Wirtschaftswachstum Wenn Banken gefährlich werden

Das Londoner Bankenviertel Canary Wharf - ein zu großer Finanzsektor gefährdet die wirtschaftliche Stabilität.
Die britische Regierung ist alarmiert. Der Finanzsektor braucht Hilfe. Dringend.
Wir schreiben den Sommer 2006. In London fürchtet Premierminister Gordon Brown um die führende Rolle der City als globalen Finanzplatz. Um attraktiv zu bleiben für Banken und Hedge-Fonds, legt die Regierung ein üppiges Förderprogramm auf. Eine weltweite Werbekampagne preist die Vorteile des Standorts London für die Finanzwirtschaft an.
Je größer der Bankensektor desto besser - davon waren vor fünf Jahren nicht nur die Briten, sondern auch nahezu alle Ökonomen überzeugt. Inzwischen wissen wir es besser. Die schlimmste Bankenkrise seit der Großen Depression hat gezeigt, welche Gefahren vom Finanzsystem ausgehen. Und einiges spricht dafür, dass die Krise nicht nur ein zufälliger Ausrutscher war. Ein Forscherteam des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad) kommt zu dem Schluss: Zu viel Finanzwirtschaft ist schlecht. Wenn sie zu groß sind, bremsen Banken das Wirtschaftswachstum, statt es zu beflügeln.
Gehaltsexzesse mit Nebenwirkung.
"Es kann Situationen geben, in denen es zu viel Finanzwirtschaft gibt", lautet das Ergebnis der Studie. "Dieser Befund ist erstaunlich klar und unabhängig davon, welche Daten und Schätztechniken man verwendet", schreiben Jean Louis Arcand (Graduate Institute, Genf), Enrico Berkes (IWF) und Ugo Panizza (Unctad) in einer Studie mit dem Titel "Too much Finance?".
Seit der Industriellen Revolution ist die Finanzindustrie stärker gewachsen als der Rest der Wirtschaft. In Großbritannien zum Beispiel hat die Geldbranche in den vergangenen 160 Jahren pro Jahr um zwei Prozentpunkte stärker zugelegt. "Seit 1850 war das Wachstum im Finanzsektor insgesamt mehr als doppelt so groß wie in der Gesamtwirtschaft", sagt der englische Notenbanker Andrew Haldane. In den USA entfielen vor der Krise fast 30 Prozent der Unternehmensgewinne auf die Finanzindustrie, obwohl sie nur rund acht Prozent zur Wirtschaftsleistung beisteuerte.
Bis zum großen Crash in den Jahren 2007 bis 2009 hielten Volkswirte das für unproblematisch. Sie waren überzeugt, dass Finanzmärkte effizient funktionieren. Die hohen Gewinne seien der Lohn für die wichtige Rolle dieses Sektors in der Gesamtwirtschaft.
Das war ein Trugschluss, zeigt Haldane in einer Studie mit dem Titel "The Contribution of the Financial Sector Miracle or Mirage?".
Die enormen Überschüsse und die immensen Produktivitätssprünge waren nur möglich, weil die Geldhäuser im großen Stil versteckte Risiken eingingen. Haldane: "Dadurch wurde der positive Beitrag, den Banken zur Wirtschaft leisten, deutlich überzeichnet."
Hinzu kam, dass viele Kredite nicht in produktive Investitionen flossen, sondern in Immobilienspekulationen. "Viele Aktivitäten der Banken sind gesellschaftlich nutzlos", ist der britische Finanzaufseher Adair Turner überzeugt.
Die neue Studie des dreiköpfigen Forscherteams um Jean Louis Arcand liefert empirische Belege für diese These. Als Indikator für die Größe des Finanzsektors ziehen die Experten das Volumen der Kredite heran, das Banken und andere Akteure an die Privatwirtschaft vergeben. Für die Jahre 1976 bis 2005 und eine Vielzahl von Staaten stellen sie fest: In Schwellen- und Entwicklungsländern sowie Staaten mit einem kleinen Bankensystem gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen wachsendem Finanzsystem und höherem Wohlstand. Solange das Kreditvolumen kleiner ist als das Bruttoinlandsprodukt, geht ein größerer Finanzsektor mit mehr Wachstum einher - danach ist es umgekehrt. Ein mächtiges Bankensystem fördert nicht mehr das Wachstum, sondern hemmt es. Vor Ausbruch der Krise lagen 21 Länder in dieser Gefahrenzone - allen voran Island und die USA, aber auch die Schweiz und Großbritannien. Die Forscher stoßen auf einen frappierenden Zusammenhang: "Die Liste der zehn Länder mit dem größten Finanzsektor enthält fast alle Staaten, die besonders stark von der Finanzkrise betroffen waren."
Was ist der Grund für dieses Phänomen?
Die Forscher vermuten zwei Ursachen. Zum einen verstärke ein aufgeblähter Finanzsektor die Ausschläge nach oben und unten. Wenn Investitionen und Konsum übermäßig auf Pump finanziert werden, können schon kleine Konjunkturkrisen die Banken ins Wanken bringen. Zu viel Auf und Ab ist schlecht für den Wohlstand, hat John Joseph Wallis (University of Maryland) festgestellt. "Reiche Länder sind nicht deshalb reicher, weil sie schneller wachsen als arme. Sie erleben seltener Episoden mit negativem Wachstum, und sie schrumpfen in Krisen langsamer."
Zudem spricht einiges dafür, dass ein zu großer Finanzsektor den Arbeitsmarkt verzerrt. So konnten Akademiker vor der Krise weit mehr verdienen als in anderen Branchen, und die Gehälter sind überproportional stark gestiegen.
Nur gut die Hälfte der Lohnunterschiede zur restlichen Privatwirtschaft waren durch die höheren Anforderungen an das Personal in der Finanzbranche begründet, zeigt eine Studie der Ökonomen Thomas Philippon (New York University) und Ariell Reshef (University of Virginia) mit dem Titel "Wages and Human Capital in the U.S. Financial Industry: 1909-2006".
Der große Rest war leistungsloses Einkommen - eine ungerechtfertigte "Rente", wie es im Fachjargon heißt. Die lockt viele kluge Köpfe an, die in anderen Tätigkeiten für die Gesellschaft nützlicher gewesen wären.
Auf Dauer dürften solche Gehaltsexzesse die Wirtschaft destabilisieren. Dafür spricht eine erstaunliche historische Parallele, die Philippon und Reshef offenlegen. Ähnlich überzahlt waren Banker in der in der Geschichte nur einmal: vor Ausbruch der Großen Depression.
Links zum kostenlosen Download aller zitierten Studien finden Sie hier.