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Digitale Revolution

Interview mit Heather Dewey-Hagborg „Keine Daten sind mehrdeutiger als die DNA“

Heather Dewey-Hagborg erschafft aus der DNA von gefundenen Haaren, Zigaretten und Kaugummis Porträts der Besitzer. Ein umstrittenes Kunstprojekt.
09.08.2019 - 14:31 Uhr Kommentieren
„Was wir aus DNA vorhersagen können, ist längst nicht weit genug fortgeschritten, um ein Gesicht aus einer einzigen Probe zuverlässig zu rekonstruieren.“ Quelle: www.deweyhagborg.com
Heather Dewey-Hagborg

„Was wir aus DNA vorhersagen können, ist längst nicht weit genug fortgeschritten, um ein Gesicht aus einer einzigen Probe zuverlässig zu rekonstruieren.“

(Foto: www.deweyhagborg.com)

Düsseldorf Heather Dewey-Hagborg ist Künstlerin und Pädagogin. Für ihr umstrittenes Projekte „Stranger Visions“ sammelte sie Haare, Zigarettenstummel und Kaugummis in New York City – und entnahm daraus die DNA. Aus dem genetischen Material schuf sie Portraits der DNA-Besitzer. Heute lebt sie in New York. Sie stellt unter anderem im Centre Pompidou in Paris, im Londoner Victoria and Albert Museum und in der New York Historical Society aus, Ihr Projekt “Probably Chelsea” mit Chelsea Manning ist zurzeit im Wiener Museum für Angewandte Kunst zu sehen.

Du bist eine international renommierte Künstlerin, trotzdem sammelst du Müll auf der Straße. Warum?
Die Idee hatte ich schon 2012, als ich in einer Therapiesitzung saß. Ich schaute mir einen Kunstdruck an, der mir gegenüber hing, und bemerkte, dass das Glas, das den Druck bedeckte, Risse hatte. In einem dieser Risse steckte ein Haar. Als ich also dasaß und dieses Haar anstarrte, fing ich an, mir die Person vorzustellen, die das Haar zurückgelassen haben muss. Schon lange davor habe ich als Künstlerin mit Algorithmen und maschinellem Lernen gearbeitet, Krimiserien kannte ich natürlich auch, und Detektivromane wie Sherlock Holmes habe ich schon immer geliebt. In meinem Tagtraum schnappte ich mir also einfach das Haar, brachte es ins Labor und entnahm die DNA. Ich fragte mich, wie viel ich wohl aus diesem kleinen Beweisstück über die Person herausfinden konnte. Und das führte schließlich zu „Stranger Visions“, einem offenen Forschungsprojekt, das letztendlich zur Erstellung von Porträts von Fremden aus nichts anderem als ihrer DNA führte.

Zigarettenkippen oder Kaugummis von Fremden auf der Straße aufzuheben erfordert Überwindung. Was ist das Ekelhafteste, das du bisher aufgegriffen hast?
Ich habe meine Grenzen. Erstens trage ich Handschuhe. Ich möchte die Beweise nicht kontaminieren. Die Zigarettenkippen fand ich ehrlich gesagt gar nicht so eklig. Aber in New York City sieht man wirklich alles Mögliche auf der Straße. Ich wollte keine gebrauchten Kondome, alte Binden oder Abfälle von spuckenden Menschen aufheben. Ich dachte mir, wenn so viele Leute einfach auf die Straße spucken, könnte ich ja einfach eine Spritze nehmen und die Spucke aufsaugen. Aber das war dann echt zu viel für mich. Jeder hat seine Grenzen, was man abstoßend findet und was man einfach witzig findet.

