Start-ups in der Türkei Keine Chance für Amazon: Wie in der Türkei eigene Tech-Größen wachsen

Der jüngst gegründete Hersteller für Elektroautos wird seine ersten 30.000 Modelle an den Staat verkaufen.
Istanbul, Düsseldorf Der türkische Gründer Kagan Sümer hat seinen Berliner Sofortlieferdienst Gorillas in Rekordzeit zu einer Milliarden-Dollar-Bewertung geführt. Geholfen hat ihm die Pandemie, aber auch das inzwischen üppige Startkapital in Deutschland.
Abgeguckt hat sich Sümer das Geschäftsmodell in der Türkei bei Gründer Nazim Salur. Dessen Unternehmen Getir liefert bereits seit 2015 Lebensmittel auf Knopfdruck und hat auch kürzlich die Milliardenbewertung geknackt.
Zwei Gründer mit dem gleichen Geschäftsmodell und völlig unterschiedlichen Voraussetzungen. Darauf deuten schon die öffentlich verfügbaren Zahlen zu dem privaten Geschäft hin. In der Türkei, einem Land mit etwas mehr Einwohnern als Deutschland, wurden 2020 laut der Plattform Magnitt 383 Millionen Dollar Wagniskapital investiert. In Deutschland waren es laut „Start-up-Barometer“ von Ernst & Young umgerechnet 6,35 Milliarden Dollar.
Doch trotz der vergleichsweise geringen Finanzierung entwickelt sich im Schatten der autoritären Politik Ankaras, der Inflation und Pandemie in der Türkei ein aussichtsreiches Start-up-Ökosystem.
Aufmerksamkeit erregte im vergangenen Jahr der Verkauf der Istanbuler Spielefirma Peak Games für 1,8 Milliarden Dollar an die US-Firma Zynga. Dem deutschen Investor Earlybird brachte er eine Rekordrendite ein. Earlybird ist einer der wenigen internationalen Kapitalgeber, die einen Fokus auf das Land gesetzt haben. Der „Digital East Fonds“ für junge Start-ups in der Türkei und Osteuropa gilt in der ersten Auflage als einer der erfolgreichsten seiner Generation.
Gleich mehrere Gründe machen die Türkei für Start-up-Investoren attraktiv: So gibt es etwa viele gut ausgebildete Ingenieure, aber nur wenig Jobs mit stabilen Einkommen – „deshalb ist der Wunsch viel größer, als Gründer etwas aufzubauen“, sagt Ertan Can, der mit seiner Investmentfirma Multiple Capital in viele Start-up-Fonds investiert hat, darunter auch in den besagten Earlybird-Fonds.
Aus Mitarbeitersicht seien Start-ups ebenso verlockend: In einem Land mit 16 Prozent Inflation bieten international finanzierte Firmen vergleichsweise stabile Verhältnisse. Und Istanbuler Start-ups erhöhen die Gehälter aller Mitarbeiter pro Jahr häufig um bis zu 30 Prozent – weit über die statistischen Preissteigerungen hinaus.
Talent ist also leicht zu finden, das machen sich sogar deutsche Technologiefirmen wie die Darmstädter Alcan Systems zunutze, die einen Großteil ihrer Entwickler in Istanbul beschäftigt.
Amazon oder Ebay können sich in der Türkei nicht durchsetzen
Der zweite Grund ist die junge, digitalaffine Bevölkerung, die per Smartphone einkauft und bezahlt. „Die Türkei ist eine große Quelle für erschwingliche Talente und deshalb ideal geeignet, um neue Produkte auszuprobieren“, sagt Ali Karabey, Gründer des türkischen Wagniskapitalgebers 212.
Dabei fällt auf: Internationale Größen wie Amazon, Ebay oder die Online-Schuh- und -Möbelhändler von Rocket Internet setzen sich nicht durch. Das gelte für alle Plattformen, die Mitarbeiter vor Ort brauchen, sagt Earlybird-Partner Cem Sertoglu.
