Junge Unternehmen Schub für Tech-Start-ups – Exklusiver Report zeigt die Trends bei den Gründungen in Deutschland
Düsseldorf Eine Analyse der Start-up-Gründungen 2020 zeigt die Auswirkungen der Coronakrise auf die Gründungslandschaft in Deutschland. Laut des Jahresreports der Analysefirma Startupdetector, der dem Handelsblatt exklusiv vorliegt, ist die Zahl der neu gegründeten Unternehmen besonders in den Branchen E-Commerce, Lebensmittel, Bildung und Gaming gestiegen.
„Die Probleme in Bereichen wie Onlinehandel, Homeschooling und Homeoffice waren im vergangenen Jahr offensichtlich, sodass sich Gründer ganz bewusst mit diesen Themen befasst haben“, sagt Filip Dames, Frühphaseninvestor bei Cherry Ventures.
Startupdetector zufolge wurden 2020 insgesamt 2857 Start-ups ins Handelsregister eingetragen, eine Steigerung von etwa 13 Prozent. Allerdings wären ohne Corona wohl noch mehr Firmen an den Start gegangen: In den ersten drei Monaten – bis zum ersten Lockdown – waren durchschnittlich rund 26 Prozent mehr neue Start-ups registriert worden. Einige Gründungsvorhaben dürfte die Pandemie zunichtegemacht haben.
Diese Daten und Beobachtungen von Investoren ermöglichen auch erste Prognosen für mittel- und langfristige Folgen der Krise auf die Gründerszene.
So sehen Investoren Corona trotz kurzfristiger negativer Effekte durchaus als Chance. In der Finanzkrise 2008/09 zum Beispiel wurden sehr erfolgreiche Digitalunternehmen gegründet, wie WhatsApp, Airbnb und Slack. Und auch die Pandemie hat technologiegetriebenen Geschäftsmodellen in einigen Bereichen erst zum Durchbruch verholfen.
Technologieinnovationen: Neue Infrastrukturen und Ökosysteme
Aus Sicht von Cherry-Ventures-Investor Dames trifft das unter anderem auf neue Lösungen zur Vereinfachung und Verbesserung des Onlinehandels zu, die jetzt auch von etablierten Unternehmen stärker denn je nachgefragt werden, sowie auf digitale Anwendungen im Gesundheitssektor. Viele Ärzte und medizinische Einrichtungen hatten diesen sehr kritisch gegenübergestanden – bis zur Pandemie.
Romy Schnelle, Partnerin beim halbstaatlichen High-Tech Gründerfonds (HTGF), dem aktivsten Investor in Deutschland, wähnt in Sofort-Lieferdiensten für Lebensmittel schon das Airbnb der Coronakrise. „Man sieht jetzt schon, dass in dieser Krise Einhörner und Decacorns geboren werden.“ Das Berliner Start-up Gorillas hat seit seiner Gründung Anfang 2020 in weniger als einem Jahr eine Bewertung von einer Milliarde Dollar erreicht – und damit den Einhornstatus. Mit „Decacorn“ sind Start-ups mit mindestens Zehn-Milliarden-Dollar-Bewertung gemeint.
„In Krisen verändern sich Bedingungen und Infrastruktur, darin liegen riesige Chancen“, so Schnelle. „Dann erkennt der Finanzmarkt in schnell wachsenden Unternehmen Geschäftsmodelle, die Märkte disruptieren können.“
Gründungstrend: Viele neue Start-ups im E-Commerce
Investor Dames schaut sich auf der Suche nach Portfoliofirmen mit seinen Kollegen pro Jahr etwa 2000 Unternehmen aus Europa an, die meist weniger als ein Jahr alt sind. Beim Trend zu neuen Onlinehandelsfirmen kann er weiter differenzieren: „Wir sehen erstens neue Geschäftsmodelle wie die schnellen Lieferdienste oder die Konsolidierer wie SellerX – das war ein massiver Trend im letzten Jahr.“
Gemeint sind Unternehmen, die kleine, erfolgreiche Markenhändler auf Plattformen wie Amazon aufkaufen, zusammenführen und dabei Kosten sparen. Vorbild ist das US-Unternehmen Thrasio. Zahlreiche Konkurrenten sind in Deutschland und anderen Ländern im vergangenen Jahr an den Start gegangen und haben zig Millionen an Wagniskapital und Krediten aufgenommen. HTGF-Partnerin Schnelle sagt: „Die Amazon-Plattform ist ein Beispiel für ein Ökosystem, das nun zunehmend als Infrastruktur für neue Geschäftsmodelle wahrgenommen wird.“
Neben den unmittelbaren Krisenprofiteuren sind für Investoren vor allem Geschäftsmodelle interessant, die aus ihrer Sicht Markteintrittsbarrieren gekippt oder Vorbehalte ausgeräumt haben.
Bezogen auf den E-Commerce heißt das laut Dames: „Fast noch interessanter ist der zweite Trend, bei dem es um Infrastruktur für den Onlinehandel geht: Welche Technologie macht den E-Commerce noch einfacher, was ist das nächste Shopify?“ Die besagte Firma bietet Händlern eine Software, um selbst Onlineshops zu erstellen, und ist einer der größten E-Commerce-Erfolge der vergangenen Jahre.