Du analysierst die DNA im Labor. Das erfordert neben der wissenschaftlichen Arbeit ja auch besondere Materialien. Wie hast du das gemacht?
Das erste Gemeinschaftslabor der Welt für Biologie, Genspace, hatte gerade in meiner Straße eröffnet. Ich bin hingegangen und habe einen Crashkurs gemacht. Der hat nur drei Wochenenden gedauert, man lernt dort, wie man DNA extrahiert, wie man sie vervielfältigt und dann analysiert. Und dann habe ich mit den Wissenschaftlern dort gearbeitet. Ich fing an, mit forensischen Proben zu arbeiten und versuchte, die Arbeit im Labor mit meiner Arbeit in der Datenanalyse und meinen vorherigen Rechen zu kombinieren. Dafür habe ich verschiedene Ressourcen zusammengestellt, zum Beispiel Open-Source-Gesichtserkennungsmodelle und all jene wissenschaftlichen Erkenntnisse, die darauf hindeuteten, wie jemand aussehen könnte, ausgehend von der DNA. Mit dem Modell, das ich so entwickelt habe, konnte ich verschiedene Versionen davon erstellen, wie eine Person basierend auf ihrer DNA aussehen könnte. Ich erzeugte also jeweils fünf bis sechs verschiedene Versionen des Gesichts einer Person und wählte diejenigen aus, die in mir eine Art Resonanz bewirkten. Die Emotionen in mir ausgelöst haben.

Also könnte theoretisch jeder das Gleiche tun: Ins Labor gehen, einen Kurs besuchen und die DNA von Fremden extrahieren, die man auf der Straße findet?
Bei Genspace kann jeder einen Kurs in den Grundlagen der Molekularbiologie belegen. Ich finde es sehr wichtig, mit dem Material vertraut zu sein. Denn einerseits könnte man sagen, dass die Technologie bereits gegen uns verwendet wird. Man kann aber auch einfach sagen, dass sie zu einem wahnsinnig wichtigen sozialen Faktor wird. Wir müssen also dringend ein materielles Verständnis dafür entwickeln, wie dieses Zeug funktioniert – und wie es nicht funktioniert. Dabei sollten wir uns nicht nur auf die Medien verlassen, die uns das erklären. Wir müssen diese Dinge selbst begreifen, jenseits dessen, was uns in der Schule beigebracht wird. Diese Gemeinschaftslabore sind dafür wirklich toll, wo man unter der Anleitung von Wissenschaftlern arbeiten und mit Gentechnik experimentieren kann.

Als du die Gesichter dann modelliert und ausgestellt hast, kamen Leute auf dich zu und sagten: „Wow, ich erkenne mich selbst“.
Als ich dieses Projekt vorstellte, gab es einen total verrückte Ansturm an Medienberichterstattung und ich bekam plötzlich wahnsinnig viele E-Mails. Viele Leute schrieben mir: „Oh, das sieht aus wie ich.“ Aber bei niemandem stimmte das. Der Punkt ist, dass die Gesichter fotorealistisch wirken und aus 3D-Scans von Gesichtern realer Menschen erzeugt werden, die abgewandelt wurden. Sie sehen realistisch aus, obwohl sie frei erfunden sind. Das macht das Kunstwerk so mächtig. Es ermöglicht den Menschen, sich in den Porträts zu sehen. Aber keiner der Menschen war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Viele Menschen waren aber auch verunsichert oder sogar verängstigt. Wurde dir oft vorgeworfen, dass du zu weit gegangen bist?
Oh Gott, ja. Viele Leute waren ziemlich feindselig. Das ist auch völlig in Ordnung, das Projekt soll ja eine Provokation sein. Es ist kein Vorschlag, sondern eine Warnung. Ich habe mich sozusagen auf den heißen Stuhl gesetzt, um Ziel des Zorns dieser Menschen zu werden. Genau das wollte ich: Ich wollte, dass die Leute wütend sind, ich wollte, dass sie die Technologie kritisieren, weil ich sehen konnte, dass der Durchbruch kurz bevorstand. 2012 habe ich angefangen, an diesem Projekt zu arbeiten. 2014 brachte dann ein Unternehmen, Parabon Nanolabs, einen Dienst auf den Markt, der „DNA-Schnappschuss“ heißt. Basierend auf der DNA verkauft diese Firma den Kunden ein Bild davon, wie eine Person aussieht. Ganz ehrlich, das ist einfach Betrug. Was wir aus DNA vorhersagen können, ist längst nicht weit genug fortgeschritten, um ein Gesicht aus einer einzigen Probe zuverlässig zu rekonstruieren. Deshalb habe ich auch viel über die Risiken von Profiling, insbesondere von Racial Profiling geschrieben. In der Strafverfolgung haben sich durch Fortschritt in der DNA-Analyse viele Neuigkeiten ergeben. Das hat aber auch die die übermäßige Vereinfachung von DNA-basierter Profilerstellung zur Folge.