Die Markteroberung scheint schwierig, und mit der schwachen Inlandswährung sinken die Margen für ausländische Unternehmer. Bei einer Umfrage der Außenhandelskammer Istanbul vom November 2020 nannten die Mitgliedsunternehmen die schwankende Lira zumindest als größtes Problem.
Statt bei Amazon bestellt man in der Türkei bei Hepsiburada. Und Kemal Erol, der einst für Rocket Internet einen Ableger des Onlinemöbelhändlers Westwing aufbauen sollte, wurde erst erfolgreich, als er mit Vivense als eigenständiges türkisches Start-up noch mal von vorn begann.

Der türkische Lieferdienst hat kürzlich die Milliardenbewertung geknackt.
Mit Platz 17 im Wirtschaftskraft-Ranking und mehr als 80 Millionen Einwohnern im selben Sprach- und Rechtsraum bietet die Türkei Opportunitäten für eigene digitale Dienstleister. Das Geschäftemachen im Land ist einfacher geworden: Im „Ease of Doing Business“-Report, einer Rangliste der Weltbank für einfache Unternehmensgründungen, ist die Türkei binnen drei Jahren vom 69. auf den 33. Platz geklettert. Und Investoren hoffen zudem auf Expansionspotenzial in Länder, die der Türkei in Kultur und Infrastruktur ähnlich sind.
Osteuropa oder der Nahe Osten: Start-up-Gründer in der Türkei hoffen auf Expansion in verwandte Märkte
Beispiel Obilet: Auf der Plattform können Reisende Tickets für Überlandreisen bei vielen unterschiedlichen Anbietern buchen. Sie ist profitabel und könnte bald in osteuropäische Länder mit ähnlicher Marktstruktur expandieren, sagt Sertoglu über seine Portfoliofirma.
Oder Apsiyon, eine App für Wohnungsverwaltungen: Die Firma verwalte nach fünf Jahren eine Million Wohnungen – in einem Land mit rund 40 Millionen Haushalten. Inzwischen ist das Unternehmen auch in der Ukraine, in Mazedonien und auf Zypern aktiv.
Auch das Erfolgs-Start-up Peak Games entwickelte zunächst kulturspezifisch Spiele für den Mittleren Osten. „Wenn man sich die ganze Region anschaut, sind das eben auch 600 Millionen Menschen“, sagt Investor Ertan Can.
Ein Blick auf die Liste erfolgreich verkaufter Start-ups zeigt, dass türkische Gründer regionaler Plattformen gute Aussichten haben, gewinnbringend zu verkaufen. Zu den größten Übernahmen zählt die Modebestellplattform Trendyol. Alibaba aus China zahlte für 82 Prozent der Anteile 782 Millionen US-Dollar.
Der Essenslieferdienst Yemeksepeti ging für 589 Millionen Dollar an den Dax-Konzern Delivery Hero, die Zweitverkaufsplattform Gittigidiyor für 218 Millionen Dollar an Ebay und der Bezahltechnologieanbieter Iyzico für 165 Millionen Dollar an den Konkurrenten PayU.
Start-ups in der Türkei: Wo sich Investoren die Rosinen noch herauspicken können
Der dritte und immer wichtigere Grund für große Investitionen in der Türkei klingt zunächst widersprüchlich: Investoren gehen zunehmend davon aus, dass global erfolgreiche Start-ups heute überall gegründet werden können.
„Wir glauben, dass es in jedem Land Tech-Talente gibt, aber die Türkei ist ein großes Land, und Investoren können sich dort immer noch die Kirschen herauspicken“, erklärt Ertan Can. Wenn in Berlin ein gutes Gründerteam Geld aufnehmen wolle, gebe es allein in der Hauptstadt 50 Investoren, die theoretisch investieren könnten, dazu weitere internationale. Investoren bekommen also nicht jeden Deal und müssen bei den Konditionen Abstriche machen.