In seinen Fokus dürften dabei 2020 gegründete Start-ups wie Livebuy geraten. Dessen Software verknüpft Produktvorstellungen im Livestream mit Links in den Onlineshop, sodass Kunden mit einem Klick das gezeigte Produkt kaufen können. Vaayu wiederum unterstützt Händler, ihre CO2-Emissionen nachvollziehbar zu machen – intern wie extern. Die Software trage dazu bei, dass „Konsumenten bewusst klimafreundliche Entscheidungen treffen können“, und helfe Händlern, datenbasiert „individuelle Reduktionsmaßnahmen zu generieren“, sagt Mitgründerin Anita Daminov.
Warenverteilung: Neue Vertriebswege erschließen
Auch U-Pax-Gründer Peter Wenzel will Einzelhändler zu E-Commerce-Profiteuren machen – und dabei das Warenverteilproblem lösen. „Der Einzelhandel leidet, der Onlinehandel boomt, und die Städte verkraften den zusätzlichen Lieferverkehr durch den Onlinehandel kaum“, sagt Wenzel über die beschleunigte Entwicklung in der Coronakrise. Wenzel kommt wie sein Mitgründer Umut Ertan aus dem Logistik-Immobilien-Geschäft. „Wir betrachten den Einzelhandel in der Stadt auch als Lagerfläche, von der so schnell wie möglich geliefert werden kann“, sagt er.
Die Idee: Per App sollen Nutzer Produkte bei lokalen Händlern bestellen und sich im Idealfall von einem Nachbarn liefern lassen können, der dort ohnehin vorbeikommt. „Lieferung per Sowieso-Verkehr“, nennt Wenzel das. Dass viele Läden derzeit nicht oder nur begrenzt öffnen dürfen, ist für seinen Kollegen Ertan dabei sogar eine Chance: „Die Händler haben Kapazitäten, die Ware selbst auszuliefern – das hilft uns auch, während sich die Crowd-Lieferung noch nicht etabliert hat.“ In München, wo die App gestartet ist, wollen nach Aussage der Gründer bereits 70 Händler mitmachen.
Ob sich die Plattform durchsetzt, ist offen. Fest steht, dass Einzelhändler derzeit fast jede Möglichkeit nutzen müssen, neue Vertriebswege zu erschließen – das ist die Chance für Start-ups wie U-Pax, schnell eine kritische Größe zu erreichen.
Investorenlieblinge: Medizinsektor bekommt meiste Investments
Die meisten Finanzierungsrunden konnte laut Startupdetector 2020 aber nicht der Onlinehandel einsammeln, sondern Start-ups aus dem Medizinsektor. Investor Dames von Cherry Ventures geht davon aus, dass Corona insbesondere in dieser Branche entscheidend zum Umdenken beigetragen hat: „Ärzte sind in der neuen Situation deutlich aufgeschlossener gegenüber Videochats und Lösungen wie digitalen Terminbuchungen geworden.“
Schnelle vom High-Tech Gründerfonds sagt: „Ärzte und Gesundheitseinrichtungen haben starke Umsatzeinbrüche gesehen, aus der Situation entwickeln sich neue Geschäftspotenziale.“ Sie hätten Lösungen gesucht, ihre teuren Instrumente auszulasten. Gerade rechtzeitig traten auch regulatorische Änderungen in Kraft: Seit Herbst 2020 kann die Nutzung medizinischer Apps von Krankenkassen erstattet werden.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn arbeitet nach ersten guten Erfahrungen mit Telemedizin schon am nächsten Gesetz dazu. „Es ist davon auszugehen, dass sich digitale Lösungen in der Medizin in den nächsten Jahren weiter durchsetzen werden, weil sich die Industrie stark gewandelt hat“, so Dames.
Mit Blick auf andere Trendbranchen ist er langfristig weniger optimistisch. „Produktivitätslösungen für Homeoffice oder für Homeschooling, das sind Unternehmen, die sicherlich nicht mehr so stark wachsen werden, wenn sich die Corona-Situation wieder entspannt“ – viele Konzerne und Firmen hätten die Angebote dieser Start-ups nun ausprobiert, würden auf Dauer aber wieder mit weniger von ihnen auskommen.
Schnelle will sich da noch nicht festlegen. Der Bedarf an digitalen Bildungs- und Weiterbildungsangeboten sei offensichtlich. Allerdings geht auch sie davon aus, dass die Zahlungsbereitschaft von Eltern in diesem Bereich sinken wird, wenn Bildungseinrichtungen wieder öffnen.
Eine kleine Trendwende gab es 2020 auch bei der Präferenz für B2B-Geschäftsmodelle (Business to Business). Zuletzt hatten immer mehr Gründer und auch Investoren auf diese geschäftskundenorientierten Modelle gesetzt. Während der Coronakrise entschieden sich wieder mehr Gründer als zuvor für ein endkundenfokussiertes Geschäftsmodell – nämlich 40 Prozent statt 36. Allerdings floss 2020 nur gut ein Drittel der Investments in solche B2C-Firmen. Denn sie gelten in der Wagniskapitalbranche als kapitalintensiv.
Diversität: Immer mehr Start-ups werden von Frauen geführt
Überraschend deutlich ist 2020 die Zahl der Start-ups mit mindestens einer Frau in der Geschäftsführung gestiegen. Zwar bleibt der Anteil dieser Start-ups mit gut 19 Prozent weiter gering (2019: 18 Prozent). Absolut hat sich die Zahl dieser Start-ups aber von 457 auf 547 gesteigert, also um 20 Prozent.
Treiber dieser Entwicklung sind auch die Corona-Trends: Frauen gründen besonders häufig E-Commerce-, Medizin- und Lebensmittel-Start-ups. Der Anteil von jungen Unternehmen mit Geschäftsführerinnen ist außerdem in den Bereichen Umwelttechnologie und Bildung besonders hoch.
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