Digitale Revolution Wie der Güterzug eine grüne Alternative zum Lkw werden soll
![Die Branche hofft, bis 2030 den gesamten Güterbahnverkehr in Europa auf Automatikkupplung umzustellen. Quelle: Deutsche Bahn [M]](/images/neues-kupplungssystem/26146660/2-format2020.jpg)
Die Branche hofft, bis 2030 den gesamten Güterbahnverkehr in Europa auf Automatikkupplung umzustellen.
Minden Man schrieb das Jahr 1873. Der Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen lobte 3000 Taler Preisgeld aus. Gesucht war die ultimative Kupplung für Schienenfahrzeuge, die das gefahrvolle „Dazwischentreten des die Kupplung ausführenden Arbeiters zwischen die Wagen“ abschaffen sollte. Es hätte die Geburtsstunde der automatischen Kupplung schon zu Preußens Zeiten sein können. Aber niemand reichte Vorschläge ein.
Erst Jahrzehnte danach kamen die ersten Kupplungen auf den Markt. Und heute, fast 150 Jahre später, nutzen die Eisenbahnen in Deutschland und Europa noch immer keine einheitliche Automatikkupplung. Hunderttausende Güterwaggons müssen wie zu Gründerzeiten der Eisenbahn mühsam per Hand durch eine simple Hakenkupplung verbunden werden.
Das kostet Zeit, Geld, und es ist gefährlich. Und es ist einer der Gründe dafür, dass die Eisenbahn im Wettbewerb mit der Straße für den Gütertransport oft zu teuer und zu umständlich ist.
Seit Jahren dümpelt der Anteil des Gütertransports auf der Schiene in Deutschland bei 17 Prozent. Die Regierung will den Anteil unbedingt auf 25 Prozent schrauben. Das würde 25 Millionen Lkw-Fahrten jährlich einsparen, rechnet die Deutsche Bahn vor. Eine automatische Kupplung, am besten sogar eine Kupplung mit zusätzlichen digitalen Steuerungs- und Überwachungsfunktionen könnte dabei entscheidend sein.
Es gibt einen neuen erfolgversprechenden Anlauf. Sigrid Nikutta, Chefin des Gütergeschäfts DB Cargo bei der Deutschen Bahn, ist sogar zuversichtlich, dass „wir es diesmal schaffen, den gordischen Knoten zu durchschlagen“. Denn schon einmal, in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, waren die Eisenbahnen in Europa daran gescheitert, den Gütertransport mit einer Automatikkupplung zu modernisieren.
Das Projekt ist ehrgeizig. Die Branche hofft, bis 2030 den gesamten Güterbahnverkehr in Europa auf Automatikkupplung umzustellen – inklusive digitaler Features, die aus dem analog dahinrollenden einen intelligenten Güterzug machen. Dabei läuft die Erprobungsphase gerade erst an.
Aus Sicht von Bahn-Vorständin Nikutta war es vielleicht sogar ein Glück, „dass es in den Siebzigerjahren nicht dazu gekommen ist“. Denn heute planen Bahngesellschaften, Industrie und auch Politik, gleich zwei Schritte in einem zu machen und das automatisierte Kuppeln von Waggons mit der Digitalisierung des Gütertransports zu verbinden
Hohe Priorität dank Klimadebatte
Bislang ist das Zusammenstellen von Zügen eine äußerst mühsame und zeitaufwendige Sache. Erst müssen für einen Zug bis zu 60 Waggons einzeln und per Hand verbunden werden. Dazu klettert der Rangierer zwischen die Wagen, wuchtet den 20 Kilo schweren Haken in die Aufhängung des zweiten Wagens, verbindet zusätzlich Brems- und Elektroleitungen.
Dann laufen Eisenbahner den bis zu 740 Meter langen Zug zur Bremskontrolle ab und müssen obendrein die Reihenfolge der Wagen anhand der Wagenlaufzettel kontrollieren und dokumentieren. Sonst weiß hinterher niemand, in welchem Zug und an welcher Stelle ein Waggon sich befindet.
In Deutschland werden im Schnitt täglich 54.000 Güterwagen ge- und entkoppelt, in Europa um die 400.000. Mit der digitalen Kupplung wird nicht nur Arbeit und Zeit gespart. Die durch den gesamten Zug führende Datenleitungen liefern zudem Informationen über Bremsen, Wagenreihung, technische Probleme. Und in Zukunft weiß der Disponent nicht nur, wo ein Kühlwaggon sich gerade befindet, sondern auch, welche Temperatur er hält.