„Vor ein paar Jahren hat noch niemand in der Türkei investiert. Deshalb konnten die wenigen von uns, die vor Ort sind, sich im Monat 100 Firmen ansehen und einfach in die besten investieren“, sagt Can.
Die großen Chancen wähnen Investoren derzeit in digitalen Lösungen für Unternehmen, in sogenannter B2B-Software, die sich überall nutzen lässt. Anwendungen für große Unternehmen verbreiten sich schon länger um die Welt, darunter auch die von Insider aus Istanbul, mit der Kunden wie Singapore Airlines, Media Markt und Virgin ihre Marketingprojekte über verschiedene Kanäle managen. Die Firma hat im vergangenen Jahr mehr als 32 Millionen Dollar unter anderem vom US-Investor Sequoia eingesammelt.
Die Kapitalgeber Ali Karabey und Cem Sertoglu schauen in der Türkei auch nach Softwareanbietern für kleine und mittelständische Firmen – bei 2,5 Millionen kleinen und mittelständischen Firmen im Land kennen viele Gründer die Bedürfnisse.
Präsident Erdogans Plan für die Technologieszene in der Türkei
Dabei ist Gründern und Investoren die politisch und wirtschaftlich relativ fragile Lage in der Türkei durchaus bewusst. Deshalb schwebt ihnen die internationale Aufstellung oft quasi als Absicherung vor. „Ich glaube, dass viele Gründer sich sagen: Wir wollen uns nicht auf den lokalen Markt verlassen, sondern ein Produkt für den globalen Markt bauen und ein internationales Unternehmen werden, mit einem Entwicklungsteam in der Türkei.“
Mit solchen Prognosen sammelte Earlybird kürzlich 200 Millionen Euro für die zweite Auflage des „Digital East Fonds“ ein. Aber aus Sicht der Türkei ist es nicht erstrebenswert, bloß das Land zu bleiben, in das Wagniskapitalgeber zum Rosinenpicken kommen. Nun scheint der Staat sich der Sache direkt anzunehmen.
Aus eigener Kraft konnten türkische Wagniskapitalgeber seit 2012 jährlich im Schnitt knapp 100 Millionen US-Dollar (etwa 84 Millionen Euro) bereitstellen, heißt es bei Invest in Turkey, der Investmentagentur der türkischen Regierung.
Um diese Summe zu steigern, unterstützt die Regierung Start-ups seit dem vergangenen Jahr mit einem Investmentfonds im Gegenwert von derzeit knapp 30 Millionen Euro. Strenge Regularien für ausländische Firmen schützen die Start-ups zusätzlich vor übermächtiger Konkurrenz. Dazu kommt nun ein beachtlicher Förderplan.

Investoren schauen in der Türkei auch nach Softwareanbietern für kleine und mittelständische Firmen.
Das Technologieministerium hat im März 919 Produkte und Technologien auserkoren, die mit Steuervorteilen, Hilfen bei Forschungsausgaben und sogar Abnahmegarantien des Staates gefördert werden sollen. Der jüngst gegründete Hersteller für Elektroautos, Togg, wird seine ersten 30.000 Modelle an den Staat verkaufen.
Nazim Salur will mit Getir jedenfalls ungeachtet des Erfolgs seiner deutsch-türkischen Gorillas-Kopie unter anderem nach Deutschland expandieren. 300 Millionen Dollar haben ihm dafür etwa die großen US-Investoren Tiger Global und Sequoia zur Verfügung gestellt. Dabei wurde das Unternehmen mit 2,6 Milliarden Dollar bewertet – noch hat es einen Vorsprung gegenüber Gorillas. Wer am Ende wen aufkauft, ist hier noch nicht entschieden.
Mehr: Türkische Regierung will 919 Technologieprodukte fördern
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