Digitale Revolution Fabrik der Zukunft – Der leise Abschied von Henry Ford

In Freiburg stellt der Sensorhersteller Sick fünf Produktfamilien in einem Werk her.
Bielefeld, Freiburg, München Die Atmosphäre in der Werkshalle in Bielefeld gleicht der in einem Autohaus: Frisch poliert stehen dort die Werkzeugmaschinen von DMG Mori ausgestellt, akkurat nebeneinander aufgereiht wie Neuwagen beim Fahrzeughändler. Hunderte Manager aus aller Welt streifen über das Gelände, die meisten von ihnen im Anzug, und bestaunen die neuen Werkzeugmaschinen, die das Unternehmen über drei Tage an seinem Firmensitz präsentiert.
Die wichtigste Neuheit: die zweite Generation des Robo2Go, eines Roboterarms, mit dem sich die Werkzeugmaschinen des Konzerns im Handumdrehen automatisieren lassen. Die Bedienung ist so leicht wie bei einem iPad: Mithilfe von Kacheln kann der Bediener die Arbeitsschritte nach und nach programmieren, tiefer gehende Kenntnisse sind dafür nicht nötig.
Vorstandschef Christian Thönes hofft, dass sich der Roboter auch so gut verkauft wie ein iPad. Im dunklen Anzug mit Krawatte läuft er über die Hausmesse, schüttelt Hände und freut sich über das große Interesse der Kunden. „Die Nachfrage nach Automation ist in den vergangenen Jahren weltweit deutlich gestiegen“, sagt er.
Für DMG Mori ein gutes Geschäft: Der Maschinenbauer eilte in den vergangenen Jahren von einem Auftragsrekord zum nächsten.
Es herrscht Goldgräberstimmung
So geht es derzeit vielen Firmen, die ihr Geld mit Automatisierungstechnologien verdienen. Seit der Begriff „Industrie 4.0“ vor rund sechs Jahren einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde, sind die Umsätze der Branche rasant gestiegen.
Allein die Umsätze der deutschen Hersteller sind von 46,6 Milliarden Euro im Jahr 2013 um mehr als 17 Prozent auf 54,7 Milliarden Euro im Jahr 2018 gewachsen. Es herrscht Goldgräberstimmung – und das nicht nur bei DMG Mori in Bielefeld.
Eine Revolution ist im Gang auf den „Shopfloors“ dieser Welt: Technologien wie hochflexible Roboter, selbstfahrende Fahrzeuge und Künstliche Intelligenz (KI) verändern die Art und Weise, wie Produkte hergestellt werden.
Ob der Industriekonzern Bosch, der Schweizer Roboterhersteller ABB oder dessen Rivale Siemens: Es gibt kaum ein Unternehmen aus der Produktionstechnik, das nicht ein eigenes Konzept für die „Fabrik der Zukunft“ entwickelt hätte. Allen gemein ist der Abschied von einer Idee, die die Fabrikplanung vieler Unternehmen seit Jahrzehnten geprägt hat: Statt immer schneller die gleichen Produkte in immer höheren Stückzahlen zu produzieren, zählen heute Flexibilität und Vielfalt.
Zum Beispiel in der Autoindustrie: In Deutschland wird jedes Fahrzeugmodell durchschnittlich in mehr als 30 Varianten angeboten, um verschiedenen Kundentypen gerecht zu werden. Bei großen Herstellern wie BMW und Volkswagen geht die Gesamtzahl der angebotenen Modellvarianten so schnell in die Tausende. Das sorgt bislang für höhere Kosten, weil der Produktionsprozess für jede Variante angepasst werden muss – von der Lieferung und Lagerung der benötigten Teile über die Ausrüstung bis zur manuellen Einstellung der Maschinen.
Schon seit den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts folgen viele produzierende Unternehmen in ihren Fabriken deshalb weitgehend dem Prinzip des Fordismus: Hochspezialisierte Maschinen fertigen in hohem Takt immer wieder identische Produkte, um dadurch sogenannte „Skalenvorteile“ zu erzeugen. Je mehr Produkte mit einer neuen Fertigungsstraße hergestellt und verkauft werden können, desto schneller rechnet sich die Investition.
