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Soziologieprofessor Nassehi über Digitalisierung „Der Buchdruck war auch schon gefährlich“

Für den Münchener Soziologieprofessor Armin Nassehi ist die Digitalisierung so revolutionär wie der Buchdruck. Ein Gespräch über alles kontrollierende Maschinen, Götter und unsere seltsame Angst vor dem Jobverlust.
25.05.2017 - 15:06 Uhr Kommentieren
Sind wir Getriebene der Technik? Quelle: AP
Stete Begleiter: Smartphone und Tablet

Sind wir Getriebene der Technik?

(Foto: AP)

Im Büro von Armin Nassehi trifft Moderne auf Altertum. Zwei Computer stehen auf seinem Schreibtisch, weitere ältere Modelle im Raum verteilt. An der Wand hängt eine Reproduktion von Leonardo da Vincis „Abendmahl“. Dieser Kontrast findet sich auch in Nassehis Arbeit, er verweist im Gespräch über Digitalisierung immer wieder auf Lehren aus der Vergangenheit.

Herr Professor Nassehi, was reizt Sie als Soziologen an der Digitalisierung?
Die Digitalisierung greift sehr stark in unser Zusammenleben, direkt in die Gesellschaft ein. Die Digitalisierung dürfte ähnlich revolutionär sein wie die Erfindung des Buchdrucks vor 500 Jahren.

Inwiefern?
Der Buchdruck hat die Bedeutung von Information radikal verändert. Niemand konnte mehr mit vollständiger Autorität reden. Man konnte in Büchern nachlesen und überprüfen, ob stimmt, was gesagt worden ist. Man kann es damit kritisieren. Der Buchdruck war eine Zäsur, weil er Machtverhältnisse verschoben hat. Und die zweite entscheidende Zäsur ist die Digitalisierung.

Weil sich Informationen noch schneller verbreiten?
Das ist das eine, ja, es geht aber darüber hinaus. Schriftlichkeit ermöglicht Kritik, Digitalisierung aber ermöglicht Kontrolle.

Wie meinen Sie das?
Die Digitalisierung fängt mit dem Computer an. Er macht eigentlich nichts anderes als eine Rekombination von Daten, für die unsere Kapazität als Mensch nicht ausreicht. Ich habe verschiedene Daten und kann sehen: Oh, das ist ein Muster. Und wenn Sie die vernetzten Computer von heute sehen, die Big-Data-Analysen, industrielle Steuerung, dann zeigt sich: Wir können heute Personen, Prozesse und Informationen durch Mustererkennung kontrollieren. Das ist eine wirklich revolutionäre neue Erfindung, das hat es vorher nicht gegeben.

Das klingt beängstigend …
Der Buchdruck war auch schon gefährlich. Er wurde als Bedrohung angesehen, er stellte massenhaft Informationen zur Verfügung, aber auch den Zweifel und die Kritik. Viele dachten: Oh Gott, das kann man ja gar nicht aushalten. Dann kamen die Zeitungen, dann kam das Radio, das Fernsehen. Und bei der Digitalisierung ist es nun genauso.

Der Münchener Professor sieht die Digitalisierung grundsätzlich positiv. Quelle: Marc-Steffen Unger für Handelsblatt
Armin Nassehi

Der Münchener Professor sieht die Digitalisierung grundsätzlich positiv.

(Foto: Marc-Steffen Unger für Handelsblatt)

Computer übernehmen mehr und mehr intelligente Aufgaben. Sie meinen, das fordert uns besonders heraus?
Ja, ich glaube schon. Bisher hatten wir es vereinfacht gesagt mit Trivialmaschinen zu tun, die es schon seit der Antike gibt. Man drückt auf einen Knopf, und der hat eine eindeutige Wirkung. Heute haben wir es mit Maschinen zu tun, die durch Mustererkennung selbst während des Prozesses Entscheidungen treffen. Die Frage ist, entmachtet das eigentlich uns selbst, oder konzentriert es Macht womöglich?

Und was ist die Antwort?
Viele fürchten, dass wir einen Homunkulus erschaffen, einen künstlichen Menschen. Das glaube ich nicht. Nur ist bis jetzt noch völlig unklar, wie das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdkontrolle sein wird.

Ist eine der Ängste, dass man etwas erschafft, was für einen denkt?
Ach, das hatten wir doch immer schon. Nehmen Sie den Übergang von den polytheistischen zu den monotheistischen Religionen. Bei Ersteren gab es viele Götter. Man kann sich das vorstellen wie ein Bundeskabinett. Da gab es einen Kanzler, das war Zeus, und Minister, die für verschiedene Dinge zuständig waren. Das war sehr lebensnah. Dann hat man sich einen Deus absconditus, einen von der Welt entrückten Gott vorgestellt, der auf einmal selbst aktiv war. Das war für die Menschen erst einmal sehr bedrohlich.

Was hat das mit denkenden Maschinen zu tun?
Das Beispiel mag weit hergeholt klingen. Es ist aber eine Metapher dafür, dass eine Komplexität entsteht, die wir selber schwer kontrollieren können. Und davor haben Menschen immer wieder Angst.

Aber wir arbeiten an selbstlernenden Computern, sprechen von künstlicher Intelligenz. Schaffen wir nicht möglicherweise eine Art Frankenstein?
Es ist kein Zufall, dass Sie jetzt auf eine literarische Figur kommen, die die grundlegende Angst vor der Autonomie unserer Geschöpfe ausdrückt. Aber wir alle profitieren doch im Alltag von Software, die selber lernt. Jeder, der eine chronische Krankheit hat, kann heute von Systemen autonomer Datenverarbeitung profitieren. Aber natürlich können auch Kriminelle oder totalitäre Staaten diese Technik nutzen.

