Digitale Revolution Das elektronische Shirt – Wie die Vermessung von Sportlern voranschreitet
![Direkt am Körper getragene Sensoren zeichnen immer mehr Daten auf. Quelle: Samsung, Apple, Vorn, Qus, ddp [M]](/images/wearables/25533684/3-format2020.jpg)
Direkt am Körper getragene Sensoren zeichnen immer mehr Daten auf.
München Egal ob Sportuhren, Fitnessarmbänder oder Smartwatches: Profiathleten und Amateursportler können heute auf eine Vielzahl von kleinen digitalen Helfern zurückgreifen, um ihre Leistungen zu messen und ihre Fortschritte zu überwachen. Diese sogenannten Wearables messen beispielsweise die zurückgelegte Kilometerzahl, aber auch Vitaldaten wie die Herzfrequenz in Echtzeit.
Doch die Vermessung von Sportlern schreitet immer weiter voran: Weltweit machen sich Unternehmen daran, die Leistung von Athleten noch viel genauer als bisher und mit ganz neuen Mitteln zu erfassen. Viele Start-ups setzen auf die sogenannte smarte Bekleidung, die Brustgurte und Laufuhren eines Tages ersetzen könnte.
Patrick Lambertz, Chef des Schweizer Start-ups Vorn, arbeitet mit seinem siebenköpfigen Team daran, ein smartes elektronisches Shirt zur Marktreife zu führen. Auf der Sportmesse Ispo in München hat die junge Firma gerade das Konzept eines sogenannten Fitness-Trackers vorgestellt, der medizinischen Ansprüchen genügen und gleichzeitig die sensiblen Vitaldaten umfassend schützen soll. „Wir haben das Potenzial, zu einem Standard der Industrie zu werden“, ist Lambertz überzeugt.
Mit dem Fokus auf den Datenschutz reagiert Vorn auf ein Problem, auf das zahlreiche Experten hinweisen: Die von Wearables erhobenen Gesundheitsdaten sind sehr gründlich. „Sie haben medizinischen Charakter“, erklärt Roger Abächerli, Professor am Institut für Medizintechnik der Hochschule Luzern. Doch während Ärzte der Schweigepflicht unterlägen, könnten die Anbieter solcher Geräte mit den höchst persönlichen Daten anfangen, was sie wollten.
Es geht um einen riesigen Markt. Die Marktforscher von Gartner gehen davon aus, dass Konsumenten dieses Jahr weltweit rund 52 Milliarden Dollar für Wearables ausgeben werden. Das ist gut ein Viertel mehr als 2019. Das mit Abstand meiste Geld stecken die Leute in Computeruhren, etwa die Apple Watch oder die Samsung Galaxy Watch.
Das stärkste Wachstum aber verzeichnet den Experten zufolge die smarte Kleidung mit einem Plus von mehr als 50 Prozent. So rechnet Gartner auf diesem Feld mit einem Umsatz von knapp 1,8 Milliarden Dollar. Der Grund dafür: Die Sensoren in der elektronischen Kleidung seien kaum noch zu spüren und praktisch nicht zu sehen. Das mache die Textilien attraktiver, auch für Menschen, die bisher der tragbaren Elektronik skeptisch gegenüberstanden, so Gartner-Spezialist Alan Antin.
Datenschutz sei für die Konsumenten dabei enorm wichtig, so die Gartner-Experten. Und genau da setzt Vorn an. Ziel sei es zunächst, die Vitaldaten noch präziser zu erfassen, als es die momentan erhältlichen Produkte können, erklärt CEO Lambertz. Das System richtet sich einerseits an Athleten, die ihr Training steuern möchten. Andererseits soll es weniger sportlich ambitionierten Menschen einen Einblick in ihren Gesundheitszustand bieten. So ersetze es etwa ein EKG beim Arzt oder im Krankenhaus. Es könne aber zum Beispiel auch am Gang erkennen, wann bei einem Diabetiker ein neuer Schub bevorstehe.
Sensoren im T-Shirt erfassen die Informationen und leiten sie an eine kleine Plastikbox voller Elektronik weiter, die unterhalb des Nackens auf dem Textil angebracht wird. Von dort lassen sich die Daten dann auf Rechner übertragen. Zur Auswertung können die Nutzer eine App von Vorn einsetzen.
Die Daten würden per Verschlüsselung geschützt, und zwar von der Elektronikeinheit am Shirt bis hin zur App, erläutert Martin Robausch, Technikchef von Qnective. Das Unternehmen hat sich auf Kommunikationsinfrastruktur spezialisiert und ist für den sicherheitsrelevanten Teil des Systems verantwortlich. Die Nutzer der Lösung von Vorn bekämen eine Art Tresor für ihre Vitaldaten, so Robausch. Nur sie selbst hätten dafür einen Schlüssel. Damit könnten auch nur sie entscheiden, was damit geschehe.
