Wahlkampfthemen Für Fortschritt und Innovation: Die deutsche Tech-Szene sieht fünf große Baustellen
![Gründerinnen und Gründern fehlen im Wahlkampf wichtige Themen. Quelle: La Famiglia, Hering Schuppener Consulting, GetYourGuide, Marc-Steffen Unger [M]](/images/judith-muttersbach-dada-l-tao-tao-m-o-christian-miele-m-u-daniel-metzler-r-/27567864/3-format2020.png)
Gründerinnen und Gründern fehlen im Wahlkampf wichtige Themen.
Berlin, Düsseldorf Keine Schule. Kein funktionierender Digitalunterricht. Und für viele mangels Netzausbau keine Chance, vernünftig zu Hause zu arbeiten. Das war 2020 wochenlang Realität in Deutschland. Zahlreiche Familien, Unternehmen und Politiker haben erst im Lockdown begriffen, was Digitalisierung bedeutet – und wie es sich anfühlt, wenn sie fehlt.
Vor der Bundestagswahl bot sich den Parteien damit auch wie nie zuvor die Chance, die Zukunftsfähigkeit des Landes zum Kernthema zu machen. Wirklich genutzt haben sie diese Möglichkeit nicht, meint zumindest die deutsche Start-up-Szene. Was aktuell im Wahlkampf aller Parteien zu kurz komme, kritisiert Wagniskapitalinvestorin Judith Muttersbach-Dada von La Famiglia, sei „eine ergebnisorientierte Digitalstrategie Deutschlands und Europas als zentralen Baustein unserer Zukunft zu positionieren“.
Durch die Coronakrise sei ein gewaltiger digitaler Ruck durch unsere gesamte Gesellschaft gegangen. „Doch aktuell vermag keiner der Spitzenkandidaten die dadurch frei gewordene Energie richtig zu nutzen.“
Freilich, es finden sich Worte wie Glasfaser und Coworking-Spaces in den Unterpunkten der Wahlprogramme. Doch nach großen Digital- und Technologiestrategien sucht man darin fast vergebens. „Wir denken zu klein und zu kleinteilig“, sagt Lars Zimmermann, der mit Public eine sogenannte Venture Firm aufbaut, die Tech-Start-ups und Verwaltungen zusammenbringt.
Er fordert eine Debatte und Ideen für eine „Tech-Republik“ Deutschland und fragt: „Wie modern wollen wir den Staat haben, in welchen Bereichen, und wie setzen wir es um?“ Bislang kommt der CDU-Mann Zimmermann damit auch bei seinem Kandidaten Armin Laschet nicht durch.
„Es geht darum, dass wir in Deutschland Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand erhalten wollen“, sagt Christian Miele, Präsident des Bundesverbands Deutsche Startups. Deshalb gehörten Digitalisierung und Start-ups ganz oben auf die Agenda und in den Wahlkampf.
Das Handelsblatt hat die größten Digitalbaustellen identifiziert. Wo besteht dringender Handlungsbedarf? Was haben die unterschiedlichen Parteien dazu zu bieten? Und welche Maßnahmen wären eigentlich vonnöten?
Baustelle Technologieförderung
Daniel Metzler ist Mitgründer des Münchener Raketen-Start-ups Isar Aerospace und kann sich bei der Durchsicht der Parteiprogramme nur noch wundern. Zahlreiche Investoren aus Europa haben sich bei der Finanzierung seines Unternehmens zusammengeschlossen, weil sie damit die Hoffnung auf einen schnellen und von den US-Amerikanern unabhängigen Zugang zum Weltraum verbinden.
Der gilt als Plattform für zahlreiche neue satellitenbasierte Technologieanwendungen. Aber: „Manche Parteien haben nicht mal ein einziges Wort über Raumfahrt in ihrem Wahlprogramm“, sagt Metzler.
„Das ist schon fahrlässig, wenn man die strategische Wichtigkeit und wirtschaftliche Chance völlig ignoriert.“ Es gehe um kritische Infrastruktur für Internet, Kommunikation, Erdbeobachtung zur Bekämpfung des Klimawandels, sagt Metzler.