Doch mithilfe von Technologien wie dem 3D-Druck und moderner Robotik könnten viele Anlagen heute deutlich flexibler produzieren als noch vor siebzig Jahren. Angepasste Laufschuhe von Adidas, selbst designte Rasierer von Gillette, passgenaue Kopfhörer von Samsung: Zahlreiche Produzenten bieten ihren Kunden heute umfangreiche Personalisierungsmöglichkeiten für ihre Produkte an.
Sind Maschinen, Kunden und Lieferanten zudem über das sogenannte „Internet der Dinge“ (Internet of Things, IoT) miteinander vernetzt, kann sich die Fertigung theoretisch selbst steuern und nach dem Bedarf ausrichten – je nachdem, welches Produkt als nächstes gefertigt werden muss. Die Produktivität bleibt hoch, egal, ob dabei ein einziges Werkstück hergestellt wird oder Millionen.
Thomas Bauernhansl, der als Professor für Produktionstechnik und Fabrikbetrieb an der Universität Stuttgart lehrt und das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) leitet, sieht darin einen tief greifenden Paradigmenwechsel: „Wir gehen weg von einer eher angebotsorientierten Produktion hin zu einer nachfrageorientierten.“ Dabei lege der Kunde in vielen Fällen künftig weitgehend selbst fest, in welcher Ausfertigung er ein Produkt haben möchte – der Hersteller richtet sich danach und passt seine Prozesse entsprechend an.
Wie das in der Praxis aussieht, zeigt das Beispiel des badischen Sensorherstellers Sick, der im vergangenen Jahr seine erste Industrie-4.0-Fabrik im Produktionsnetzwerk in Betrieb genommen hat. Die nahezu menschenleere Fertigungshalle gleicht einer Mischung aus Jägerhütte und Hightech-Labor: Zwischen den vielen meterhohen hellen Holzpfählen, die die Halle stützen, kurven fahrerlose Ministapler herum, die Kisten mit halbfertigen Sensoren von einer Maschine zur nächsten transportieren.
Welche Stationen die Transporter abfahren, kommt darauf an, welche Sensoren gerade produziert werden müssen. Insgesamt stellt Sick in der neuen Fabrik fünf verschiedene Produktfamilien her, die nach und nach auf zwölf erweitert werden sollen. Ein Novum, wie Produktionschef Volker Zäh erklärt: „Bisher konnten wir mit jeder Fertigungslinie genau eine Produktfamilie herstellen. Diesen Aufwand haben wir drastisch reduzieren können.“
Theoretisch lassen sich in der neuen Fabrik nun 500.000 Varianten produzieren – von der Größe des Sensors über dessen Funktionen bis zur individuellen Beschriftung mit dem Firmenlogo des Kunden. Insgesamt ist die Anlage für die Produktion von rund 1,2 Millionen Sensoren pro Jahr ausgelegt. Betreibt Sick seine Fabriken üblicherweise im Ein- bis Zweischichtbetrieb, ist das Werk in Freiburg mit drei Schichten ausgelastet.
Doch mit einer klassischen Produktionslinie aus der Massenfertigung hat die neue Fabrik nur wenig gemein. Ein Fließband gibt es zum Beispiel nicht. Wie in einem Raster stehen die Maschinen stattdessen aufgereiht in der Halle, getrennt durch bunte Striche auf dem Boden. Die Striche helfen den fahrerlosen Transportsystemen, durch die Halle zu navigieren – vom Lager über die Montage bis zur Kennzeichnung und Verpackung.
Gesteuert wird die Anlage von einer Software, die basierend auf bestehenden Aufträgen entscheidet, was als Nächstes hergestellt wird. Die hat der Konzern selbst entwickelt – auch weil es damals, als Sick 2015 erste Pläne für die neue Fabrik hatte, schlicht noch keine solche Software gegeben habe, wie Zäh erklärt.
Das hat sich mittlerweile geändert: Große Player wie Siemens und Bosch haben die wachsende Bedeutung digitaler Zusatzservices erkannt und in den vergangenen Jahren massiv in den Aufbau digitaler Kompetenzen investiert. So beschäftigt allein Bosch derzeit rund 20 000 Softwareentwickler, Tendenz steigend.