„Jede Form von Vitaldaten ist extrem wertvoll“, betont Robausch. Wenn sie möchten, könnten die Nutzer von Vorn der Datenweitergabe zustimmen und die Informationen zum Beispiel Universitäten zur Verfügung stellen – und damit Geld verdienen. Aber eben nur dann, wenn sie das wünschen. Das sei der große Unterschied zu Firmen wie Google. Der US-Konzern hat im November für mehr als zwei Milliarden Dollar Fitbit gekauft, einen der wichtigsten Anbieter von Fitnessuhren und Sportarmbändern.
Zunächst will Lambertz ein Gerät für Sportler in die Läden bringen. Der Apparat und das dazugehörige Shirt sollen 650 Euro kosten und ab Frühjahr 2021 erhältlich sein. Im zweiten Schritt möchte der Unternehmer damit Arbeiter in kritischen Bereichen überwachen, etwa Feuerwehrleute. Parallel dazu will der 47-Jährige für seine Entwicklung aber auch die Zulassung als Medizinprodukt erlangen.
Der Manager kennt sich sowohl in Hightech als auch in der Sportindustrie gut aus: Sein Vater hat einst X-Bionic aufgebaut, einen innovativen Anbieter von Funktionstextilien für Athleten. Er selbst war jahrelang in führenden Positionen in der Schweizer Firma tätig.
Gewaltige Konkurrenz
Lambertz sieht sich mit Vorn einer gewaltigen Konkurrenz gegenüber. Da sind die großen Elektronikkonzerne, die schon heute Milliarden mit Wearables verdienen. Mit den Uhren von Samsung und Apple lassen sich umfangreiche Sportdaten gewinnen, ebenso mit den meist etwas günstigeren Angeboten der chinesischen Wettbewerber Huawei und Xiaomi. Ganz auf die Athleten spezialisiert haben sich bekannte Uhrenmarken wie Garmin, Suunto oder Polar.
Zu den schärfsten Wettbewerbern aber könnten sich vor allem andere Start-ups entwickeln. Beispiel Qus: Mit seiner kleinen Firma hat Hannes Steiner bereits eine marktreife Lösung eines smarten Leibchens entwickelt. Der Österreicher hat sein System Anfang des Jahres vorgestellt. Besonders an Qus ist vor allem das Textil, das die Daten erfasst. Denn der Gründer schafft es, die Informationen von den Sensoren im Shirt an die Elektronikeinheit durch Fäden zu übertragen.
Damit seien die Hemden oder BHs problemlos zu waschen. „Das unterscheidet uns von der Konkurrenz“, sagt der Gründer. Das Shirt kommt ohne Drähte und ohne Klebstoff aus. Vorn etwa setzt auf Leiterbahnen aus Silikon. Qus will damit vor allem den bisweilen sehr unbequemen Brustgurt ersetzen, mit dem viele Athleten ihre Leistungsfähigkeit überwachen.
Auch Steiner hat eine kleine Elektronikeinheit an der Rückseite des Shirts befestigt. Sie wiegt lediglich 18 Gramm. Atem- und Herzfrequenz, Herzratenvariabilität, EKG und vieles mehr – mit seinem smarten Shirt vermisst Steiner Sportler bis ins Detail. Insgesamt 150 Parameter erfasse das System. Über eine App lassen sich die Informationen analysieren. Die Daten seien viel genauer als die von Sportuhren, behauptet der Jungunternehmer: „Mit denen kann ich zum Arzt gehen.“ Allerdings erhebt Qus keinen medizinischen Anspruch.
Weil das Shirt von Qus besonders bequem sei und die Elektronik so klein, sei das System ideal für Mannschaftssportarten oder Kampfsport, wo bislang kaum direkt am Körper gemessen werde, sagt Steiner. Oder auch zur Schlafanalyse. Ein Shirt von Qus kostet 199 Euro, die Elektronik dazu noch einmal so viel.
Die großen Sportartikelhersteller Nike, Adidas und Puma lassen das Geschäft bislang weitgehend links liegen. Dafür sehen kleinere Firmen eine Chance. Das US-Unternehmen Sensoria bietet schon eine ganze Kollektion smarter Sportkleidung an – vom BH über das Shirt bis zu den Socken. Myzone, ebenfalls aus den USA, hat neben Textilien auch Sportuhren und Waagen im Angebot.
Die amerikanische Firma Wearable X wiederum hat sich ganz auf Yoga fokussiert. Sensoren überwachen, ob Sportler die Yoga-Übungen richtig ausführen und korrigieren die Nutzer gegebenenfalls, indem kleine elektrische Geräte am Körper vibrieren. Über eine Smartphone-App gibt es parallel Anweisungen. Die finnische Myontec dagegen hat sich darauf spezialisiert, über die Bekleidung die elektrische Muskelaktivität zu messen und so das Training besser zu steuern.
Welches Gerät ein Sportler auch immer nutze, eins dürfe er nie vergessen, mahnt Medizintechnik-Professor Abächerli: Die Informationen seien stets wertvoll und schützenswert. „Denn mit den Daten von heute kann ich Ihnen vorhersagen, wie es Ihnen morgen geht.“
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