Weltraumtechnologie ist nur ein Beispiel. In anderen Feldern wie Künstlicher Intelligenz, Quantencomputing oder Blockchain sieht es kaum besser aus. „In den Wahlprogrammen stehen neue Technologien eher oberflächlich drin“, sagt Politikwissenschaftler Stefan Heumann von der Stiftung Neue Verantwortung, der alle Wahlprogramme daraufhin analysiert hat.
Dabei schränkt er ein: Der Staat müsse sich um die Anwendung aktuell auch noch keine Gedanken machen. Notwendig sei aber zu definieren, „welche von diesen Technologien besonders spannend für den Wirtschafts- und Innovationsstandort Deutschland werden, wo genau sie mitspielen wollen“. Daran fehlt es in den Programmen.
Baustelle digitale Bildung
Buchstäblich jedes Kind in Deutschland weiß inzwischen, warum Digitalisierung wichtig ist. Noch immer fehlt es an jeder fünften weiterführenden Schule an WLAN, Serverleistung oder beidem. Dienst-Laptops für Lehrer waren bis 2020 die absolute Ausnahme. Zudem fehlt vielen Lehrkräften das Know-how, digitale Werkzeuge technisch und pädagogisch sinnvoll einzusetzen.
Es gibt nicht genug Fortbildungen – und zu wenig Druck, diese wahrzunehmen, räumt selbst die Präsidentin der Kultusministerkonferenz ein. Dabei ist genug Geld da: Der Bund stellte insgesamt 6,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Davon hatten die Länder bis Ende 2020 allerdings erst 1,36 Milliarden Euro abgerufen.
Umso erschreckender ist der Blick ins Wahlprogramm der Union: Dort heißt es nur vage, man wolle hier „dringend anpacken“. Ansonsten schiebt sie die Verantwortung den Ländern zu: Um Herausforderungen wie die Digitalisierung der Bildung besser zu meistern, brauche es „neue Kooperationsformen zwischen den Ländern“. Liberalen und Grüne drängen darauf, die Kooperation von Bund und Ländern deutlich auszuweiten, die SPD will ein Grundrecht auf digitale Bildung.
Baustelle Netzausbau
Lahmes Internet ist spätestens seit der Pandemie ein Riesenproblem – nicht nur für Privatleute auf dem Land, sondern auch für die Unternehmen und Gemeinden. Der schleppende Glasfaserausbau vor allem im ländlichen Raum sorgt dafür, dass diese Regionen weiter zurückfallen. Weder Unternehmen noch Bürger wollen sich an Orten mit einer schlechten Internetverbindung ansiedeln.
Die Parteien sind sich deshalb weitgehend einig, dass alle Haushalte in Deutschland über Gigabit-fähige Anschlüsse verfügen sollen. Die Grünen wollen Telekommunikationsunternehmen sanktionieren, wenn sie nicht die versprochenen Download-Geschwindigkeiten liefern. Die Union verspricht bis 2025 ein flächendeckendes 5G-Netz entstehen zu lassen und bis dahin insgesamt 15 Milliarden Euro für Gigabit-Netze.

Die SPD will alle Haushalte bis 2030 an das schnelle Gigabit-Internet anschließen lassen.
Die FDP verfolgt dasselbe zeitliche Ziel, nennt aber keine Investitionssumme. Die SPD ist zeitlich weniger ambitioniert und will alle Haushalte bis 2030 an das schnelle Gigabit-Internet anschließen lassen. Da haben heutige Grundschüler schon ihr Abitur.
Der Präsident des IT-Verbands Bitkom, Achim Berg, führt die bestehenden Probleme auf Mängel bei der staatlichen Förderung zurück. Der Bund stelle zwar für den Breitbandausbau kurzfristig hohe Milliardenbeträge zur Verfügung.
