Halbleitermangel Chipkrise am Tiefpunkt: Lieferengpässe lähmen die Autoindustrie weiter

Als Lehre aus der Krise will der Konzern die Lagerhaltung bei Chips ausbauen.
München, Düsseldorf BMW streicht in seinem Werk in Dingolfing nächste Woche eine komplette Schicht, bei Ford in Saarlouis stehen die Bänder im ganzen Juni still. Bei Volkswagen ruht die Arbeit wegen des akuten Chipmangels in den brasilianischen Fabriken, in den deutschen Werken ist die Lage unverändert kritisch: Lieferengpässe bei Halbleitern lähmen weite Teile der Autoindustrie – und die Krise wird nach Ansicht des VW-Einkaufsvorstands auch noch eine ganze Weile dauern.
„Im Moment sind wir am tiefsten Punkt in der Versorgungskrise angekommen. Wir stehen vor den härtesten sechs Wochen“, sagt Murat Aksel im Gespräch mit dem Handelsblatt. Im dritten Quartal sollte der Wolfsburger Autokonzern das Schlimmste in der aktuellen Chipkrise hinter sich haben. „Dann dürfte die Pipeline besser gefüllt sein“, glaubt der Einkaufsvorstand.
Trotzdem fehlten langfristig etwa zehn Prozent der Chips, weil weltweit nicht genug produziert werde. Aksel: „Bis neue Produktionskapazitäten aufgebaut werden können, dauert es bis zu zwei Jahre.“
Die Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG) kalkuliert, dass alle Autohersteller weltweit wegen des Chipmangels zwischen vier und sechs Millionen Fahrzeuge weniger fertigen können als geplant. Im ersten Quartal hätten die Hersteller bereits auf 1,4 Millionen Autos verzichten müssen, im zweiten Quartal würden es 1,6 Millionen. Danach entspanne sich die Lage.
Als Lehre aus der Krise will VW die Lagerhaltung bei Chips ausbauen. „Versorgungssicherheit gehört zu unseren wichtigsten Aufgaben“, so Aksel.
„Die Lieferengpässe werden kurzfristig nicht verschwinden“, urteilen auch die Experten von McKinsey in einer neuen Studie zu Autochips. Dazu sei die Produktion viel zu komplex. Außerdem würden immer häufiger fortschrittliche Halbleiter in den Autos verwendet, etwa für Fahrerassistenzsysteme und für das autonome Fahren.
Chipwerke sind weltweit am Anschlag
Eine zusätzliche Produktionslinie in einem bestehenden Halbleiterwerk einzurichten dauert McKinsey zufolge sechs Monate. Zu einem anderen Lieferanten zu wechseln sei nicht unter einem Jahr zu schaffen – wenn es denn überhaupt möglich ist.
Denn häufig enthielten Chips geistiges Eigentum des Produzenten, das nicht einfach zu einem Konkurrenten mitgenommen werden könne. Die Chips müssten deshalb verändert oder Lizenzvereinbarungen ausgehandelt werden. Das brauche Zeit.
Das größte Problem momentan: Die Chipwerke sind weltweit am Anschlag. 2020 lag die Auslastung bei knapp 90 Prozent. Das sei das Limit, von dem an die Lieferzeiten überproportional steigen, urteilt McKinsey: „Obwohl die Branche ihre Kapazitäten seit dem Jahr 2000 um 180 Prozent erhöht hat, bleibt nicht viel Luft bei der gegenwärtigen Auslastung.“
In vielen Bereichen hätten die Autohersteller bisher Verträge abgeschlossen, die deutlich über ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr hinausreichten. Nicht aber bei den Chips. Da laufen die Aufträge McKinsey zufolge nur über ein paar Wochen oder einige Monate. Das räche sich nun, weil die Autobranche kaum Halbleiter auf Lager halte.
Volkswagen etwa hat im ersten Quartal 100.000 Fahrzeuge weniger produziert als ursprünglich geplant, im zweiten Quartal dürfte mindestens dieselbe Zahl dazukommen. Besonders schwierig ist die Lage beim US-Autokonzern Ford. Die Amerikaner haben angekündigt, dass sie die geplanten Stückzahlen im zweiten Quartal weltweit halbieren müssen. Davon sind auch die beiden deutschen Ford-Werke in Köln und Saarlouis massiv betroffen.
