Rechenzentren 40 Prozent günstiger: Amazon setzt immer stärker auf eigene Chips

Der Cloud-Anbieter will im digitalen Gesundheitsmarkt durchstarten.
Düsseldorf/München Es ist eine Attacke, wie sie die Chipbranche schon lange nicht mehr erlebt hat: Mit Amazon Web Services (AWS) designt einer ihrer ganz großen Kunden seine Halbleiter selbst – und das mit enormem Erfolg. „Unser Fokus ist sehr klar: Wir wollen bei möglichst vielen Anwendungen mehr Leistung und niedrigere Preise ermöglichen“, sagte Dave Brown, der beim Cloud-Anbieter den wichtigen Bereich für virtuelle Server verantwortet, dem Handelsblatt. „Die Entwicklung von Chips ist superwichtig für AWS.“
Mittlerweile können Kunden bei AWS auf mehrere Spezialchips zugreifen. Am bekanntesten ist die Graviton-Serie, sie ist für allgemeine Rechenaufgaben ausgelegt. Der Cloud-Spezialist verspricht eine Verbesserung des Preis-Leistungs-Verhältnisses von 40 Prozent. Das heißt: Wenn eine Rechenaufgabe bislang 100 Server benötigt hat, sollen nun 60 ausreichen. Die eigenen Chips sind also eine Art Turbo für die Cloud.
Das kommt bei den Kunden gut an. So gab AWS bekannt, dass auch Twitter – neben den eigenen Rechenzentren – Server mit Graviton-Chips nutze. Für die Chipdesigner ist das ein Durchbruch: Denn mehr als 200 Millionen Menschen nutzen tagtäglich Twitter. Es sind gewaltige Datenmengen, die der Nachrichtendienst rund um die Erde schickt.
Für die Chipriesen Intel, Nvidia und AMD ist die Entwicklung indes unerfreulich. Einerseits, weil das Geschäft mit Rechenzentren besonders margenstark ist und ein gewaltiges Wachstum in den nächsten Jahren verspricht. Andererseits ist AWS nicht der einzige Großkunde im Geschäft mit Rechenzentren, der eigene Chips entwickelt. Auch bei Facebook, Google und Microsoft steht das Thema oben auf der Agenda.
Es ist kein Zufall, dass gerade AWS eigene Chips designt. Die IT-Sparte des Internet-Kaufhauses war schon immer technologisch vornan. AWS zählt zu den Unternehmen, die das Cloud-Computing in seiner heutigen Form erfunden haben. Die Idee war vor 15 Jahren revolutionär: Kunden können Speicherplatz oder Computerleistung mieten, ohne ein eigenes Rechenzentren betreiben zu müssen – sie greifen einfach über das Internet auf bestehende Kapazitäten zu.
Die Chipbranche ist Amazon zu langsam
Um die eigenen Computer optimal zu nutzen, ließ AWS von Anfang an zahlreiche virtuelle Maschinen auf einem Server, also einem Netzwerkrechner, laufen. Dabei gab es jedoch immer wieder Engpässe. Also entwickelte das Unternehmen selbst Hardware, um Kunden mehr Bandbreite und Durchsatz zu bieten – erst Netzwerkkomponenten, dann auch andere Geräte.
Man habe die Leistung der Systeme dadurch deutlich gesteigert, beteuert Brown. „Das brachte uns auf den Gedanken, dass wir den Kunden eigene Chiptechnologie zur Verfügung stellen.“ Diese ermögliche es, das Preis-Leistungs-Verhältnis zu verbessern – das ist eine wichtige Kennzahl, wenn es um Computerleistung geht.
Damit habe man auf das zu geringe Tempo der Chipindustrie reagiert, betont AWS. „Der Markt hat sich an relativ kleine Verbesserungen gewöhnt“, sagte Manager Brown. Das Moore’sche Gesetz, das über mehrere Jahrzehnte für eine Verdopplung der Rechenleistung innerhalb von 18 bis 24 Monaten stand, gelte nicht mehr. Produkte wie Graviton sollen die Chipindustrie daher auch antreiben. Hinzu kommt: Spezialchips, die auf eine Aufgabe ausgelegt sind, sind in ihrem Einsatzbereich leistungsfähiger als die üblichen Halbleiter für vielfältige Anforderungen.