„Aber es hilft nichts, einfach mehr Geld in den Markt zu pumpen, das nicht verbaut werden kann, weil es keine Baukapazitäten gibt.“ Deswegen wäre eine jährliche Begrenzung der Fördersumme zusammen mit einer Verstetigung sinnvoll: „Ein Betrag von einer Milliarde Euro an Bundesmitteln pro Jahr würde es Kommunen, Telekommunikations- und Tiefbauunternehmen ermöglichen, ihre Ressourcen gleichmäßig und planbar einzusetzen.“
Baustelle digitale Verwaltung
Die Faxe, mit deren Hilfe Gesundheitsämter Daten zu Corona-Infizierten übermittelten, sind längst zum Sinnbild veralteter Technik in deutschen Amtsstuben geworden. Der deutsche Staat hinkt anderen Ländern und der Wirtschaft weit hinterher.
Lösungsansätze finden sich zwar in allen Wahlprogrammen. Die Union will beispielsweise, dass digitale Verwaltungsverfahren zum Regelfall werden. „Digital first“ fand sich allerdings schon im Koalitionsvertrag mit der SPD, ebenso die Forderung, dass jedes Gesetz auf seine Digitaltauglichkeit hin überprüft werden solle.
Dass man beim Thema digitale Verwaltung oftmals nur Konjunktive liest, dürfte auch an der Zuständigkeit liegen, die für bestimmte Verwaltungsleistungen bei den Ländern liegt. Immerhin: Union und FDP haben das erkannt und wollen deshalb eine Föderalismusreform herbeiführen.

Die Parteien thematisieren alle Möglichkeiten einer digitalisierten Verwaltung.
Dafür plädiert auch Achim Berg vom Bitkom, um bestimmte Themen „Top-down“, also von Bundesebene herab entscheiden und umsetzen zu können. Ihm schwebt zum Beispiel ein bundesweit einheitliches Speicherformat für Daten und Dokumente vor, damit ein Austausch zwischen den Behörden problemlos möglich ist. „Das ist immens wichtig, um Bürgern und Unternehmern umständliche Behördengänge zu ersparen.“
Baustelle digitale Gesundheit
Auch gesundheitspolitisch hat der Wahlkampf bislang wenig zu bieten, wenn es um die Digitalisierung geht. Dabei hat die Coronakrise offenbart, wie schlecht das Gesundheitswesen digitalisiert ist. Im europäischen Vergleich rangiert Deutschland hier auf den hinteren Rängen.
Zwar haben die Parteien dazu auch etwas in ihren Wahlprogrammen zu bieten. Wie sie die Digitalisierung aber konkret vorantreiben wollen, ist oft nicht erkennbar. Die Union fordert eine „Roadmap Digitale Gesundheit 2030“, erklärt allerdings nicht, was drinstehen soll.
Immerhin verspricht sie 500 Millionen Euro für Robotik in der Pflege. Die SPD schreibt wolkig, dass sie die „Potenziale der Digitalisierung nutzen will“ – weist allerdings auch auf die Schranken wie den Datenschutz hin. Die meisten Vorschläge finden sich bei Grünen und FDP, es geht um Forschung mit Patientendaten, Roboter in Pflegeheimen und Krankenhäusern sowie Apps für Patienten.
Trotz der Defizite: In dieser Legislatur ist das Gesundheitswesen digitaler geworden als in den vergangenen zwei Dekaden zusammen. Die elektronische Patientenakte und das elektronische Rezept werden eingeführt, die Krankenkassen erstatten die App auf Rezept und Krankenhäuser sowie Gesundheitsämter erhalten Milliarden für die Digitalisierung.
Das liegt auch an Minister Jens Spahn (CDU), der mit vielen Gesetzen die digitalisierungsmüde Gesundheitsbranche aufschreckte. Die Sorge ist groß, dass das Tempo nach der Bundestagswahl verloren geht.
Collage: Judith Muttersbach-Dada (links), Tao Tao (Mitte oben), Christian Miele (Mitte unten), Daniel Metzler (rechts)
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