Selbstlernende Software, die Muster erkennen kann, die Menschen nicht sehen, macht das alles möglich. Ist das noch aufzuhalten?
Vielleicht ist Mustererkennung inzwischen die für unsere Zeit charakteristischste Art und Weise der Wahrnehmung – ob bei der elektronisch gestützten Partnerwahl, bei der Beobachtung von Märkten oder in der medizinischen Forschung. Die Frage ist nur: Kann man sie regulieren?

Und die Antwort darauf?
Die Antwort ist: Auch auf diese technische Revolution werden sich gesellschaftliche Praktiken einstellen.

Ändert sich das Zusammenleben, weil man mehr mit dem Gerät als miteinander kommuniziert?
Na ja, es verändert unser Leben schon, dass ich zum Beispiel mit dem Handy mit meiner Familie verbunden bin, Zugriff auf meinen Kalender, Datenbanken und so weiter habe. Das ist aber eine sehr oberflächliche Form.

Dann gehen wir doch mal in die Tiefe …
Sehr interessant ist, was wir eigentlich über die Gesellschaft wissen. Im 18. und 19. Jahrhundert hat man angefangen, Sozialstatistiken zu machen. Man wollte herausbekommen, was eigentlich der Durchschnitt dessen ist, was die Menschen machen. Der belgische Sozialphysiker Adolphe Quetelet etwa stieß auf die Regelmäßigkeit unseres Verhaltens. Man konnte zum Beispiel am Heiratsverhalten feststellen, dass sich die Menschen ihre Ehepartner nach einem ziemlich stabilen Muster in ähnlichen Milieus suchen.

Und dann?
Man stieß auf die statistische Figur des Durchschnittsmenschen, mit dem man Sozialplanung machen konnte. Man wusste, wie viel Weizen eine Stadt wie Brüssel oder Paris braucht, wie breit die Kanalisation für eine Stadt dieses Typs sein muss oder wie viele Waffen ein stehendes Heer benötigt. Dafür brauchte man Datenverarbeitung.

Die braucht man heute auch …
Genau, heute zielt man aber nicht auf Durchschnitte, sondern auf individuell zugeschnittene Informationen – interessanterweise durch Mustererkennung in massenhaften Datenmengen. Nehmen Sie die Medizin: Man weiß heute ganz genau, wann ein Zuckerkranker in Probleme gerät aufgrund von bestimmten Verhaltensweisen, die man vorher nicht eindeutig mit der Zuckerkrankheit in Verbindung gebracht hätte. Diese Mustererkennung ist der Grund für ganz neue Wertschöpfungsketten im wissenschaftlichen, im ökonomischen und auch im politischen Bereich. Und es funktioniert.

Und was macht das mit uns?
Das wissen wir noch nicht genau. Aber viele Intuitionen, die wir über die Welt haben, werden über den Haufen geworfen. Und wir werden bestimmte Formen von Autonomie verlieren und andere gewinnen. Einerseits haben wir das Gefühl, kontrolliert zu werden. Andererseits kommen wir an ganz neue Informationen, die wir auch selber filtern und verarbeiten können. Wie im Beispiel mit den Zuckerkranken.

Es gibt noch einen anderen Aspekt: Viele Menschen haben Angst vor dem Jobverlust ...
Stimmt, und auch hier wiederholt sich etwas. Diese Angst hat es immer in industriellen Revolutionen gegeben. Ängste entstehen immer dort, wo es zu starken Veränderungen kommt, bei denen man nicht weiß, wie sie ausgehen. Ich bin erstaunt darüber, dass wir immer wieder erstaunt darüber sind, dass es diese Ängste gibt.

Aber sind wir Menschen durch die neue Technik nicht auch Getriebene?
Sicher, das bleibt nicht aus. Menschen sind immer das Produkt der Gesellschaften, in denen sie sich bewegen. Wenn man sich die Geschichte der Industrialisierung anschaut, dann sind wir Menschen immer die Menschen, die durch die Technik ermöglicht wurden. Stellen Sie sich Immanuel Kant, den wohl klügsten Menschen des 18. Jahrhunderts, in einer europäischen oder amerikanischen Großstadt unserer Zeit vor. Er würde nach drei Tagen in der Psychiatrie sitzen. Sie müssen heute im Vergleich zum 18. Jahrhundert eine unfassbare Vielzahl an Informationen und Reizen verarbeiten. Sie müssen Koordinationsleistungen erbringen, die für jemanden aus dem 19. Jahrhundert unmöglich waren.

Wo ist da die Grenze?
Das ist schon deshalb nicht zu beantworten, weil sich die Grenzen immer wieder verschoben haben. In den früheren Phasen der Industrialisierung wurden zunächst Sachprobleme gelöst durch technische Erfindungen und Raffinesse, dann soziale Fragen durch die Demokratisierung des Konsums und den Wohlfahrtsstaat. Vielleicht stehen heute eher Zeitfragen im Vordergrund. Wie lassen sich Lebens-, Arbeits-, Erholungs- und Kreativitätsphasen intelligenter verbinden? Dafür müsste es doch eigentlich eine App geben.

Herr Nassehi, vielen Dank für das Interview.

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