Serie: Die Digitalisierer der Wirtschaft So will Merck die Entwicklung innovativer Therapien vorantreiben

Seit über 350 Jahren ist Merck in Darmstadt ansässig.
Darmstadt James Kugler spricht schnell, das bringt es wohl mit sich, wenn man gleichzeitig viele Projekte betreut. Der US-Amerikaner ist Chief Digital Officer (CDO) beim Darmstädter Pharma- und Life-Science-Konzern Merck. „Mein Job ist es, den Job der anderen einfacher zu machen“, beschreibt Kugler seine Aufgabe.
Mehr als 50 Projekte sind es aktuell, mit denen er und sein Team befasst sind, quer über alle Geschäftsbereiche und Kontinente. Den Posten als Digitalchef bei Merck hat er 2016 übernommen – mit 28 Jahren. Damit war er einer der Jüngsten innerhalb der oberen Führungsmannschaft und wurde entsprechend skeptisch beäugt. „Ich habe deshalb gleich versucht, bei den Mitarbeitern den Nutzen von Digitalisierung herauszustellen“, sagt er.
„Digitalisierung ist ein so schwammiger Begriff. Manche verbinden damit Automatisierung und den Verlust ihrer Jobs. Wir haben definiert, dass Digitalisierung für uns vor allem bedeutet, durch den Einsatz von Technologie die Reibungsverluste für uns und unsere Kunden zu reduzieren und so einen Mehrwert zu schaffen. Unser übergeordnetes Ziel ist es, Wissenschaft zu beschleunigen“, sagt Kugler.
Der große, kräftige Amerikaner mit schwarzem Lockenkopf sprüht vor Energie und hat schnell einen Witz – auch über sich selbst – auf den Lippen. Dass er als Kind eigentlich Supermann werden wollte, etwa. Als er erkannte, dass das wohl nichts werden würde, stand die Wahl zwischen Musiker (Gitarre, Bassgitarre) oder Wissenschaftler an.
Es wurde ein Studium der Biomedizintechnik an der Washington University in St. Louis. Die Gitarren bearbeitet er heute noch gerne in seiner Freizeit. Seine Berufskarriere startete Kugler 2008 beim US-Laborausrüster Sigma Aldrich. Der wurde von Merck 2015 für mehr als 13 Milliarden Euro gekauft – die bisher größte Übernahme in der Firmengeschichte.
Kugler baute bei Sigma unter anderem die E-Commerce-Plattform mit auf: Die sorgt mittlerweile für 1,6 Milliarden Euro Jahresumsatz und gilt als das Amazon der Laborbranche. Mehr als 300.000 Produkte werden dort angeboten: Alles, was man braucht, um ein Medikament zu entwickeln – von Laborchemikalien bis zum Antikörper, von Produkten zur Probenvorbereitung bis zum Filtrationssystem.
Mit seiner Arbeit für den Life-Science-Bereich hatte Kugler die Aufmerksamkeit von Merck-CEO Stefan Oschmann gewonnen, der den Bioinformatiker dann 2016 zum Chief Digital Officer machte. Oschmann, selbst sehr technikaffin, treibt den technologischen Wandel von Merck voran und setzt dabei stark auf die Generation der Millennials, zu denen auch Kugler gehört.
Kugler, kommunikativ und umgänglich, gilt als sehr gut vernetzt in der digitalen Welt, ein Vordenker der Branche. Das bestätigt auch Laura Rudas, als Senior Vice President zuständig für die Strategie der Technologiefirma Palantir, mit der Merck seit 2017 eine Partnerschaft hat. „James denkt wirklich visionär. Er schafft es, und das ist nicht selbstverständlich, dann auch andere dafür zu begeistern“, sagt sie.
Für ihn sei Digitalisierung kein Selbstzweck. „Es geht ihm darum, mit der digitalen Transformation die Forschung und die gesamte Branche voranzutreiben und dabei aber Mercks Traditionen und hohen, vor allem auch ethischen, Standards hundertprozentig treu zu bleiben.“
Merck nutzt im Rahmen der Partnerschaft die Datenanalysefähigkeiten von Palantir, um beispielsweise die Entwicklung von Krebstherapien zu beschleunigen. Im Bereich der globalen Supply Chain wird Technologie von Palantir eingesetzt, um die Flexibilität von Lieferketten zu verbessern.
Der Dax-Konzern Merck mit zuletzt 14,8 Milliarden Euro Jahresumsatz entstand vor mehr als 350 Jahren aus einer Apotheke in Darmstadt.
Der Pharma- und Chemiekonzern von einst macht mittlerweile den größten Teil seines Umsatzes mit der Ausrüstung für Labore und die Biotechproduktion, gefolgt von der Pharmasparte und den Spezialchemikalien. Als CDO von Merck kümmert sich Kugler vor allem um den Bereich Data Science, darum, aus Daten Wissen zu generieren.