In Teilen Deutschlands dürfen die Strafverfolgungsbehörden bereits Informationen über die biogeografische Herkunft der Menschen aus ihrer DNA verwenden.
Ich bin überrascht, dass das in einem Land wie Deutschland erlaubt ist. Meiner Meinung nach geht das bereits zu weit, weil solche Methoden direkt auf die Hautfarbe hindeuten und die Hautfarbe direkt im Körper eines Subjekts festschreibt. Ich frage mich, ob das schonmal jemand rechtlich angefochten hat. Denn das offensichtliche Risiko besteht darin, dass jemand eine Probe analysiert, die DNA ausliest und dann sagt: „Oh, das ist jemand mit einer solchen Herkunft.“ Wenn das eine Bevölkerungsgruppe ist, die bereits von der Polizei angegriffen und belästigt wird, ist das nur eine Ausrede, um die Menschen weiter zu belästigen. In den USA haben wir damit viel Erfahrung, besonders in der afroamerikanischen Community und in anderen Communities of Color.

Du beschreibst dich auch als „Educator“, fühlst dich also auch der Bildung verpflichtet. Wie bildest du Leute?
Ich bin Künstlerin, aber ich unterrichte auch, normalerweise in einem akademischen Umfeld, aber auch durch Workshops oder manchmal durch Abitur- oder Mittelschulklassen. Aber auch meine künstlerische Arbeit soll in gewisser Weise erziehen. Nicht unbedingt, weil ich so didaktisch bin, sondern weil ich Gespräche eröffne und die Leute dazu bringe, über Dinge nachzudenken, die sie möglicherweise bisher verpasst haben. Daher ist meine Arbeit auf jeden Fall sehr lehrreich. Ich bitte die Leute also, über Dinge nachzudenken, die sie normalerweise nicht auf dem Schirm haben.

Warum brauchen wir diese Art von Bildung?
Der Grund ist der gleiche wie bei den digitalen Technologien, die unser Leben und unsere Gesellschaft ja bereits grundlegend verändern. Als diese Veränderungen zum ersten Mal aufkamen, haben wir das gar nicht bewusst wahrgenommen. Wir sind daher eher zu Opfern der Technologie geworden, anstatt eine komplexe und differenzierte Interaktion einzugehen. Ich sage nicht, dass diese Beziehung völlig einseitig ist, ich bin nicht der Meinung, dass wir von digitaler Technologie völlig fremdgesteuert sind. Aber wir sollten viel mehr Entscheidungsfreiheit und Macht darüber haben, als es derzeit der Fall ist. Die Biotechnologie ist dabei einfach nur der nächste Schritt, und vielleicht ist es noch nicht zu spät, mehr Einfluss zu bewahren als im Digitalen. Damit wir bewusst darauf eingehen können, wie die Technologie auf uns wirkt, und eine echte Debatte darüber führen, was wir okay finden und was nicht. Dabei sollten wir auch eine viel diversere und globalere Gruppe von Stakeholdern an den Tisch bringen. Mit dem Internet und der digitalen Technologie ist das damals überhaupt nicht gelungen.

Unsere digitalen Daten sind zwar persönlich, aber längst nicht so intim wie die eigenen Gene. Was ist das Schlimmste, das passieren kann, wenn ein Fremder oder ein Unternehmen an meine DNA gelangt?
Es können wirklich jede Menge schlimme Dinge passieren. Zum Beispiel, dass dich jemand ohne deine Erlaubnis klont. Das ist wahrscheinlich die gruseligste Vorstellung. Noch ziemlich weit weg, aber nicht unmöglich. Man könnte die DNA auch als Angriffsmittel verwenden: Durch dein Erbgut könnte jemand eine Schwäche finden und etwas über dich verraten oder veröffentlichen, was du lieber geheim halten willst. Das kann wirklich alles Mögliche sein, Daten im Allgemeinen können immer auf vielfältige Weise interpretiert werden. Selbst wenn du der Meinung bist, dass du nichts zu verbergen hast, hast du das immer. Es gibt immer etwas, das so interpretiert werden kann, wie du es nicht erwartet hättest, und keine Daten sind mehrdeutiger als die DNA. Das ist wie mit Tarotkarten: Man kann viel hineinlesen und die Infos gegen jemanden verwenden, wenn man möchte.