Was Jahrzehnte am Eigensinn staatlicher Eisenbahngesellschaften, an technischen Problemen, letztlich aber vor allem am Geld gescheitert ist, könnte nun Realität werden. Mit der Klimadebatte ist das Ziel, Gütertransporte von der Straße auf die Schiene zu verlagern, ganz oben auf der Tagesordnung gelandet. Nicht nur in Deutschland. In Berlin steht Geld bereit, und auch Brüssel hat signalisiert, das europaweite Projekt mit dem Namen DAC4EU zu unterstützen.
Der Bund finanziert mit 13 Millionen Euro die auf zweieinhalb Jahre angelegte Testphase mit. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt von sechs staatlichen und privaten Güterverkehrsunternehmen, die bis Dezember 2022 die unterschiedlichen Kupplungen testen.
Beteiligt sind Rail Cargo (Österreich), DB Cargo, SBB Cargo sowie die Güterwagenhalter Ermewa, GATX und VTG. Das Konsortium wird von der Deutschen Bahn angeführt. Speziell umgerüstete Züge werden kreuz- und quer durch Europa geschickt, um die vier von den Firmen CAF, Dellner, Voith und Faiveley entwickelten Prototypen im harten Alltagsbetrieb zu erproben.
Am Ende muss die Entscheidung für einen Kupplungstyp fallen. Der wäre dann verbindlich für Hunderte von Eisenbahngesellschaften in Europa. Shift 2 Rail soll das Projekt deshalb auch europaweit vorantreiben. Hinter dieser 2009 gegründeten Organisation stehen die Europäische Union, Unternehmen der Bahnindustrie und Staatseisenbahnen wie etwa die Deutsche Bahn. Gebaut wird die künftige Einheitskupplung dann natürlich auch von allen Firmen. Sonst wäre das Projekt binnen sechs Jahren – so der Plan – gar nicht zu stemmen.
Lukratives Geschäft für die Industrie
Es ist ein lukratives Geschäft. So eine Kupplung kostet um die 5000 Euro das Stück, heißt es in einem Gutachten der Beratungsfirma hwh für das Bundesverkehrsministerium. Zwei braucht jeder Waggon. Dazu kommt der Umbau. Macht insgesamt zwischen 15.000 und 17.000 Euro pro Wagen.
Bis zu 485.000 Güterwaggons müssen in ganz Europa umgerüstet werden. Dazu kommen 17.000 Lokomotiven, die in den Übergangsjahren mit alter wie neuer Kupplung ausgerüstet sein sollten. Den gesamten Investitionsaufwand für die Umrüstung beziffern die Gutachter auf bis zu 8,6 Milliarden Euro.
Die Deutsche Bahn rechnet damit, dass sie allein eine Milliarde Euro für das Projekt digitale automatische Kupplung investieren wird. Der Staatskonzern ist mit 66.000 Waggons nicht einmal der größte Güterwagenhalter in Europa. Das ist derzeit der Hamburger Waggonvermieter VTG mit 94.000 Fahrzeugen.
Nach dem Mega-Investment hätten die Eisenbahngesellschaften aber auch die Luxusausführung. Waggons könnten ferngesteuert ge- und entkuppelt werden, durchgehende Leitungsverbindungen garantierten Stromversorgung, Bremsstrom könnte zurück ins Netz gespeist, der Standort aller Waggons per GPS durch ganz Europa verfolgt werden.
„Der künftige Güterzug muss ohnehin seine eigene Intelligenz mitbringen“, sagt ein Experte. Denn die schon laufende Einführung des Europäischen Zugsicherungssystems ETCS, das Signale überflüssig macht, kann mit dummen Güterwaggons aus Stahlblech nichts anfangen.
Es ginge zwar auch etwas preiswerter. Die einfache Variante der automatischen Kupplung würde laut den Gutachtern aber immer noch bis zu 6,2 Milliarden Euro verschlingen. Dann aber hätten die Eisenbahnen nur eine Kupplung – mehr nicht. Damit würde Europa lediglich den Stand der Technik des vorigen Jahrhunderts einführen, der in Nordamerika, Australien und auch Russland derzeit Standard ist.
Güterzüge mit bis zu 5000 Tonnen
Allein die Kupplungsautomatik verspricht schon interessante wirtschaftliche Vorteile. Zum Beispiel würden 700.000 Arbeitsstunden nach den Berechnungen der Gutachter eingespart, macht bis zu 35 Millionen Euro weniger Personalkosten für die Verkehrsunternehmen.
Auch seien doppelt so lange Züge vorstellbar, was die Effizienz des Transports erheblich erhöhen könnte. Anderthalb Kilometer lange Güterzüge mit 5000 Tonnen Zuggewicht, statt der heute maximal möglichen 740 Meter und 2100 Tonnen, klingen zwar wirtschaftlich interessant. Praktisch hieße das allerdings, diese langen Güterzüge könnten nicht überholt werden, weil es in Deutschland so gut wie keine Ausweichgleise mit dieser Länge gibt.

