Digitalisierung im Kopf Was Gehirnchips wie der von Musks Neuralink leisten – und was nicht

Schon heute gibt es bereits einige Anwendungsgebiete, auf denen der Chip im Gehirn von Erkrankten therapeutische Unterstützung leistet.
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Düsseldorf, Frankfurt Mit einem „Neuralink“ im Kopf sollen Querschnittsgelähmte laufen, Parkinson-Patienten aufhören zu zittern und taube Menschen wieder hören können: Als Elon Musk jüngst in San Francisco einen Chip für die digitale Gehirnstimulation vorstellte, sorgte das weltweit für Aufsehen. In einem Live-Video führte Musk ein Schwein vor, dem zwei Monate zuvor ein Prototyp operativ in den Schädel implantiert wurde.
Der zigfache Milliardär und Unternehmer, der bereits die Entwicklung vollautonomer Autos angestoßen hat und Menschen auf dem Mars ansiedeln will, hat mit seinem Start-up Neuralink Großes vor – mal wieder: Er träumt von der Digitalisierung des Gehirns. Musk will eines Tages Sprachkenntnisse ins Gehirn hochladen, Gedanken digital übertragen und das menschliche Gedächtnis abspeichern.
Es bedarf nicht viel Fantasie: Nach der Schönheitschirurgie verspricht die Intelligenzchirurgie ein riesiges Marktpotenzial. Doch was ist wirklich dran an den Neurotechnologie-Plänen, die verdächtig nach Science-Fiction klingen? Auf welchem Stand ist die Forschung tatsächlich? Und wie realistisch ist eine Markteinführung?
Am Versuchsschwein Gertrude konnte Musk bisher nur vorführen, dass sich mit dem Implantat die elektrische Aktivität im Gehirn aufzeichnen lässt. Es ist groß wie ein Euro-Stück und stimuliert und überträgt die Daten aus dem Hirn über Elektroden, die dünner sind als die Haare eines Menschen.
Tatsächlich arbeiten Forscher schon seit etwa 30 Jahren an Gehirn-Computer-Schnittstellen, im Englischen Computer-Brain-Interfaces (BCI). Bei bestimmten Neuroprothesen setzen Ärzte sie bereits ein. So werden damit neurologische Erkrankungen wie Parkinson therapiert.
Möglich wird die Verbindung zwischen Gehirn und Maschine, indem die elektrische Aktivität der Neuronen gemessen wird. Die Nervenzellen im Gehirn kommunizieren über kurze elektrische Signale. Wenn sich der Mensch bewegt, denkt oder fühlt, werden Neuronen in verschiedenen Hirnarealen aktiviert. Das ist auch außerhalb des Gehirns messbar - etwa durch Elektroden auf der Kopfhaut wie beim Elektroenzephalogramm (EEG).
Gedanken schicken per Bluetooth
Allerdings sind die Ergebnisse häufig sehr ungenau, weil die Daten erst durch den Schädel dringen müssen. Vielversprechend ist deshalb die invasive Messung, wenn also Elektroden mit bestimmten Stellen des Gehirns direkt verknüpft sind - beispielsweise mit dem die Bewegung steuernden Motorkortex.
Auch deshalb verfolgten Wissenschaftler die Präsentation von Elon Musk ebenso interessiert wie dessen Fans. „Die Innovation ist eigentlich das, was wir nicht sehen“, sagte der Freiburger Professor für Medizinische Mikrotechnik, Thomas Stieglitz, wenig später bei einer Diskussionsrunde des Science Media Center (SMC) Germany in Köln: „Wir haben hier keine Kabel mehr.“
Die drahtlose Bluetooth-Kommunikation, wie Neuralink sie verwendet, hat weitere Vorteile. Denn die Kabel bei den bestehenden BCI können neben den allgemeinen Operationsrisiken bei der Implantation weitere Komplikationen nach sich ziehen. Warum aber sind die Daten aus medizinischer Sicht überhaupt so interessant?
Die Vision, Roboter und Computer mit Gedanken zu steuern, treibt Wissenschaftler schon seit Jahren um. Als einer der Pioniere auf dem Gebiet der Gehirn-Maschine-Schnittstellen gilt Miguel Nicolelis. Der Professor für Neurologie an der Duke School of Medicine im US-Bundesstaat North Carolina hat bereits 2003 einem Rhesusaffen einen Messfühler in den Kortex implantiert.
Er maß die Spannungsunterschiede der Gehirnregionen, während Affendame Aurora lernte, einen Roboterarm per Joystick zu bewegen. Nach einer Weile reagierte der Arm direkt auf die via Computer aufbereiteten Hirnsignale – und nicht erst auf die Befehle des Eingabegeräts. Das bemerkte auch Aurora: Plötzlich ließ sie den Joystick los und steuerte den Roboterarm per Gedanken.
