Digitale Revolution Retrofit in der Industrie: Wenn neue Sensoren alte Maschinen digital upgraden

Eine Software kann vorhersagen, wann die Nadel bricht – angetrieben wird die Nähmaschine aber per Fußtritt.
Erbach, Wiesbaden, Düsseldorf Manche nennen Claus Lau den „Nähmaschinen-Mann“ – und das, obwohl der studierte Nachrichtentechniker eigentlich gar keine Nähmaschine bedienen kann. Der 57-Jährige mit dem Schnauzbart und dem hessischen Akzent ist Werksleiter beim Automatisierungshersteller Bosch Rexroth im hessischen Erbach und hat ganz andere Talente. Dennoch brachte er eines Tages eine Nähmaschine mit ins Werk: ein schwarzes Fabrikat der Firma Mundlos aus Magdeburg, Baujahr 1932.
Seine zunächst etwas verwunderten Mitarbeiter wies er an, die manuelle Nähmaschine, die bloß durch einen Fußtritt unterhalb des Holzgestells angetrieben wird, zu Übungszwecken zu digitalisieren. „Es gab nur eine Beschränkung: Da es ein Erbstück meiner Frau war, durften keine Löcher gebohrt oder gar Schrauben verwendet werden“, erinnert sich Lau. So kam der Manager zu seinem Spitznamen.
Das Ergebnis, das seine Mitarbeiter vorgelegt haben, dient heute vielen im Bosch-Konzern als Anschauungsmaterial dafür, wie man in der Digitalisierung mit wenigen Mitteln viel erreicht: Einfache Sensoren messen an verschiedenen Stellen den Körperschall, der während des Nähens entsteht, und senden die Signale über ein zwischengeschaltetes Gateway an einen Computer.
Eine Software kann anhand der Daten voraussagen, wann das nächste Mal die Nadel brechen wird und welche Art von Stoff sich gerade darunter befindet – ohne dass die Nähmaschine selbst dafür an irgendeine Stromquelle angeschlossen sein muss. Je mehr Daten die Sensoren messen, desto genauer wird die Vorhersage, die sich von überall auf der Welt per Smartphone abrufen lässt.
Solche „Retrofit“ genannten Modernisierungen von Altmaschinen funktionieren auch im Großen und werden für viele Industrieunternehmen immer wichtiger. Denn gerade kleinen Unternehmen und Mittelständlern aus der produzierenden Industrie fehlt oft das Kapital, um ihren gesamten Anlagenpark in einem einzigen Schritt zu erneuern – zumal die Maschinen weiterhin für die Produktion gebraucht werden und mechanisch häufig noch lange einwandfrei funktionieren.
Gleichzeitig sind die Versprechungen der „Industrie 4.0“ verlockend: Digitale Maschinendaten wandern in die Cloud, wo sie von selbstlernenden Algorithmen ausgewertet werden. Die Software schlägt Prozessverbesserungen vor – und kann selbstständig umsteuern, wenn gewünscht. Fehler sollen in dieser Welt ebenso selten passieren wie ungeplante technische Ausfälle: nämlich niemals.
Die meisten Maschinen sind noch nicht vernetzt
Automatisierungshersteller wie Bosch Rexroth, aber auch ABB und Schneider Electric haben deshalb das Retrofitting für sich entdeckt. Dabei werden Altanlagen mit Sensoren und Netztechnik ausgestattet und mit dem Internet verbunden. Das kostet wenig, erhöht die Lebensdauer – und bringt nahezu die gleichen Vorteile wie eine Neuinstallation, die viel seltener vorgenommen wird, als es das Tempo der Digitalisierung erfordert.
„Die durchschnittliche Nutzungsdauer von Fabrikausrüstung beträgt 20 Jahre“, erklärt Peter Früauf, stellvertretender Geschäftsführer für elektrische Automation beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA). „Die meisten Anlagen müssen so lange laufen, damit sie sich rentieren.“ Deshalb werde die Digitalisierung in der Industrie in den meisten Fällen sukzessive erfolgen – und kann fast nie in einem Rundumschlag funktionieren.
Die Beratungsfirma Accenture geht etwa davon aus, dass momentan 85 Prozent der Industrieanlagen in Deutschland noch nicht digital vernetzt sind. Dabei sind die Vorteile immens: Nicht nur lassen sich Maschinen vorausschauend warten, wie im Beispiel der Nähmaschine von Claus Lau. Auch werden Prozesse häufig effizienter, wenn verschiedene Anlagen über das „Internet der Dinge“ („Internet of Things“, IoT) miteinander kommunizieren.
Häufig rechneten sich Investitionen in Retrofits schon nach weniger als zwei Jahren, lautet das Versprechen vieler Hersteller. Gleichzeitig verlängert sich die Nutzungsdauer der Maschine: Auf etwa fünf bis zehn Jahre schätzt VDMA-Experte Früauf die zusätzliche Betriebsdauer, die sich mit einem Retrofit herausholen lässt. „Der Bedarf ist hoch und wird in den nächsten Jahren weiterwachsen.“
Das wohl größte Potenzial liegt dabei in der Optimierung der Prozesse. Das zeigt auch das Bosch-Rexroth-Werk in Erbach: Dort haben die Mitarbeiter die Lektionen aus dem Retrofit der Nähmaschine auf die eigene Fertigung übertragen und so die Produktivität deutlich gesteigert. Das Werk entwickelt und fertigt Steuerungen und Schweißsysteme, die beispielsweise im Karosseriebau eingesetzt werden – und oft individuell Kundenwünschen angepasst werden müssen.
Äußerlich gleicht die Produktion der eines typischen deutschen Mittelständlers: Nicht mehr ganz neue Anlagen reihen sich in dem etwas in die Jahre gekommenen Gebäude aneinander, dazwischen bedienen Mitarbeiter in Arbeitskleidung die Maschinen. Allenfalls ein übergroßer Touchscreen-Monitor deutet darauf hin, dass die Digitalisierung in der Werkshalle bereits Einzug gehalten haben könnte.
Doch entscheidender ist das, was man nicht sieht. An zahlreichen Knotenpunkten der Fertigung wachen Sensoren darüber, welches Produkt sich gerade in welchem Produktionsstadium befindet. Auf dieser Basis kann die Software zum Beispiel neue Aufträge bestmöglich verteilen, sodass die Maschinen seltener umgerüstet werden müssen, als wenn die Mitarbeiter die Bestellliste der Kunden starr nach dem Eingangsdatum abarbeiten würden.
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