Deutsche Weltraumfirmen Start-ups brechen verkrustete Strukturen in der deutschen Raumfahrt auf

Die in Entwicklung befindliche Trägerrakete ist für den Start von Kleinsatelliten vorgesehen.
Berlin, Düsseldorf Auf 10.000 Euro teure Speziallinsen von Weltraumlieferanten kann das Satelliten-Start-up Berlin Space Technologies (BST) gut verzichten. Die Firma hat herausgefunden, dass sich auch unter den gewöhnlichen Katalog-Linsen immer wieder welche finden lassen, die für ihre sogenannten Sternkameras tauglich sind und im Vakuum des Weltraums funktionieren. Damit lassen sich nach Firmenangaben 9500 Euro je Linse sparen.
Bei deutschen Weltraum-Start-ups wie BST lässt sich ein unternehmerischer Ehrgeiz beobachten, der der Industrie lange abhandengekommen ist. Die etablierten Unternehmen haben eine solche Marktmacht, dass sie sich zu wenig um die Kosten gekümmert haben. Und das ist die große Chance der „New Space“ genannten Marktaufmischer.
Beim Gang durch die Labore, Reinräume und Werkstätten von BST im Süden Berlins sieht man überall, wie sehr die junge Firma auf neue Ideen setzt, um die Kosten zu senken. Werkzeuge werden umgebaut, Testverfahren automatisiert. Im Ergebnis kosten BST-Satelliten rund zehnmal weniger als die von etablierten Konkurrenten – bei ähnlicher Funktionalität. „Das ist der Henry-Ford-Moment für die Satellitenindustrie“, sagt BST-Mitgründer Tom Segert.
Hochtrabende Worte, wenn man bedenkt, dass das Start-up erst fünf Satelliten gebaut hat und nur ein paar Millionen Euro im Jahr umsetzt. Doch das soll sich bald ändern.
In wenigen Wochen eröffnet BST eine Fabrik in Indien. Dahinter steckt ein Joint Venture mit Azista Industries – ein Unternehmen der einflussreichen indischen Industriellenfamilie Reddy. In drei bis fünf Jahren rechnet Segert mit 100 Millionen Euro Jahresumsatz. „Eine konservative Schätzung“, sagt der 41-Jährige.