Knapp ein Jahrzehnt später gelang einem Neurowissenschaftlerteam von der Brown-Universität im amerikanischen Rhode Island Ähnliches beim Menschen. Eine gelähmte Patientin lernte mithilfe von John Donoghue und Kollegen, einen Roboterarm per Gedanken zu steuern. Ein Youtube-Video machte das „Braingate-Experiment“ berühmt, in dem Cathy Hutchinson zum ersten Mal seit ihrem Schlaganfall 15 Jahre zuvor selbstständig eine Flasche mit Kaffee an den Mund setzte und glücklich lachte.
Im vergangenen Jahr gelang es französischen Wissenschaftlern der Uni Grenoble, einem Querschnittsgelähmten die Kontrolle über seine Gliedmaßen zu geben. Zuvor hatten Alim Louis Bernabid und sein Team zwei Jahre lang über drahtlose Rekorder seine Hirnströme aufgezeichnet. Währenddessen musste der 28-Jährige mentale Aufgaben ausführen, um die Bewegungsgrade schrittweise zu erhöhen. Nach viel Training in einem Exoskelett konnte er wieder Arme und Beine bewegen.
Das große Ziel der BCI-Forschung ist die bi-direktionale Kommunikation. Das heißt: Nicht nur sollen Roboterarm oder Prothese per Gedanken gesteuert werden. Der Roboterarm soll umgekehrt auch seine Bewegungen in Signalform zurück an das menschliche Gehirn senden, sodass es beispielsweise die Information erhält, wie stark sich die Hand geschlossen hat.
Grundsatzfrage: Kontrollieren oder stimulieren?
Daran forscht beispielsweise Thomas Stieglitz am Institut für Mikrosystemtechnik der Universität Freiburg. Sein Team hat fühlende Prothesen entwickelt: Mithilfe von Elektroden können Patienten die Bewegungen der Arme oder Beine künstlich spüren und kontrollieren. Stieglitz weiß: Je präziser die Aktivität einer Zelle stimuliert oder erfasst wird, umso präziser kann das BCI arbeiten.
Mit Blick auf Musks Neuralink-Projekt weist er auf eine aus seiner Sicht bemerkenswerte Leistung hin. Im Kern sei das vorgestellte Implantat „guter Stand der Technik“, allerdings sei es bisher nur wenigen gelungen, wie Neuralink um die tausend Elektroden zu verbinden. Zusammen mit dem Frankfurter Grundlagenforscher Pascal Fries habe er selbst schon mal 1024 Elektroden zusammengestellt. Im Falle des von Cathy Hutchinson bewegten Roboterarms waren es erst 96.
Jetzt kommt es laut Stieglitz darauf an zu zeigen, dass das miniaturisierte Neuralink-System über Monate, Jahre und Jahrzehnte stabil sein könne – und das auch wissenschaftlich nachgewiesen werde. Denn bislang gibt es von Neuralink keine für die Forschergemeinschaft nachprüfbare Dokumentationen. „Herr Musk steckt dreistellige Millionensummen in die Entwicklung“, sagt er. Da sei es verständlich, dass er „den Vorsprung durch Investition auch ein bisschen bei sich halten möchte“.
Bisher gibt es zwar kaum kommerzielle Anwendungen für die Hirn-Computer-Schnittstellen. Aber auch andere Unternehmen aus dem Silicon Valley arbeiten daran. Netzwerkbetreiber Facebook forscht seit Jahren an einer Technologie, mittels der Nutzer per Gedanken chatten können. Solche Anwendungen könnten langfristig das Smartphone ersetzen.

Das Start-up Neuralink entwickelt Hirnchips.
Einem von dem Unternehmen gesponserten Forscherteam gelang Anfang des Jahres ein weiterer Durchbruch: Sie konnten neuronale Aktivität in englische Sätze übersetzen. Dazu trainierten sie ein Maschinenlern-System ähnlich wie eine Übersetzungssoftware mit 300 Vokabeln. Am Ende gelang die Hirn-Computer-Übersetzung mit einer Fehlerquote von nur drei Prozent.
Aufsehen erregte der Mark-Zuckerberg-Konzern auch, als er im vergangenen Jahr das Start-up CTRL-Labs für schätzungsweise 500 Millionen bis eine Milliarde Dollar kaufte. Gründer Thomas Reardon hat ein Armband entwickelt, dass am Handgelenk erkennt, wie ein Mensch die Finger bewegen will – und dann selbstständig und bewegungslos einen Roboterarm bewegen oder das Tippen auf einer Tastatur auslösen kann.
Dem Markt mit BCI wird eine hohe Wachstumsdynamik zugesprochen. Verschiedene Forschungsinstitute erwarten, dass er bis 2027 auf 3,7 bis 3,9 Milliarden Dollar weltweit anwächst und sich damit verdreifacht. Vor anderen Anwendungen etwa im Bereich Computerspiele oder beim Militär hat der medizinische Bereich dabei mit knapp der Hälfte des Marktes die mit Abstand größte Bedeutung.