Eine andere Sache, die gerade im Kommen ist, ist die Verknüpfung zwischen Strafverfolgungs- und DNA-Datenbanken, bei denen Personen über Verbrauchernetzwerke identifiziert werden. Der „Golden State Killer“ war ein Serienmörder, der Jahrzehnte lang nicht gefunden wurde, bis die Polizei ihn aufspürte, weil sie seine DNA mit einer öffentlichen Datenbank abglich. Die Datenbank wurde von der Polizei ausgenutzt, der Fall endete mit einer Verhaftung. Einerseits gibt es also die strafrechtlichen Ermittlungsaspekte bei Nutzerdatenbanken, andererseits entdecken Menschen dort ihre Familien. Das kann gut oder schlecht sein. Manche Leute möchten vielleicht gar nicht erfahren, dass sie Geschwister haben, von dem sie nie wussten. Ich höre ständig Geschichten von Freunden und Kollegen darüber, wie sich ihre Vorstellung von ihrer Familie radikal verändert.

Die Vorstellung, dass jemand an Ihre Tür klopft und sagt „Ich suche deinen Bruder“ und du denkst „Aber ich habe doch gar keinen Bruder“, ist für viele Menschen wirklich beängstigend.
Ja. Genau das ist einem Freund von mir gerade passiert. Die Person hat nicht an der Tür geklingelt, sondern eine E-Mail geschrieben. Darin stand: „Ich bin dein Halbbruder. Ich wusste nie, dass es dich gibt.“

Fremde Menschen vertrauen dir wirklich intimen Geschichten an. Hast du keine Grenzen, wenn es um die Privatsphäre anderer geht? Gibt es Dinge, von denen du nichts hören möchten?
Naja, da gibt es zwei Dinge. In „Stranger Visions“ sind die Porträts sehr subjektiv. Darin steckt jede Menge künstlerischer Interpretation. Ich schaue nur auf eine kleine Auswahl von Merkmalen, die Aufschluss darüber geben, wie jemand aussehen könnte. Ich habe wirklich versucht, mich nicht mit Gesundheitsrisiken zu befassen. Das war meine Grenze. Das Projekt, an dem ich kürzlich gearbeitet habe, „T3511“, ist ein Film über den Online-Kauf des Speichels eines anonymen Spenders. In dieser Geschichte findet eine Biohackerin eine Speichelprobe im Netz. Sie beginnt, die Daten dieser Person zu analysieren und verliebt sich dabei in sie. Es geht dabei darum, dass wir alle irgendwo in Biobanken registriert sind. Fast allen von uns wurde als Neugeborener Blut abgenommen. Je nachdem, wo auf der Welt du lebst, ist diese Probe besser oder weniger gut geschützt. Eine der Szenen im Film spielt in der nationalen Biobank in Kopenhagen, wo ich in einer Gefriertruhe stehe, die mit Bluttropfen von jedem einzelnen Baby gefüllt ist, das seit 1982 geboren wurde. Es ist echt überwältigend, sich bewusst zu machen, wie viele Daten bereits existieren, über die wir noch nicht einmal sprechen.

Macht es unter diesen Umständen überhaupt noch Sinn, sich zu wehren und zu sagen „Ich möchte kein Teil davon sein“? Müssen wir stattdessen neue Wege finden, um mit unserer Privatsphäre umzugehen?
Es ist wirklich schwierig, einen Rahmen für den Schutz der genetischen Privatsphäre zu finden. Das ist ein ungelöstes Problem. Letztendlich schützt und schützt man sich, aber der menschliche Körper ist und bleibt zutiefst verletzlich: Wir verlieren ständig DNA. Das können wir nicht aufhalten, es ist unmöglich. Strenge Regulierung ist also sehr wichtig. Es gibt einfach keinen Grund, es Menschen leicht zu machen, die diese Daten auszunutzen und gegen dich verwenden. Wir leben in einer Welt, in der es immer schneller und billiger wird, DNA zu analysieren. Selbst wenn du also ein echter, entschlossener Gegner der Technologie bist, kannst du dein Genom nur zu einem gewissen Grad schützen. Und das führt zu einer Reihe von Fragen darüber, wie wir unser Selbst und unsere Identität definieren, aber auch, wie viel Autorität wir DNA-Informationen einräumen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen: DNA-Informationen werden immer besser lesbar, doch wie genau sind sie wirklich? Wie viel sagen sie über mich als Person aus? Ich denke, wir müssen uns von der Autorität lösen, die wir diesen Daten zuschreiben, zumindest bei der Vorhersage von Merkmalen.

