Gotthard-Röhren in der Schweiz: Jahrhundertbauwerk mit Anlaufschwierigkeiten
Benachrichtigung aktivierenDürfen wir Sie in Ihrem Browser über die wichtigsten Nachrichten des Handelsblatts informieren? Sie erhalten 2-5 Meldungen pro Tag.
Fast geschafftErlauben Sie handelsblatt.com Ihnen Benachrichtigungen zu schicken. Dies können Sie in der Meldung Ihres Browsers bestätigen.
Benachrichtigungen erfolgreich aktiviertWir halten Sie ab sofort über die wichtigsten Nachrichten des Handelsblatts auf dem Laufenden. Sie erhalten 2-5 Meldungen pro Tag.
Jetzt Aktivieren
Nein, danke
Anzeige
Gotthard-Röhren in der SchweizJahrhundertbauwerk mit Anlaufschwierigkeiten
Es ist ein Jahrhundertbauwerk: Am 1. Juni wird der Gotthard-Tunnel eröffnet, der längste und tiefste der Welt. Der Tunnel soll vor allem Güterverkehr aufnehmen – doch ein deutsches Bahnprojekt verzögert die Auslastung.
Zürich/Berlin Es ist mindestens ein nationales, wenn nicht gar ein globales Jahrhundert-Ereignis – und entsprechend wird es zelebriert: 600 Laiendarsteller wollen und sollen den Mythos Gotthard in einer Tanzaufführung näher bringen. Mehr als 1000 Gäste werden erwartet, unter ihnen Europas Elite wie Angela Merkel und François Hollande. Neun Millionen Franken kostet die Feier. Es geht aber auch um ein Rekord-Bauwerk: Die Eröffnung des neuen Gotthard-Tunnels. Mit 57 Kilometern ist er der längste Bahntunnel der Welt.
„Wir klotzen nicht, aber eine würdige Feier hat ihren Preis“, verteidigte Verkehrsministerin Doris Leuthard im „Blick“ die Sause. Umgerechnet elf Milliarden Franken hat die Schweiz für den Tunnel ausgegeben. Er ist nicht nur der längste, sondern auch der tiefste – bis zu 2300 Meter Gestein türmen sich über ihm auf. Der Tunnel verkürzt die Fahrzeit von Zürich nach Mailand um eine halbe auf 3,5 Stunden. Ist der Ceneri-Basis-Tunnel, weiter im Süden, 2020 fertig, dauert die Fahrt weniger als drei Stunden.
Der Tunnel soll aber vor allem Güterverkehr aufnehmen. Doch bis von Rotterdam ans Mittelmeer Container-Züge ohne Umladen durch den Gotthard fahren können, werden noch Jahre vergehen. Viele Teilstrecken sind nicht fertig, etwa in Italien. Auch der Zubringer in Deutschland zwischen Karlsruhe und Basel soll zwei weitere Gleise bekommen, ist aber noch in Bau.
Seit Jahren gibt es vor allem im Rheintal heftigen Widerstand. Denn mit dem steigenden Güterverkehr, Prognosen gehen im Jahr 2025 von 335 statt heute 225 Güterzügen täglich aus, nimmt auch der Lärm zu. Jahrelang tagte daher ein Projektbeirat, der mit den Bürgerinitiativen vor Ort verhandelte. Vergangenes Jahr dann wurde ein teurer und aufwendiger Kompromiss gefunden: Es werden noch einmal 1,8 Milliarden Euro mehr als vorgeschrieben in den Lärmschutz und eine neue Trassenführung investiert. „Gerade Schienenprojekte sind in Deutschland schwer umzusetzen“, sagt Hugo Gatza, Unterabteilungsleiter im Bundesverkehrsministerium. „Wir sind in Verzug“, räumt er ein und spricht davon, dass der viergleisige Ausbau der Rheintalstrecke womöglich 2035 abgeschlossen sein wird – also gut zehn Jahre später als geplant.
„Es ist wichtig, dass die Schweiz den Tunnel als Erstes fertiggestellt hat, und damit in Vorleistung tritt“, sagt Renzo Simoni, der Vorstandschef der Projektgesellschaft Alptransit, die den Tunnelbau verantwortete. Da die Schweizer das schwierigste Stück bewältigt haben, hätten nun Deutschland & Co. keine Ausrede mehr. Für die Schweiz ist die Gotthard-Passage ein Mythos. Letztlich verdankt das Land den Pässen wie dem Gotthard seine Unabhängigkeit.
