Genetik-Guru Markus Hengstschläger „Diese junge Generation ist Gold wert“

Hier lehrte schon Österreichs letzter Medizin-Nobelpreisträger.
Quelle: © Michael Appelt für Handelsblatt
Wien Ein Glück, dass die Behörden nicht so genau hingeschaut haben: Es ist heiß in Wien, einer der letzten Sommertage, 36 Grad draußen – doch aus dem Arbeitszimmer von Markus Hengstschläger weht eine kühle Brise. Der Chef des Instituts für Medizinische Genetik der Uni Wien hat das mehr als hundert Jahre alte Gebäude verbotenerweise mit einer mobilen Klimaanlage ausgestattet, um auch bei Hitze klar denken zu können. Nur in einem Raum geht das noch besser als in seinem Büro – im altehrwürdigen großen Hörsaal. Dahin bittet der Professor zum Gespräch.
Herr Professor Hengstschläger, Sie sind Genetiker. Dennoch beschäftigen Sie sich seit Jahren auch mit wirtschaftlichen und soziologischen Themen, etwa mit Europas Talenten. Warum?
Fangen wir mit der persönlichen Motivation an. Es ist mein Beruf, Patienten zu betreuen, zu forschen und junge Menschen zu unterrichten. Daneben bin ich auch noch Unternehmer. Und sowohl im Hörsaal als auch in einer Firma muss man sich überlegen: Was sind das für Leute, die da vor mir sitzen, die sich vorstellen? Wer ist wofür der Beste, wie finde ich die Besten, und wie mache ich die zu richtigen Freaks?
Und was interessiert den Humangenetiker an Talenten?
Ein Großteil dessen, was die Menschen sich unter Talent vorstellen, ordnen sie meinem Fach zu. Das hat mich schon verblüfft. Sie sagen oft: Ein Talent, das hat man, oder man hat es nicht. Das kommt vom Vater, von der Mutter, von Opa, Oma. Dass Lionel Messi so gut Fußball spielt, das ist eben auch ein Thema seiner Gene.
Stimmt das denn?
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Konrad Lorenz, der letzte österreichische Medizin-Nobelpreisträger, hat den Preis unter anderem für solche Beobachtungen bekommen: Er hat in ein Nest mit vier Hühnereiern ein Entenei gelegt. Die Henne – im Glauben, es wären fünf Hühnereier – hat sie alle ausgebrütet. Es schlüpfen also vier Küken und ein Entlein. Sie haben alle geglaubt, sie sind dasselbe. Am nächsten Tag ist das Entlein aus dem Nest gehüpft und Richtung Teich gelaufen zum Schwimmen. Die Hühnermutter war völlig panisch, hat das Entlein überholt und zurück ins Nest geholt. Sie dachte wohl: „Du bist ein Huhn, und Hühner können nicht schwimmen.“
Und was hat Lorenz dann gemacht?
Er hat Folgendes beobachtet: Am Tag darauf hüpft das Entlein ins Wasser, ohne dass die Henne es aufhalten kann. Und siehe da: Es kann schwimmen. Ein Entlein kommt genetisch mit dem Repertoire auf die Welt, schwimmen zu können – auch wenn es ihm niemand je gezeigt hat.
Also ist Talent angeboren?
Alle Menschen sind genetisch zu mehr als 99 Prozent gleich, vielleicht nur 0,1 Prozent sind individuelle genetische Leistungsvoraussetzungen. Da unterscheiden wir uns. Bei der Größe zum Beispiel, beim Geschlecht, bei der Augenfarbe spielen Gene eine große Rolle.
Und bei Intelligenz, Aggressionsverhalten oder Teamfähigkeit?
Da ist das eher nicht so – da rücken die Gene schon ordentlich in den Hintergrund. Die 0,1 Prozent genetischen Leistungsvoraussetzungen sind also nichts wert, wenn wir sie nicht entdecken und durch üben, üben, üben eine besondere Leistung daraus entwickeln.
Vorausgesetzt, man übt genau das, wo man genetisch schon ein Talent hat.
Das wäre natürlich das Coolste. Stärken stärken – und auf keinen Fall ein Leben lang das üben, wo man Schwächen hat. Natürlich kann ich als Firmenchef sagen: Ich habe Leitlinien entwickelt und Vorgaben und Ziele, die alle Mitarbeiter erreichen müssen. Aber es wird mich einen Haufen Zeit und Arbeit kosten, alle in der Firma auf dasselbe Level zu bringen – das ist dann Mittelmaß.
Was macht stattdessen der Genetiker?
Ich habe den Anspruch, die vorhandenen Talente und das Üben möglichst zu korrelieren. Unser Bildungssystem aber versucht ständig, bei den jungen Menschen ihre Schwächen auszumerzen.
Also sage ich meinem Kind: Vergiss Mathematik, Geografie und Englisch, wenn du das nicht kannst, und konzentriere dich auf Kunst?
Es braucht natürlich einen gewissen Grundstock an Allgemeinwissen bei jedem. Aber eines ist klar: Erfolg und Innovationen hat Europa dann wieder wirklich, wenn man der nächsten Generation erlaubt, in den Bereichen, wo sie nicht so gut ist, auf all das zu verzichten, was nicht unbedingt notwendig ist. Sonst raubt man ihnen die Zeit, sich auf das zu konzentrieren, wo sie wirklich was können.
Dazu gibt es doch Universitäten.
Und was ist die Voraussetzung für das Studium? In Deutschland zum Beispiel oft die Abiturnote. Deshalb sollten wir viel früher mit der Talententwicklung anfangen, schon vor und dann in der Schule. Nachdem jeder eine gewisse Allgemeinbildung hat, konzentriert er sich auf das, was er wirklich kann und will.
Wie müsste man das Schulsystem dafür konkret umbauen?
In dem Wissen, was die Bildungsstandards sind, sollten wir uns auf die Suche machen nach dem Besonderen. Mit Hilfe von Scouting. Wir treiben das ganze Bildungssystem weiter in den Bereichen, wo die Bildungsstandards erreicht werden müssen. Aber dann muss das Kind in Mathe halt nur so viel wissen, wie man gerade braucht, und nicht „gleich“ gut sein wie die anderen – wenn ein anderes Fach seines ist.
Man müsste also neben dem Lehrer jemanden haben, der nur damit beschäftigt ist, nach Talenten zu schauen und sie zu fördern?
Genau so würde ich es gestalten. Oder sie verlassen sich aufs Vereinswesen in der Freizeit und hoffen, dass die Talente in allen Bereichen fördern. Das halte ich aber für ziemlich unwahrscheinlich und außerdem nicht für sozial gerecht.
Gibt es denn nicht auch ein Recht darauf, sein Talent nicht zu nutzen?
Das gibt es schon, ja. Aber nur in dem Gegendeal, etwas anderes zu machen. Es geht nicht, gar nichts zu machen. Auch in den sogenannten bildungsfernen Schichten stecken Riesentalente.
Mal angenommen, das klappt: Dann haben wir ja eine komplett arbeitsteilige Gesellschaft von lauter Experten.
Es ist zum Beispiel auch ein wichtiges Talent, Generalist zu sein und die verschiedenen Fachrichtungen zusammenzubringen. Das ist auch eine eigene Spitzenleistung für mich.
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