Wo heute noch mühsam mit Hand gekoppelt wird, sollen demnächst digitale automatische Kupplungen die Rangierarbeit erleichtern.
Sicher ist allerdings: Die Kapazität der Rangierbahnhöfe kann deutlich gesteigert werden, ohne dass neue Gleise verlegt werden müssen. Statt heute 9000 könnten theoretisch 27.000 Güterzüge aus Einzelwagen rangiert werden. Sagt jedenfalls die Deutsche Bahn.
Unterm Strich versprechen sich die Experten europaweit eine Kosteneinsparung bis zu 758 Millionen Euro pro Jahr, allein in Deutschland bis zu 295 Millionen Euro. Das allerdings nur unter der Voraussetzung, dass alle Waggons umgerüstet sind. Von den weit über 700.000 Güterwagen, die in den Ländern der EU sowie Großbritannien, Schweiz und Norwegen unterwegs sind, werden aber allenfalls 485.000 für umrüstbar gehalten. Der Rest ist überaltert oder wird ohnehin nur in begrenzten Netzen eingesetzt.
Das Projekt digitale automatische Kupplung ist ein Kraftakt. Pro Jahr müssten bei sechs Jahren Umrüstzeit zwischen 140.000 und 160.000 Güterwagen in die Werkstätten. Das entspräche der gesamten in Deutschland angemeldeten Wagenflotte. Bis zu 8,4 Millionen Arbeitsstunden haben die Gutachter zum Umbau aller Loks und Wagen ausgerechnet. Das würde gewaltige Werkstattkapazitäten binden.
„Grüne Alternative zum Lkw“
Noch kritischer ist die Amortisation der milliardenschweren Investitionen. Würde das Sechs-Jahres-Konzept umgesetzt, müssten die Unternehmen 16 Jahren darauf warten, bis sich die automatische Kupplung rechnet. Schon für staatseigene Eisenbahngesellschaften wie die Deutsche Bahn eine extrem lange Perspektive. Erst recht für private Verkehrsunternehmen oder Waggonvermieter. Insgesamt gibt es 430 sogenannte Wagenhalter, die bei dem Megaprojekt mitmachen müssten.
Ohne massive staatliche Unterstützung, sagen auch die Gutachter, wird das mit der digitalen automatischen Kupplung auch diesmal nichts. Bahn-Managerin Sigrid Nikutta, nie verlegen um ein klares Wort, sorgt denn auch schon mal vor.

Züge mit dem neuen System gehen jetzt auf Testfahrt.
Eine ihrer „Lieblingsbeschäftigungen“ sei es, Politikern zu zeigen, wie mühsam es sei, Eisenbahnwaggons zu koppeln, verkündete sie bei einer Demonstration der Testzüge in Minden. Damit weckt sie bei den potenziellen Geldgebern in Berlin die vage Hoffnung, dass der hochdefizitäre Einzelwagenverkehr eines Tages in die schwarzen Zahlen fahren könnte.
Die Tochter DB Cargo kostet die Deutsche Bahn jährlich Hunderte Millionen Euro. Soll der Staatskonzern einzelne Wagen weiter zu Kunden fahren, so wie es die Bundesregierung wünscht, liefe das auf eine direkte Subventionierung des Güterverkehrs hinaus. Alternativ auf die großzügige Finanzierung der digitalen automatischen Kupplung.
Die „stärkt besonders den Einzelwagenverkehr als grüne Alternative zum Lkw“, wirbt Bahn-Vorständin Nikutta. Nicht jeder sieht das so. Roland Pörner, Berater und ehemaliger Chef des Verbands der deutschen Bahnindustrie, hat Zweifel, dass die automatische Kupplung „der Heilsbringer“ für den Einzelwagenverkehr sein wird. Um den jemals profitabel zu machen, bedürfe es schon „umfassender und zum Teil auch schmerzhafter Eingriffe“ bei DB Cargo selbst.
Mehr: Scheuer kündigt Millionenförderung für Schienengüterverkehr an.
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(...) Die Meldung, dass man es jetzt mal wieder angehen will, sollte keine sein, sondern stattdessen sollte möglichst zeitnah einfach nur gesagt werden, dass alle Güterzüge auf autom. Kupplung umgerüstet und damit fit für die Zukunft sind, ENDLICH dafür zu sorgen, dass die Gütersparte den Hauptteil der Transportlogistik stellt und Straße wie Umwelt endlich entlastet werden!
(...) Beitrag von der Redaktion editiert. Bitte bleiben Sie sachlich.