„Das Zusammenspiel von Hardware und Software wird immer enger, wobei die Bedeutung von Software zunimmt“, beobachtet auch DMG-Mori-Chef Thönes. „Bei den Maschinen haben wir sowohl einen hohen Produktivitäts- als auch einen hohen Genauigkeitsgrad erreicht. Zukünftig liegen die Produktivitätspotenziale im gesamten Prozess.“
Software wird immer wichtiger
Ein Beispiel dafür sind Algorithmen, die die Maschinen nicht bloß steuern, sondern auch automatisch auf mögliche Fehler untersuchen können. Bei einer solchen „vorausschauenden Wartung“ messen Sensoren verschiedene Parameter wie Vibration oder Lautstärke und sagen anhand von Veränderungen in den Daten voraus, ob eine Maschine bald ausfallen könnte. Damit werden ungeplante Stillstände verhindert, bevor sie überhaupt entstehen können.
Auch bei der Qualitätskontrolle gewinnt Software in der Fabrik der Zukunft zunehmend an Einfluss: So können optische Sensoren die fertigen Werkstücke am Ende der Produktion überprüfen. Werden Mängel erkannt, passt die Software den Produktionsprozess automatisch an.
Noch nutze nur ein relativ kleiner Teil der Unternehmen die neuen digitalen Möglichkeiten in ihrer eigenen Fertigung voll aus, schätzt Produktionsforscher Bauernhansl. „Gute Fortschritte haben bisher vielleicht zehn Prozent der Firmen gemacht. Weitere sechzig Prozent haben zwar angefangen, sind aber noch zu langsam unterwegs.“ Doch jedes zehnte Unternehmen hat sich nach seiner Schätzung noch gar nicht mit Industrie 4.0 beschäftigt: „Hier droht eine digitale Zweiklassengesellschaft zu entstehen.“
Vorn dabei sind derzeit vor allem große Industrieunternehmen wie Bosch und Siemens, die teilweise doppelt vom Wandel der Produktion betroffen sind: als Anwender von Produktionstechnologie und als Anbieter. So haben die Stuttgarter kürzlich bekanntgegeben, ihre weltweit 280 Werke nach und nach mit vernetzter Automatisierungstechnologie ausrüsten zu wollen. Diese entwickelt Bosch im eigenen Haus. Sie soll dem Konzern bis 2020 neben einer Milliarde Euro zusätzlichem Umsatz noch eine weitere Milliarde Euro an Effizienzgewinnen einbringen.
Auf der Hannover Messe haben die Schwaben in diesem Jahr gezeigt, wie sie sich die Fertigung in 15 Jahren vorstellen: Der für das Industriegeschäft zuständige Bosch-Geschäftsführer Rolf Najork beschrieb die Idee als „hochintelligente Halle“, bei der nur noch Boden, Wände und Decken fest installiert sind. Dabei spielt die Flexibilität der einzelnen Anlagenbestandteile eine große Rolle: „Die Maschinen sind beweglich und konfigurieren sich selbst – je nachdem, was gerade gefertigt werden muss.“
Auch Siemens gehört zu den Vorreitern bei der industriellen Digitalisierung. Der Konzern beansprucht für sich, als einziger Anbieter die ganze Kette der Digitalisierung im Rahmen der Industrie 4.0 im Portfolio zu haben: vom Entwurf und der Simulation eines Produkts über die gleichzeitige Planung der Fertigung bis hin zum digitalisierten Produkt.
Wie das aussehen kann, zeigt der Konzern in seinem Simatic-Werk in Amberg. Die Fertigungslinien wurden vor der Errichtung komplett am Computer geplant und simuliert. In der laufenden Produktion erfassen weit mehr als 1000 Scanner jeden Tag rund eine Million Ereignisse. So weiß die Steuerung immer, wer was macht und wo welches Teil ist.