Überwiegen denn nun für die Gesellschaft die Vor- oder die Nachteile von kommerziellen DNA-Tests?
Meiner Meinung nach ist es immer gut, wenn Menschen Zugang zu Informationen zu haben. Der Zugang zu jenen Informationen, die sich in Ihrem Körper befinden, ist also ein positiver Schritt in der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie, Selbstreflexion und Biomedizin. Was aber wirklich problematisch ist, ist der Kontext, in dem das geschieht: die fortschreitende Digitalisierung, diese Silicon Valley-Mentalität, der Neoliberalismus. Das Problem ist die übermäßige Vereinfachung der Daten, ihre Umwandlung in ein kommerzielles Produkt. Den Zugang zu ihren DNA erhalten Menschen nur über gewinnorientierte Unternehmen, die versuchen, ihnen das zu verkaufen, was Sie hören wollen, anstatt die wahre Komplexität und Bedeutung der Daten mit ihnen zu teilen.

Nach „Stranger Visions“ haben Sie mit die DNA der US-amerikanischen Whistleblowerin Chelsea Manning analysiert. In welcher Beziehung stehen die beiden Projekte?
Als Chelsea Manning im Gefängnis saß, durfte sie nach ihrer Verurteilung niemand mehr fotografieren oder besuchen. Das war zur gleichen Zeit wie ihre Geschlechtsumwandlung, ihr Bild wurde einfach zensiert. Also schickte Chelsea mir Wangenabstriche. Basierend auf dieser DNA machte ich zu Beginn zwei Porträts von ihr. Das war im Grunde, um ihr Bild wieder zu befreien. Die Arbeit war natürlich wahnsinnig spannend, aber auch sehr kompliziert, weil ich genau jene Technologie, die ich kritisierte, für Befreiungszwecke nutzte. Dann haben wir gemeinsam 30 verschiedene Interpretationen von Chelsea durch ihre DNA erstellt, das ist das Werk „Probably Chelsea“, das gerade im MAK in Wien zu sehen ist. Der entscheidende Unterschied zwischen der Arbeit mit Chelsea und der Arbeit mit dieser Gruppe von Fremden, wie in „Stranger Visions“: Die Person saß im Gefängnis, und ich hatte keine Chance, sie persönlich zu treffen. Dennoch traf ich sie buchstäblich durch ihre DNA. Dieser Akt war unglaublich intim. Ich hatte das Gefühl, eine wirklich starke Verbindung zu ihr zu haben, obwohl wir uns nie unterhalten hatten. In meiner Arbeit beleuchte ich seither verschiedene Aspekte von persönlichen Verbindungen, Beziehungen, von Familie. Davon, wie digitale Technologien in unserem Leben jetzt als Mittler in diesen Beziehungen eintritt. Und wie Biotechnologie in Zukunft dazu beitragen wird.

Befürchtest du manchmal, dass die Menschen nichts mehr schockiert – nicht einmal die Tatsache, dass Fremde Künstler mit der eigenen DNA experimentieren?
Die Leute waren ziemlich schockiert. Als ich das Projekt gemacht habe, habe ich jede Menge Hass auf mich gezogen. Und selbst wenn ich meine Arbeit heute präsentiere, schnappt das Publikum erstmal nach Luft. Natürlich gibt es auch eine Reihe von Leuten, die diese Einstellung haben: „Ich habe nichts zu verbergen.“ Doch das hat in den letzten Jahren nachgelassen. Angefangen hat das mit Edward Snowden und all den Informationen, die plötzlich über Massenüberwachung bekannt wurden: was mit unseren digitalen Informationen passiert, und wie die Unternehmen, denen wir sie anvertraut haben, mit ihnen umgehen. Ich habe den Eindruck, dass jetzt immer mehr Leute denken: „Oh, es gibt tatsächlich Dinge, die ich privat halten möchte.“ Das sieht auch man daran, dass immer mehr Menschen offline leben wollen und sich nach Digital Detox sehnen.

Vielen Dank für das Interview, Heather.

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