Experten sehen AWS auf dem richtigen Weg. „Die sagen sich: Wir müssen uns schneller bewegen als unsere Lieferanten“, meint Peter Fintl, Halbleiterexperte von Capgemini. Mit den eigenen Bauelementen ließen sich zudem bessere Margen erzielen.

Für die etablierten Chiphersteller ist das Servergeschäft hochattraktiv. Nun aber entwickeln die Cloud-Anbieter immer häufiger eigene Halbleiter.
AWS setzt bei den eigenen Chips auf das Know-how des britischen Chipdesigners ARM. Dessen Technologie wurde bislang vor allem im Mobilfunk benutzt, weil sie energieeffizienter ist als die sogenannte X86-Architektur, wie sie Intel und AMD verwenden. „Ein geringer Stromverbrauch ist für AWS sehr wichtig“, so Experte Fintl. Produziert werden die AWS-Chips von Auftragsfertigern. Die bekanntesten sogenannten Foundries sind TSMC, Samsung und Globalfoundries.
Die Chipentwicklung ist allerdings teuer und verschlingt leicht 100 Millionen selbst für einfachere Halbleiter-Typen. Wenn Unternehmen riesige Datenmengen verarbeiten, können sich die hohen Investitionen bezahlt machen – bei den großen Cloud-Anbietern dürfte das der Fall sein.
Das zeigt sich besonders bei Algorithmen für das maschinelle Lernen, also eine verbreitete Form der Künstlichen Intelligenz. Bislang nutzen die Technologieunternehmen zumeist Grafikchips, auf die Nvidia spezialisiert ist, um ihre Modelle mit großen Datenmengen zu trainieren. Mit der Chipreihe „Inferentia“ verspricht AWS beim maschinellen Lernen eine effizientere Datenanalyse. Und „Trainium“ soll das Training von neuronalen Netzen deutlich verbessern – das ist mit der Verarbeitung großer Datenmengen verbunden.
Auch die Konkurrenz ist bei den Chips aktiv. Google hat einen Spezialchip namens „Tensor Processing Unit“ (TPU) entwickelt, um Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz zu beschleunigen, außerdem das „System Video Coding Unit“ (VCU), das beim Videoportal Youtube die Kodierung von Inhalten beschleunigen soll. Microsoft und Facebook tüfteln Medienberichten zufolge ebenfalls an Chips. Die meisten Schlagzeilen mit eigenen Chips macht wohl Apple. Allerdings auf einem ganz anderen Feld: bei Smartphones und Notebooks.
Intel könnte auch in Zukunft an Amazon verdienen
Brown unterstrich, dass es gleichwohl ein gutes Verhältnis zu Chipherstellern wie Intel und AMD gebe, diese seien „fantastische Geschäftspartner“. Nach wie vor gehöre AWS zu den größten Kunden der Halbleiterhersteller, weil nur ein Teil der Server mit eigenen Chips bestückt werde, sagt Capgemini-Berater Fintl. Das liege nicht zuletzt an den seit Monaten andauernden Lieferproblemen der Halbleiterindustrie. „Das Cloud-Geschäft boomt, und die Chips sind knapp, daher kaufen die alles, was sie bekommen können.“
Dazu kommt: Intel teilte diesen Sommer mit, dass AWS einer der ersten Kunden sein werde, der seine Chips in der neuen Sparte Auftragsfertigung weiterverarbeiten lässt. Der Branchenführer hat dieses Frühjahr angekündigt, bald in großem Stil auch für andere zu produzieren. Selbst wenn AWS künftig ausschließlich auf eigene Bauteile setzt, könnte Intel also daran verdienen.
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