Gemeinsame Investitionen als Problemlösung?
Für die Autobranche wird es in den nächsten Jahren nicht leichter, an die begehrten Halbleiter zu kommen. Das liegt laut McKinsey daran, dass einige Chips für den neuen Mobilfunkstandard 5G mit genau denselben Technologien gefertigt würden wie die Halbleiter fürs Auto. Der Umsatz der Chipbranche mit den Handyproduzenten und Mobilfunkausrüstern ist viermal so groß wie der mit den Fahrzeugherstellern.
Die Experten von McKinsey empfehlen der Autobranche daher, kurzfristig auf höherwertige Chips auszuweichen, zum Beispiel mit mehr Speicherkapazität. Denn die sind lukrativer für die Chiphersteller. Oder Volkswagen & Co. könnten Halbleiter nutzen, wie sie in Konsumgütern eingesetzt werden – sofern die Chips den Anforderungen der Autoindustrie genügen.
Auch wenn es teurer sei: Es lohne sich, auf zwei Lieferanten zurückzugreifen. Ferner könnte die Autoindustrie in Betracht ziehen, das Einkaufsvolumen zu bündeln, um mehr Verhandlungsmacht zu bekommen.
Die Berater legen der Autobranche zudem nahe, für die Versorgung mit besonders kritischen Komponenten bei den Chipherstellern zu investieren. Einige Chipkunden setzen das schon um. „Die Abnehmer gehen in Vorleistung, um sich Kapazitäten zu sichern“, sagte Thomas Caulfield, Chef des Chipauftragsfertigers Globalfoundries, dem Handelsblatt.
Dieses Jahr wird der US-Konzern rund 450 Millionen Dollar in seinen Werken in Dresden investieren. Ein Drittel davon sollen Kunden aufbringen. „Wir verfolgen jetzt ganz neue Ansätze, um mit unseren Kunden zusammenzuarbeiten“, sagte Caulfield. Der Auftragsfertiger könne so mehr investieren, der Auftraggeber bekomme eine Liefergarantie.
Ob sich allerdings der Chipbranchenriese TSMC auf solche Deals einlässt, ist unklar. Beim weltgrößten Auftragsfertiger und Waferhersteller steht die Autobranche für lediglich vier Prozent vom Umsatz. Die großen Handychipproduzenten Apple und Qualcomm beziehen ein Vielfaches an Chips von den Taiwanern – und können daher mit besseren Konditionen und bevorzugter Lieferung rechnen.
Autohalbleiter insgesamt stehen für etwa zehn Prozent des Umsatzes der Chipindustrie. Der iPhone-Produzent Apple allein kauft deutlich mehr Halbleiter ein als die gesamte Autobranche.
Deutschlands bedeutendster Chipkonzern, Infineon, beteiligt seine Abnehmer zwar bislang nicht an den Kosten für Neubauten und Maschinen. Doch auch der Dax-Konzern holt die Auftraggeber inzwischen ins Boot. Mit Industriekunden gebe es zum Beispiel Vereinbarungen zur Teilung der Kosten im Falle einer Unterauslastung, erläuterte jüngst Vorstandschef Reinhard Ploss. Dadurch könnte Infineon Kapazitäten vorhalten und bei steigender Nachfrage sofort liefern.
Die Chipkonzerne selbst sehen kurzfristig keine Entspannung. „Es wollen alle mehr“, ergänzt Reinhard Ploss – von den Autokonzernen über die Computerhersteller bis hin zu den Smartphone-Produzenten. Der Infineon-Chef wörtlich: „Der wesentliche Auslöser waren die Umstellungen durch die Covid-Pandemie, das war so nicht vorherzusehen.“
Ploss macht seinen Kunden wenig Hoffnung: „Die aktuelle Lage wird nach meiner Einschätzung noch einige Quartale andauern und sich womöglich erst 2022 normalisieren.“ Üblicherweise brauche die Chipindustrie ein Jahr, manchmal sogar länger, bis bestellte neue Fabrikausrüstung installiert sei und zu Umsatz führe. Eine neue Fabrik zu bauen dauere zwei Jahre und länger.
Mehr: VW-Einkaufsvorstand zum Chipmangel: „Wir stehen vor den härtesten sechs Wochen“
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