In Deutschland arbeitet etwa das Start-up Ceregate aus München an einer neuen Software für die medizinische Anwendung bei Parkinson-Patienten. Das 2010 gegründete Freiburger Medizintechnik-Unternehmen CorTech produziert Komponenten wie Elektroden und implantierbare Systeme und arbeitet an einer Technologie, die das Feedback des Körpers aufnehmen, auswerten und die Therapie auf den individuellen Bedarf des Patienten abstimmen soll.
Utopie Gedankenlesen? Eine Frage des Zeitfensters
Fest steht: Der Markt wächst mit den tatsächlich realisierbaren Anwendungsmöglichkeiten. Unternehmen, Forschung und vor allem die Medizin treiben sich dabei gegenseitig an. Verglichen mit dem weltweiten Medizintechnikmarkt ist BCI noch ein kleiner Bereich, die 300 größten Medtech-Unternehmen standen 2018 für mehr als 430 Milliarden Dollar Umsatz, ermittelte das Marktforschungsunternehmen Evaluate.
Auch aus Forschersicht steht BCI noch ganz am Anfang und hat noch großes Potenzial. „Das Thema Gehirnchips und Hirnschrittmacher kam etwa zur gleichen Zeit auf wie die Mobiltelefone, etwa vor drei Jahrzehnten“, sagte Alireza Gharabaghi, Ärztlicher Direktor am Institut für Neuromodulation und Neurotechnologie, bei der Diskussionsrunde des SMC.
Vom Festnetzanschluss zum mobilen Gerät sei es ein großer Schritt gewesen, aber mit der Funktionalität der Geräte heute könne das erste Handy kaum verglichen werden. Anders sei es bei BCI: Zwar hätten die Hirnschrittmacher schon mehr als 100.000 Parkinson-Patienten geholfen. „Technisch gesehen sind sie aber immer noch auf dem Stand der Mobiltelefone, die aussehen wie Ziegelsteine.“
Für Gharabaghi stellt sich beim Einsatz von BCI eine Grundsatzfrage: Verfolgt man Ansätze, mit denen das Gehirn die Steuerung von Aktivitäten übernehmen soll, oder nutzt man BCI, um das Gehirn so zu stimulieren, dass es sich selbst helfen kann. Er selbst arbeitet an der Rückenmarkstimulation gelähmter Patienten.
Schon heute gibt es bereits einige Anwendungsgebiete, auf denen der Chip im Gehirn von Erkrankten therapeutische Unterstützung leistet. Der implantierte Neurostimulator bei Parkinson-Patienten etwa gibt elektrische Impulse an präzise festgelegte Bereiche im Gehirn ab. Durch die Stimulation dieser Areale funktionieren die „Schaltkreise“ des Gehirns besser, die für die Steuerung der Bewegung zuständig sind. Die motorischen Fähigkeiten verbessern sich.
Patienten profitieren davon langfristig
Auch bei den Cochlea-Implantaten für Gehörlose leistet ein Chip wichtige Stimulationsarbeit. Ein außen am Ohr getragener Prozessor wandelt Geräusche, Musik und Sprache in digitale Signale um und sendet sie über eine Spule an das Implantat unter der Haut. Die Implantatelektroden stimulieren den Hörnerv in der Hörschnecke (Cochlea), von dem aus die Signale ans Gehirn weitergeleitet werden.
Trotz dieser erfolgreichen Anwendungen bei Patienten sind die Experten skeptisch gegenüber Träumereien wie dem Gedankenlesen und -speichern. Bei Pionierarbeiten an Rhesusaffen konnte mit einer Trefferrate von 70 Prozent vorhergesagt werden, welche von zwei Optionen ein Affe wählen wird, erklärt Grundlagenforscher Pascal Fries.
Er ist Direktor des Ernst-Strüngmann-Instituts für Neurowissenschaften in Kooperation mit der Max-Planck-Gesellschaft. Wenn man diese Forschung mit tausend Elektroden betriebe – also mit den angeblichen Möglichkeiten des Musk-Chips –, könne man zwischen zehn und 50 Optionen entscheiden, sagt Fries: „So kommt man natürlich so etwas wie Gedankenlesen letztlich immer näher.“
Aber Gedächtnisinhalte auslesen, auf einem Chip speichern und „ein Backup der eigenen Persönlichkeit schaffen“? Wissenschaftskollege Gharabaghi sagt: „Da wäre man schon überrascht, wenn wir das noch erleben würden.“
Obwohl Elon Musk unwissenschaftlich vorgehe bei seinen Ankündigungen, ist Gharabaghi froh über die neue Aufmerksamkeit für BCI, die die Auftritte nach sich ziehen: „Wenn das dazu führt, dass Ingenieure, Informatiker, KI-Spezialisten, Neurowissenschaftler und Ärzte sich dafür entscheiden, an solchen Themen zu forschen, dann ist das grundsätzlich durchaus legitim“, sagt er. Langfristig profitierten Patienten davon.
Mehr: Wie Laser-Roboter die Knochensäge in der Chirurgie ablösen sollen.
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