weil Arbeit, die digitalisiert oder automatisiert werden kann, in Hochlohnländern keine Zukunft mehr hat. Sie können heute fast jede Multiple-Choice-Klassenarbeit mit Hilfe eines Smartphones in Sekundenschnelle lösen. Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder nicht nur fast so gut wie ein Smartphone sind, dann müssen Sie sich mehr einfallen lassen.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
Dann mach doch eine Ausbildung und anschließend Fernstudium, da verdient man tagsüber Geld, setzt Teile der Gebühren von der Steuer ab und zu schaffen ist das auch...und warum muss es immer Köln, Hamburg etc sein.
Tut mir leid, aber ist das nicht ne völlig blöde Diskussion? Machen Sie doch einmal eine Umfrage bei Studierenden oder an Universitäten, wieviele Professoren auf wieviele Studierende kommen. An meiner Fakultät in Hamburg gibt es für die meisten Kurse 100 bis 200 Anmeldungen für Vorlesungen in Räumen die für 60 Studierende ausgelegt sind (gemessen an der Anzahl der vorhandenen Sitzplätze). Durch die von der Politik aufgezwungene Erhöhung der Studierenden Zahlen wird das seit vier Semestern immer schlimmer. Und dann fragen Sie doch einmal wieviel Studierende in Köln, Hamburg, München, Aachen etc. Für WG Zimmer zahlen. In Hamburg zahlen sie bis zu 250€ für ein 9m^2 Zimmer im Wohnheim, Wartezeit bis zu 7 Monate. Sie zahlen im Durchschnitt 350€ für ein WG Zimmer. Die Bücher die die Profs empfehlen, amerikanische, kosten dann bis zu 75€ und sind in den Bibliotheken nicht vorhanden oder nicht ausleihbar...einscannen geht ist ab illegal.Wenn Sie nun Bafög bekommen würden, ca. 700€, müssen sie immer noch Essen und Versicherungen abziehen. Wenn Sie Geschwister haben und Ihre Eltern sind bloß kl. beamte oder das Studium quasi eine zweite "Ausbildung" ist, erhalten sie keine Unterstützung und müssen nebenher arbeiten gehen. Somit dauert es länger fertig zu werden. Diskriminierung hat hinzukommend mit der Abschaffung durch das Diplom begonnen. Nicht jeder bekommt einen Masterplatz, braucht dann noch zusätzlich GMAT oder GRE und Toefl zusätzliche Kosten ca.500€ + sonstiges für die Bewerbung zum Master.. Diploma haben früher umsonst studiert und die besseren Voraussetzungen zur Jobsuche + Promotionsrecht gehabt. Als derzeitiger Student, kann ich die Kritiker und Fragezeichen der Studienabgänger von vor 2008 absolut nicht verstehn. Es wird nun noch Elite gefördert die das Geld dazu hat und einen gewissen sozialen Status,... Andere müssen hart dafür arbeiten zu studieren.