Die europäischen Großmächte sprachen der Schweiz auf dem Wiener Kongress 1815 nur deshalb die Neutralität zu, damit weder Preußen, noch Österreich oder Frankreich die strategischen Alpen-Pässe kontrollieren können. Der Bau des ersten Bahntunnels ab 1871 fällt zudem zusammen mit der Industrialisierung der Schweiz. Um den Bau zu finanzieren, gründete der Politiker und Visionär Alfred Escher sogar eigens eine eigene Bank: die Schweizerische Kreditanstalt, die heutige Credit Suisse.
Die feierliche Tunneleröffnung ist daher für Schweizer Traditionsunternehmen wie ABB oder Credit Suisse ein Anlass, an die eigenen Wurzeln zu erinnern. „ABB war schon an der Elektrifizierung des ersten Gotthard-Bahntunnels beteiligt“, erklärt ABB-Manager Marcel Rüfenacht. Jetzt lieferte ABB die 50 Hertz-Stromversorgung und sorgt dafür, dass der überlebenswichtigen Lüftung im Tunnel niemals der Strom ausgeht. Auch ABB-Konkurrent Siemens steuerte Technologie für den Tunnel bei – wie etwa das Controll-Center, mit dem die Verantwortlichen im Blick haben, ob die Betriebssysteme wie die Bahntechnik reibungslos funktionieren.
Martin Herrenknecht wird am 1. Juni persönlich am Gotthard dabei sein und als einer der Ersten durch den neuen Tunnel fahren. Seine Herrenknecht AG lieferte die vier riesigen Bohrmaschinen von je 450 Meter Länge, die sich von Norden und Süden gleichzeitig durch das Gestein zum Bau der beiden Tunnelröhren fraßen. „Heidi“ oder „Sissi“ wurden die Bohrmonster getauft. „Sissi“ schaffte am 15. Oktober 2010 dann den Durchbruch in der Oströhre.
Mit Tempo 250 durch die Röhre
Ihm gilt – anders als beim Straßentunnel – der ungeteilte Stolz der Schweizer: Am 1. Juni wird der erste Abschnitt, der Gotthard-Basistunnel zwischen Erstfeld im Kanton Uri und Bodio im Südkanton Tessin, eröffnet.
Nach 17 Jahren Bauzeit ist er mit 57 Kilometern der längste Tunnel der Welt. Er ist Teil des Eisenbahnprojekts „Neat“ – ebenso wie der schon eröffnete Lötschbergtunnel und der Ceneri-Tunnel, der 2020 fertig sein soll.
Inklusive Teuerung und Zinsen wird Neat 23 Milliarden Franken kosten. Es ist die bislang größte Schweizer Investition in die Infrastruktur.
260 Güterzüge können den Bahntunnel täglich durchqueren. Im alten, 1882 eröffneten Tunnel ist bei 180 Zügen Schluss. Aber auch das Reisen wird bequemer. Wegen der geringen Steigung können Personenzüge mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde durch die Röhre brausen.
Wenn alle drei Tunnel eröffnet sind, verkürzt sich die Fahrzeit von Zürich nach Mailand um eine Stunde auf zwei Stunden und 40 Minuten. Für die ersten Bahnfahrten im Dezember 2016 wurden übrigens 1000 Tickets verlost – beworben hatten sich mehr als 160.000 Interessierte.
Herrenknecht gerät richtig ins Schwärmen: „Bei so einem Jahrhundertbauwerk mit von der Partie gewesen zu sein, ist für einen Unternehmer und Ingenieur ein einmaliges Lebensgeschenk.“ Der Vortrieb der beiden Gotthard-Röhren sei „die Champions League“ seiner Branche. „Für Herrenknecht ist es eine wegweisende Referenz, da aus solchen Projekten kostbare Innovationsimpulse für neue Entwicklungen entstehen.“ Herrenknecht wollte diesen Jahrhundertauftrag unbedingt ergattern. Kaum hatte das Volk 1992 dem neuen Bahntunnel seinen Segen gegeben, fuhr er nach Erstfeld am Fuße des Gebirgsmassivs und mietete eine Halle an – Jahre bevor die Verträge ausgeschrieben wurden.
Bohrspezialist Herrenknecht hat übrigens mehr Glück als der Schweizer Tunnel-Pionier Hans Escher. Wegen Kostenüberschreitungen wurde er aus dem ersten Tunnelprojekt ausgeschlossen – der Vorbild-Unternehmer ist nie durch den Gotthard-Tunnel gefahren.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.