Industrie 4.0 Ein App-Store für die Industrie: Wie Maschinenbauer und Techfirmen an der Vernetzung arbeiten

Der Vernetzungsgrad der Industrie wächst, doch der Datenaustausch ist schwierig.
Düsseldorf Die Vision war vor einigen Tagen wieder zu sehen: Kleine Flurfahrzeuge holen im Lager autonom die richtigen Teile. Roboter erkennen mithilfe Künstlicher Intelligenz, welchen Gegenstand sie gerade bearbeiten. Und miteinander kommunizierende Maschinen halten sich und den Fabrikleiter über jeden Arbeitsschritt auf dem Laufenden. Bei der digitalen Hannover Messe führten die Fabrikausrüster und IT-Konzerne vor, welche Vorteile die Vernetzung bietet.
Mit der Realität hat das bislang jedoch wenig zu tun. Der Vernetzungsgrad der Industrie wächst zwar, doch der Datenaustausch ist schwierig – in den Fabriken kommen zumeist Maschinen unterschiedlicher Hersteller mit unterschiedlichen Formaten und unterschiedlichen Baujahren zum Einsatz, die nicht miteinander interagieren. In der Industrie 4.0 herrschen babylonische Verhältnisse.
Eine Allianz aus Maschinenbau, Fabrikautomatisierung und IT will das ändern. Die Open Industry 4.0 Alliance entwickelt seit 2019 technische Grundlagen für die Vernetzung von Fabriken, Logistik und Dienstleistungen. Die fast 80 Mitglieder, darunter SAP, Kuka und Beckhoff, bekommen jetzt namhaften Zuwachs: Siemens und Microsoft schließen sich der Organisation an, wie sie am Donnerstag mitteilten.
„Um die nächste industrielle Revolution zu erreichen, ist ein leistungsfähiges Ökosystem erforderlich“, erklärte Stefan Gierse, Chef des Bereichs Strategie und Technologie bei Siemens Digital Industries. Die verbesserte Interoperabilität, sprich die Fähigkeit der Systeme, zusammenzuarbeiten, sei die Voraussetzung für neue Anwendungen und Geschäftsmodelle.
„Wir wollen Unternehmen dabei helfen, die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen und interoperable Industrie-4.0-Lösungen im großen Maßstab zu liefern“ , sagte Microsoft-Manager Ulrich Homann.
Eine einheitliche Sprache für die „Smart Factory“
Die Open Industry 4.0 Alliance will die technischen Grundlagen für die Vernetzung der Industrie schaffen. Das Ziel: 80 Prozent aller Maschinen und Sensoren, Automatisierungsprogramme und anderer Software in einer „Smart Factory“ sollen eines Tages miteinander kompatibel sein, also eine Sprache sprechen können.
Für diese Interaktion gibt es bereits einige Standards wie OPC UA (Open Platform Communications Unified Architecture): Das Kürzel beschreibt eine universelle Maschinensprache, die es Entwicklern beispielsweise ermöglicht, klassische Programmiersprachen wie C++ oder Java zu verwenden, um darin Anwendungen für eine Maschine zu programmieren oder Prozessdaten auszulesen.
Die Regelwerke allein reichen jedoch nicht. „Es geht darum, die unterschiedlichen Standards in die Praxis umzusetzen“, beschreibt Vorstandssprecher Nils Herzberg, der im Hauptberuf bei SAP für strategische Partnerschaften im Bereich Industrie 4.0 verantwortlich ist, das Ziel des Konsortiums.
Dafür schließe man die Maschinen und Software unterschiedlicher Hersteller zusammen, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen – daraus leite man Empfehlungen für die Allianz ab. Parallel entsteht ein Verzeichnis, das die Produkte und Services der Mitglieder an einem Ort bündelt.
Die Vision ist, die Bedienung und Steuerung von Maschinen deutlich zu vereinfachen. Das erste konkrete Projekt war auf der Hannover Messe zu sehen: Der Automatisierungsspezialist Hilscher stellte bei der Veranstaltung einen App Store vor, über den die Mitglieder der Allianz Programme für die Steuerung von Maschinen verkaufen können, beispielsweise für die Gerätediagnostik. Bisher verkaufen die Unternehmen solche Anwendungen meist über eigene Stores, um deren Infrastruktur sie sich selbst kümmern müssen. Mit dem neuen App Store für die Industrie entfällt der Aufwand.
Fabrikausrüster verkaufen digitale Zusatzdienste
Für die klassischen Fabrikausrüster werden solche neuen Vertriebskanäle immer wichtiger, da die Funktionalität einer Maschine zunehmend von digitalen Zusatzdiensten wie Predictive Maintenance abhängt. Dabei kommen sich Softwarekonzerne und Automatisierungshersteller immer häufiger gegenseitig ins Gehege. Durch die Standardisierung der Maschinensprache wird dieser Wettbewerb härter.
Die Arbeit ist indes langwierig. „Die Vereinheitlichung der Ansätze ist ein Marathon. Die Pandemie hat zwischenzeitlich die Prioritäten unserer Mitglieder teilweise verschoben – die Notwendigkeit, das Thema anzugehen, ist der Industrie aber weiter sehr bewusst“, sagt SAP-Manager Herzberg.
Mit Siemens gewinnt die Allianz einen starken Partner hinzu. Der Technologiekonzern ist Weltmarktführer bei Fabrikautomatisierung und Industriesoftware. Im Umfeld des Dax-Konzerns heißt es, die Idee der Industrie 4.0 mit der Vernetzung von Anlagen und Prozessen und der Entwicklung von Apps funktioniere nur in Ökosystemen. Dabei sei die Interoperabilität ein entscheidender Punkt. Hier habe die Open Industry 4.0 Alliance einen praxisnahen und lösungsorientierten Ansatz.
Vor einigen Jahren hatte manch einer im Hause Siemens noch gehofft, dass die eigene Plattform Mindsphere das dominierende Betriebssystem der Industrie wird, das alles miteinander vernetzt. Inzwischen sieht man sie eher als einen Baustein von mehreren. „Wir müssen in Netzwerken denken, auf neue Arten miteinander kooperieren“, sagte Siemens-CEO Roland Busch kürzlich dem Handelsblatt.
Einige Unternehmen muss die Allianz indes noch überzeugen. So fehlen bisher große Fabrikausrüster wie ABB und Bosch Rexroth ebenso wie die Cloud-Spezialisten AWS und Google.
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