Leiter des Siemens-Elektronikwerks Amberg: „Es geht um die Verschmelzung der realen mit der virtuellen Welt“
In der Musterfabrik in Amberg kommt auch KI zum Einsatz: Bislang mussten alle Leiterplatten, die das Werk verlassen, zur Kontrolle geröntgt werden. Nun errechnet ein Algorithmus aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit, bei welchen Leiterplatten ein Schaden möglich ist. So muss nur die Hälfte der Platten geröntgt werden.
Aktuell spielt vor allem die Anbindung der Maschinen an das Internet der Dinge eine zentrale Rolle. Siemens hofft, seine IoT-Plattform Mindsphere als eine Art Quasistandard in der Industrie etablieren zu können. „Unser Ziel ist es, dass Siemens die wichtigste Internet-der-Dinge-Plattform für Industrie und Infrastruktur wird, sozusagen das Betriebssystem für die Industrie“, sagte Technologievorstand Roland Busch.
Nicht nur für Siemens, sondern für die ganze Industrie werden IoT-Plattformen wie Mindsphere immer wichtiger. Sie sind das Betriebssystem, über das spezielle Programme („Apps“) für vorausschauende Wartung, Qualitätskontrolle oder Produktionsplanung mit dem Maschinenpark in den Fabriken kommunizieren können.
Neben Siemens bietet zum Beispiel auch der US-Rivale General Electric mit Predix eine Industrieplattform an. Zudem hat ein Bündnis von deutschen Maschinenbauern, darunter DMG Mori und Dürr, in Zusammenarbeit mit der Software AG die Plattform Adamos, eine brancheneigene Lösung, entwickelt.
Cloud-Anbieter profitieren
Auch die großen Tech-Konzerne aus dem Silicon Valley bekommen ein Stück vom Kuchen ab: Als Cloud-Anbieter stellen sie die Infrastruktur bereit, auf der die Plattformen betrieben werden können. Die Nase vorn hat dabei Amazon, gefolgt von Microsoft, IBM und Google. So sorgt die Cloud für die nötige Rechenpower, um zum Beispiel datenintensive KI-Anwendungen in Echtzeit laufen zu lassen – wie beispielsweise bei der Fehlererkennung in der Produktion bei Siemens.
Bauernhansl rechnet damit, dass sich je nach Branche unterschiedliche Plattformanbieter durchsetzen werden. „Das Rennen ist noch nicht entschieden. Es kommt dabei auf das Produkt und den Markt an. Ich sehe aber die Gefahr, dass die deutsch geprägten Plattformen ins Hintertreffen geraten, weil zu wenig passiert.“
Zumindest Siemens konnte mit Mindsphere zuletzt einen großen Erfolg verbuchen: Der Autobauer Volkswagen kündigte zur Hannover Messe an, seine Produktionssysteme, Maschinen und 122 Fabriken weltweit auf Basis von Mindsphere durchgängig digitalisieren und vernetzen zu wollen.
Langfristig will VW auch die globale Lieferkette an mehr als 30.000 Standorten mit 1 500 Zulieferern und Partnerunternehmen integrieren. Die Produktivität in den VW-Fabriken soll so bis zum Jahr 2025 um 30 Prozent wachsen – während die Modellvielfalt bei den Fahrzeugen allein schon durch die E-Mobilität in Zukunft deutlich ansteigen dürfte.
Was in der alten Welt eine unüberwindbare Herausforderung war, ist in der neuen eine Frage des Zusammenspiels von richtiger Hard- und Software.
Egal, ob es um Künstliche Intelligenz oder um Blockchain geht – die Geschwindigkeit, mit der neue Schlagwörter aus der digitalen Welt auf uns einprasseln, ist enorm. Doch was davon hat Substanz, was ist nur Hype? In unserer neuen Multimedia-Rubrik „Digitale Revolution“ beleuchten Handelsblatt-Redakteure, wie Digitalisierung unsere Unternehmen, unsere Gesellschaft und unseren Alltag verändert. Jede Woche nehmen sich die Redakteure eines Schwerpunktthemas an. Die unterschiedlichen Aspekte werden in mehreren Beiträgen multimedial aufbereitet. Dabei kommen interaktive Grafiken, Videos oder Bildergalerien zum Einsatz.
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