„Es geht um die Frage, wie man mit der Analyse von Daten zu besseren Ergebnissen kommt“, sagt der 32-Jährige. In jedem der drei Geschäftsfelder wurden eigene Teams gebildet, da die Pharmasparte, das Chemiegeschäft und der Bereich Life Science unterschiedliche Anforderungen haben.
„Die Palette der Themen reicht von Forschung & Entwicklung über die Optimierung von Prozessen bis hin zu Vertriebsthemen und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle“, sagt Kugler. „Zentral ist bei der Auswahl der Projekte für uns, dass wir immer zeigen können, welchen Wert wir damit generieren können. Ich wollte nicht in die Situation kommen, dass man eine Menge Geld ausgibt und nicht den Nutzen demonstrieren kann“, sagt Kugler.
Beispielsweise simuliert das Team mit speziellen Computerprogrammen die Eigenschaften und Interaktionen von Molekülen, etwa um das Entstehen von Verunreinigungen besser vorhersagen zu können. In einem Vertriebsprojekt namens Compass ging es darum, aus verschiedenen Datenquellen Kunden herauszufinden, die an einem bestimmten Thema arbeiten, bei dem sie Merck-Produkte benötigen könnten.
Die Kunden werden dann gezielt von der Vertriebsmannschaft angesprochen. Auch Auswirkungen veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen können mit Data Science genauer erfasst werden, wie ein Merck-Projekt in China zeigt.
„Als China die Einkindpolitik aufgab, wollten wir sicherstellen, dass unsere Fruchtbarkeitsprodukte auch vor Ort verfügbar waren, wo sie verlangt wurden. Also haben wir ein Projekt aufgesetzt, bei dem wir interne und externe Daten zusammengeführt haben, um die potenzielle Nachfrage besser einschätzen zu können. So konnten wir unsere Produktlieferungen an den erwarteten Bedarf anpassen“, sagt Kugler.
Mehr als 60 Leute arbeiten in seinem Team, aber im Unternehmen sind viele weitere Mitarbeiter involviert. Neben dem großen Aufgabengebiet Data Science gehören auch ein In-Silico-Team, das Computersimulationen macht dazu, ebenso ein Forschungsteam Künstliche Intelligenz.
„Und dann bringen wir auch die Teams zusammen, die im Unternehmen an verschiedenen Stellen an ähnlichen Projekten arbeiten, beispielsweise die Bioinformatiker, die wirklich einen harten Mathematik-Job machen“, sagt Kugler. Der Digitalchef arbeitet auch eng mit Dirk Töpfer zusammen, dem Chief Information Officer von Merck, der für die Organisation und Infrastruktur der IT zuständig ist.
„Sagen wir es mal so: Ich bin ein ,heavy user‘ der Infrastruktur“, sagt der Amerikaner und grinst. Kugler sammelte im Anschluss an das Studium Forschungserfahrung in Harvard und am MIT. „Ich war gerade dort, als das Thema Genomsequenzierung hochkam. Das war hochspannend“, erinnert sich Kugler.
Eigentlich wollte er in der Wissenschaft bleiben. Aber dann machte ihm Sigma-Aldrich ein überzeugendes Jobangebot. „Die entscheidende Frage bei meiner Arbeit ist, wie man aus Daten Wert generieren kann“, sagt Kugler.
Die wichtigste Phase ist „am wenigsten sexy“
Dazu brauche es vier Dinge: Erstens muss man die Daten haben. Zweitens muss man sie strukturieren und nutzbar machen. Drittens wendet man eine fortgeschrittene Datenanalyse an, um Ergebnisse zu generieren, und viertens muss jemand etwas mit diesen Ergebnissen anfangen.
„Das Problem ist, dass alle immer gerne über die dritte Phase und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz reden. Aber die zweite ist die wichtigste und dabei am wenigsten sexy. Denn Daten zu strukturieren und nutzbar zu machen ist wirklich harte Arbeit“, lautet sein Fazit.
Der Karriereweg von Kugler bei Merck spiegelt, wie sich die Rolle eines CDO in den vergangenen Jahren verändert hat. „Ursprünglich war der CDO mehr darauf ausgerichtet, in den Unternehmen ein digitales Bewusstsein zu schaffen und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln“, sagt Angela Westdorf, Managing Partner der Personalberatung Signium. „Heute muss der CDO die Transformation des gesamten Unternehmens vorantreiben können.“
Wie die Transformation von Merck weitergehen könnte, davon hat Kugler eine klare Vorstellung, die er mit den Worten „Disrupt the Disrupters“ umschreibt. Sinngemäß meint er damit, dass auch Traditionsunternehmen ihren Herausforderern das Leben schwer machen können, wenn sie ihre Stärken ausspielen.
„Merck hat die industrielle Größe und das wissenschaftliche Know-how, um Innovationen zu bringen, die andere Firmen nicht bieten. Wenn wir diese Entwicklung jetzt noch mit Technologie beschleunigen, können wir noch mehr erreichen. Ich appelliere immer, offensiver zu denken.“
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