Der Mitgründer von BST wurde lange Zeit von der traditionellen Raumfahrtbranche belächelt.
Foto: BST
BST und der Satellitenbau am Fließband sind nur ein Beispiel für die zahlreichen vielversprechenden deutschen Raumfahrt-Start-ups, die eine träge gewordene Industrie neu beleben.
Nach den neuesten Zahlen des Forschungsdienstes Capitol Momentum gibt es derzeit 121 New-Space-Firmen in Deutschland. Und Investoren sehen Potenzial: Ein Dutzend dieser Unternehmen konnte im ersten Halbjahr 2021 zusammen rund 100 Millionen Euro Risikokapital einsammeln.
Ein Aufbruch ohne Ansage, denn jahrelang tat sich in der Branche praktisch nichts. Große Staatsaufträge teilen sich wenige etablierte Anbieter wie Airbus, Thales oder OHB. Und sie brauchten sich kaum anzustrengen: Beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und der europäischen Weltraumagentur Esa gibt es ein vorgegebenes Budget, in dem Kosten, Gewinn und andere Eckdaten festgeschrieben sind. Unterbieten lohnt sich nicht.
Doch technologischer Fortschritt und sinkende Startkosten führen jetzt zu ganz neuen Bedingungen, die neue Akteure mobilisieren. „Die Raumfahrt steht da, wo die Luftfahrt in Deutschland vor einigen Jahrzehnten stand“, sagt Thomas Jarzombek, Koordinator der Bundesregierung für die Luft- und Raumfahrt. „Es wird eine wichtige, neue Industrie.“
Doch Jarzombek sagt auch: Für die Disruption der „Behördenraumfahrt“ brauche es noch mehr als gute Ideen und ambitionierte Gründer. Für den CDU-Politiker ist einer der wichtigsten Punkte, dass die Teilnahmebedingungen bei Raumfahrt-Ausschreibungen Start-ups oft ausschließen.
Zudem müssten Ausgründungen von Universitäten erleichtert und Standardverfahren dafür eingeführt werden. Und manche Gründer sollten noch stärker aus ihren Laboren heraustreten und für ihre Sache werben.
Satellitenkompetenz entsteht
Beim Raketenbau hat das vor allem Isar Aerospace vorgemacht. Die Münchner Firma von CEO Daniel Metzler hat einen mit elf Millionen dotierten Wettbewerb der Deutschen Raumfahrtagentur gewonnen, insgesamt 150 Millionen Euro Wagniskapital aufgenommen und großes Interesse auch aus anderen Industrien auf seinen geplanten Microlauncher gezogen.
Der soll ab nächstem Jahr Kleinstsatelliten ins Weltall bringen und damit ganz neue technologische Anwendungen ermöglichen – etwa für das autonome Fahren. Zuletzt stieg bei Isar Aerospace unter anderem Porsche SE ein.
Auch überzeugen die Münchner die Investoren mit geringeren Kosten und neuen Produktionsverfahren: Viele Bauteile kommen aus dem 3D-Drucker und Fräsmaschinen und können schnell und kostengünstig neu designt und optimiert werden.
Vor allem Satelliten sind der Wachstumstreiber des neuen Marktes. Immer mehr Länder platzieren sie im Orbit, um Internetverbindungen, Fernsehen oder Telefonie zu verbessern oder mit Kameras die Welt abzutasten. Unternehmen wie Space X, One Web oder Amazon bauen Konstellationen mit zehntausenden Kommunikationssatelliten auf.
Bis 2030 sollen nach Schätzung der Beratungsfirma Euroconsult 15.200 Satelliten in die Erdumlaufbahn gebracht werden, 90 Prozent davon sollen Kleinsatelliten mit einem Gewicht von weniger als 500 Kilogramm sein. Allein den Produktionswert dieser Satelliten schätzt Euroconsult auf 30 Milliarden Euro. Vor allem die preisbewussten neuen Industriekunden sind für Start-ups eine Chance.

BST stellt Satelliten her, die zehnmal preiswerter sind als die von etablierten Herstellern.
Foto: BST
Tom Segert erinnert sich an ein Treffen der Deutschen Luft- und Raumfahrtbehörde mit kleineren und mittleren Unternehmen im Jahr 2014, als er erstmals von seinen Plänen zum Bau eines preiswerten Satelliten erzählte: „Ich wurde ausgelacht.“ Die Firma mit 42 Mitarbeitern beliefert etwa die neu gegründete Raumfahrtagentur in Ägypten oder STM, ein industriell-militärisches Unternehmen in der Türkei.
Kleinstsatelliten aus Würzburg
Klaus Schilling macht sich inzwischen Sorgen um den „Old Space“ mit Airbus, Thales und OHB. Deren große und teure Satelliten sieht der Vorstand des Zentrums für Telematik (ZfT) in Würzburg rasant an Bedeutung verlieren.
Er vergleicht die Situation mit Großrechnern von IBM in den Achtzigerjahren, die durch Computer, Smartphones und die Cloud abgelöst wurden. „Die Zukunft wird hier bei verteilten, vernetzten Systemen aus vielen Kleinsatelliten liegen“, sagt Schilling. Statt mehrere hundert Kilogramm wiegen diese Kleinsatelliten jeweils nur wenige Kilo – und das spart viel Geld bei den Starts.
Darauf setzt Schilling auch als Gesellschafter von S4, einem 2017 in Würzburg gegründeten Start-up, das mit BST konkurriert. Das will ab Anfang 2022 im Auftrag des Bundesforschungsministeriums einen Minisatelliten in 600 Kilometern Höhe betreiben, um dort Quantentechnologien für abhörsichere Kommunikation zu demonstrieren. Gesamtgewicht: vier Kilo.
Mehr: Raketen, Satelliten, Spezialtechnik: Deutsche Start-ups erobern das Weltall
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